Lehrer zwischen allen Stühlen

von Frank Schlösser

Rostock, 26. März 2021. Nach diesen zwei Stunden Theater fragt man sich, was Regisseur Daniel Pfluger am Originaltext eigentlich weggelassen hat. Die pubertären Kämpfe in der Schule, die Begegnungen mit den Mädchen aus dem benachbarten Zeltlager und ihr militärisches Übungsspiel nach einem abgestürzten Flieger in Form eines Kartons, die Besuche im Bordell – Nebenstränge im Roman, wichtig für die Aussage, aber eben nicht wesentlich für die Handlung. Aber es scheint, als wäre alles dabeigewesen. Alles wurde klug eingedampft und angepasst an die Bühne im großen Saal des Volkstheaters mit einem Ensemble aus acht Schauspielern.

Bleiche Köpfe, leere Augen

Dabei gab es auch immer wieder Momente der Ruhe auf der Bühne, Zeit für groteske Schaubilder, in denen die Kinder der arbeitslos gewordenen Sägewerksarbeiter mit ihren riesigen bleichen Köpfen und leeren Augen ins Publikum starren.
Die Hauptrolle bleibt jedoch beim Lehrer, das Ensemble spielt ihm zu.

JugendOhneGott 4 DoritGaetjen uViel Kamera-Einsatz: "Jugend ohne Gott" in Rostock © Dorit Gätjen  

Das passt zur Textvorlage. Ödön von Horvath schrieb den Roman "Jugend ohne Gott" im Jahre 1937 im Präsens und in der ersten Person: Er lässt den Lehrer erzählen, dessen Schüler bezeichnet er nur mit Buchstaben. Der österreichisch-ungarische Schriftsteller und Bühnenautor schrieb den Roman im Exil, der Text bezog sich natürlich auf die Zustände im nationalsozialistischen Bildungssystem, das sich inzwischen als paramilitärisches Ausbildungslager für Mädels und Buben entpuppt hatte – mit allem Spaß, den man als Jugendlicher in so einem "Naturcamp" haben kann: Exerzieren, marschieren, schießen.

Viele Blicke ins Innere

Allzu offenbar zeigt die innere Not des Lehrers, wie sich in einem demokratischen Deutschland wieder die Kriegsmythologie breitmachen konnte, wie die junge Generation mit heroischem Gedöns und der Erziehung zur Dummheit in die Kriegsfalle getrieben wurde. Und wie die erfahrene, intellektuelle, humanistische Generation in ihrer menschlichen Feigheit und Angst kaltgestellt wurde.

So sitzt der Lehrer nicht nur zwischen zwei Stühlen, er hasst inzwischen seine Schüler und sieht gleichzeitig ihre Not. Er ist gefangen zwischen der Möglichkeit, ein finanziell auskömmliches Leben zu führen und dem Zwang, sich dafür selbst aufgeben zu müssen. Zwischen der Sehnsucht nach einem gerechten Gott und der Erfahrung, dass Gott – wenn es ihn denn gibt – ein schrecklicher, zynischer Gott ist. Zwischen der erotischen Sehnsucht seiner Jugendzeit und der Ernüchterung des "Angebotes" in seiner realen Lebenswelt.

JugendOhneGott 4 DoritGaetjen uDie Geschichte eines Lehrer, multimediale Einblicke in "Jugend ohne Gott" von Daniel Pfluger inszeniert © Dorit Gätjen

Der Lehrer erzählt auch in Rostock auf der Bühne gleichzeitig seine Geschichte und von sich selbst. Luis Quintana füllte diesen Mittelpunkt aus, er offenbarte sich nicht nur als Schauspieler, der die Facetten seiner Figur – von still bis explosiv – rüberbringt. Er ist auch ein guter Sprecher. Mit einer guten, sehr wandelbaren Stimme – klar. Aber auch mit der Lust, sich diesen großen Text schwer zu erarbeiten, der ständig zwischen Monolog, Dialog und Erzählerrolle wechselt.

Und dabei nicht nur diese Wechsel so zu gestalten, dass sie jederzeit für das Publikum nachvollziehbar sind. Sondern auch noch das Innenleben seiner Figur präzise zu artikulieren. Das war gute Arbeit. Auch vom Ensemble: Selbst wenn die Vorlage sie von vornherein zu Nebenrollen machte, bewahrten sich ihre Figuren die inneren Nöte und Verzweiflung, sie haben sich auf unterschiedliche Art den Zwängen der "Zeit" gefügt.

Brücke ins Bidungssystem heute

Zwei "Nebenrollen“ sind der starken Hauptfigur dennoch ebenbürtig: Die Bühne und die Livekamera. Letztere ist Teil des Spiels, wird live auf Bühne, Nebenbühne oder Hinterbühne von Schauspielern geführt und bietet auf diese Weise gleichzeitig eine Nah- und eine Totalversion dessen, was grade auf der Bühne passiert.

Die Inszenierung wechselt ständig zwischen analogen und virtuellen Räumen, zwischen realem Bühnenbild und verschiedenen Leinwänden. Originaler Theaterton und Lautsprechersound, analoge und projizierte Schauspieler in einem Bühnenbild, das sich ebenfalls dauernd im Wandel befand – das war so ausgeklügelt, dass selbst medienerfahrene Zuschauer das nur noch als Bühnenzauber erleben konnten.Diese in technischer Hinsicht äußerst knifflige Inszenierung so zu beherrschen, dass auch Platz für Spontaneitäten blieb, dass die Schauspieler wirklich spielen, rennen, tanzen konnten – das war die Herausforderung dieser Premiere.

Regisseur Daniel Pfluger, Bühnenbildner Florin Borg Madsen und Videokünstlerin Sarah Scherer hatten zusammen mit dem Musiker John Carlson die schwierige Guckkastenbühne des großen Saales herausgefordert – und einen grandiosen Sieg errungen. Genau dieses multimediale Gesamterlebnis baute dem achtzig Jahre alten Stoff auch die Brücke ins Heute, ins heutige Bildungssystem, in die heutigen politischen Polarisierungen, in den Verbalkrieg der sozialen Medien. Die Wucht der Bilder, die Kraft des Originaltextes, das grandiose Schauspiel – alles fügte sich einem wundervollen Abend. Und haute auch mich vom Hocker.

Hochsicherheits-Theater

Gespielt wird nun wieder, zumindest an diesem Wochenende. Das Volkstheater muss für jede zukünftige Vorstellung eine neue Genehmigung des Gesundheitsamts beantragen. Je nach Entwicklung der Inzidenzen und möglicher Corona-Ansteckungen im Theater wird jeweils neu entschieden. Wochenlang hatte die Corona-Inzidenz in Rostock bei einem Wert um die 20 gelegen, an den Tagen vor der Premiere war er auf 47,3 gestiegen. Aber die Stadt hatte sich zur Corona-Modellregion erklärt: Hier soll getestet werden, wie man trotz Pandemie Einzelhandel, Sportstätten und Theater öffnen kann.

 

Jugend ohne Gott
nach dem Roman von Ödön von Horváth
Inszenierung und Bühnenfassung: Daniel Pfluger, Bühne: Florin Borg Madsen, Dramaturgie: Henrik Kuhlmann, Kostüme: Claudia Charlotte Burchard, Video: Sarah Scherer, Musik: Jan Carlsen.
Mit: Luis Quintana, Katrin Heller, Ulrich K. Müller, Ulf Perthel, Klara Eham, Lev Semenov, Bastian Inglin, Oktay Önder.
Premiere am 26. März 2021 am Volkstheater Rostock
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.volkstheater-rostock.de/

 

 

Kritikenrundschau

Im NDR Kultur verbucht Matthias Schümann den Pilot-Theaterabend als "gelungenen Test" - sowohl, was die Hygiene-Schutzmaßnahmen betrifft, als auch das kulturelle Erlebnis. "Die moderne Technik holt das historisch wirkende Stück in die Gegenwart" befindet er. Die Inszenierung habe das Publikum nachdenklich gestimmt. "Künstlerisch gelungen" sei der Abend  gewesen und auch wenn Stimmen aus dem Publikum lieber Wein im Glas gehabt hätten, statt das Stäbchens in der Nase, lief der Testlauf wohl glatt über die Bühne.

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