Anthropos, Tyrann (Ödipus)

5. April 2021. Als technisch beeindruckend umgesetzter Theater-Stream, der gleichzeitig die antike Tragödie überzeugend mit dem Thema Klimakrise verbindet, wurde "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" von Alexander Eisenach nach seiner livegespielten und -gestreamten Premiere im Februar 2021 gelobt. Als Aufzeichnung läuft die Inszenierung nun noch einmal vom Ostermontag, den 5. April 19 Uhr bis zum 6. April 19 Uhr im Nachtkritikstream. Sie können sich die mit einer 360°-Kamera gefilmte Vorstellung auf dem Smartphone, Tablet oder PC mit oder ohne VR-Brille anschauen, die Perspektive dabei selbst wählen und steuern. Die Navigation erfolgt über die Pfeiltasten oder die Maus des PC bzw. über das Bewegen Ihres Tablets oder Smartphones. Falls Sie sich die Streamings auf Ihrem Smartphone oder Tablet ansehen möchten, empfehlen wir, sich vorab die Vimeo-App kostenlos herunterzuladen.

 

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"Wenn die These war, dass das Theater kann, was die Wissenschaft nicht vermag, und die Wissenschaft beisteuern kann, was dem Theater fehlt, dann ist diese Inszenierung der Beweis", schrieb Andrea Heinz in ihrer Nachtkritik zur (Livestream-)Premiere am 19.2.2021.

Auf der Webseite der Volksbühne heißt es über "Anthropos, Tyrann (Ödipus)":

Gemeinsam mit dem Forschungsprojekt "Theater des Anthropozän" (Humboldt-Universität zu Berlin) feiert die Volksbühne Berlin die Wiederauferstehung der Tragödie. Während das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz geschlossen bleiben muss, verlegen wir das Geschehen ins Netz und laden Sie ein, von zu Hause in 360° an einem digitalen Theaterexperiment an der Schnittstelle von Kunst und Wissenschaft teilzunehmen. Das Ensemble steigt gemeinsam mit der Polar- und Meeresforscherin Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts und zusammen mit Frank Raddatz künstlerische Leiterin des "Theater des Anthropozän", in die Tiefen von Mythos und Erdgeschichte und forscht an den tektonischen Verwerfungen des Verhältnisses von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Dabei erfährt die Geschichte um den Fluch beladenen Ödipus eine Revitalisierung im Zeichen gegenwärtiger Krisen und etabliert den Maßstab der Tragödie für das Wirken einer Menschheit, die sich als geschichtliche Kraft absolut setzte.

Die Tragödie des Anthropos ist die Tragödie des Menschen, der sich als unangefochtener Herrscher über den Planeten wähnte und seine Tyrannei ständig ausdehnte, bis er jeden Bereich des terrestrischen Lebens als Ressource ausbeuten konnte. Jetzt, da wir einer globalen Katastrophe entgegenblicken, weisen die Finger der Seher auf uns. Wir selbst sind die Schuldigen von Pandemien und Klimapest. Wir haben die Zeichen ignoriert. Wir dachten, wir könnten dem Schicksal, unserer Abhängigkeit von den terrestrischen Rahmenbedingungen, entkommen. Jetzt, wo die Geschichte wieder in Gang kommt, wo sie vor unseren Augen weltweit zu wirken beginnt, müssen wir beschämt einräumen, dass wir unsere Herkunft verkannten und Kinder der Erde sind. Die Herrschaftsverhältnisse kehren sich um. Was wir für die Bühne unseres Handelns hielten, zeigt sich als das wahre Subjekt unserer Geschichte: Der Planet selbst.

Hier stellt die Volksbühne ein digitales Programmheft bereit. Außerdem gibt's hier auf der Volksbühnen-Webseite die Mini-Serie "Antike vor Ort" von Alexander Eisenach, die um die Produktion von "Anthropos, Tyrann (Ödipus)" herum entstanden ist.

Anthropos, Tyrann (Ödipus)

von Alexander Eisenach nach Sophokles
 (Übersetzung: Kurt Steinmann)
Regie: Alexander Eisenach, Konzeptionelle Mitarbeit: Frank M. Raddatz (Theater des Anthropozän), Bühne: Daniel Wollenzin, Kostüme: Lena Schmid, Pia Dederichs, Musikalische Leitung: Niklas Kraft, Sven Michelson, Licht: Johannes Zotz, Video: Oliver Rossol, Dramaturgie: Ulf Frötzschner.

Mit: Johanna Bantzer, Manolo Bertling, Sarah Franke, Sebastian Grünewald, Vanessa Loibl, Emma Rönnebeck, Sarah Maria Sander, Antje Boetius.

Livestream-Premiere am 19. Februar 2021

Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.volksbuehne.berlin

 

Kommentare  
Stream Anthropos: Sphinx
RÄTSELLÖSER

Der Bezwinger der Sphinx:
O Kinder arm, Bekanntes, Unbekanntes nicht,
kommt ihr hier begehrend. Denn ich weiß es wohl, ja
alle, alle seid ihr krank, krank mit Herz, und krank mit Hirn
hat Hand und Fuß und so -
dass euer keiner, nein keiner krank ist wie ich.
Und so, so sind alle krank. -
Denn euer Leiden kommt auf einen, auf mich
der allein ist bei ihm selber, ja bei mir selbst
auf keinen andern nicht.
Und meine kranke Seele beklagt die Stadt in der wir wohnen
zugleich und mich und dich,
und nicht vom Schlaf weckt ihr schlafend mich;
Ihr wisset aber, dass ich viel geweint, ja, geweint -
viel Sorgenwege auf Irren und Irrtum bin gekommen.
Ich:
Einen eindringlich fernen Ruf, an der Urfähre, habe ich
vernommen, ich soll hinüber, hinüber ans andere Ufer.
ALLE:
O Herrscher unseres Landes, Bezwinger der Sphinx,
R ä t s e l l ö s e r, hilf uns! wir liegen nieder -
liegen unten - die Welt schwankt und wankt -
schwingt im Sturmgewoge im Bogen dieser Pandemie
und kann nicht, den beschwerten Kopf nicht mehr heben
aus dem großen Meer der Katastrophen.
Ich:
Dies Wort Katastrophe bedeutet ja eigentlich
den Wendepunkt der Handlung in der Tragödie,
den Punkt, an dem sich das Schicksal des Helden
entscheidet zum Glück, oder zum Unglück entscheidet.
Das entscheidende Ereignis im Leben eines Menschen
oder eines Volkes. - So wie jetzt -
d e r g a n z e n W e l t !
ALLE:
Das Wasser steigt an den vielen Küsten der Welt.
Im Inneren der Länder herrscht Dürre.
Es gibt keine Jahreszeiten mehr, nur noch Natur-
Katastrophen. Gaia-Erde, die aus dem Chaos entstanden,
hat sich gegen uns verschworen. Wir haben keinen Grund,
keine Erde. In Eingeweiden Feuer sich entzündet
und leert die Häuser. Krank ist das ganze Volk.
Und nicht zuhandendes Denken schwert, sich damit zu wehren!
Die Städte sterben hin, so viele zahlreiche Tote!
Und unbetrauert liegen ihre Söhne, Männer und Frauen
am Boden. Tod verbreitend, un-beweint!
Ich: Nein, nein, viele, viele werden beweint!
ALLE:
Wir halten dich zwar nicht für einen GOTT -
aber immerhin für unseren Souverän, der mit
uneingeschränkter Macht in der Welt herrscht.
Du kannst uns helfen.
Der Bezwinger der Sphinx: Wie könnte ich euch helfen?
ALLE: Du kannst diese Welt wieder aufrichten.
Der Bezwinger der Sphinx: Das kann ich nicht.
ALLE: Du - du hast das Rätsel der Sphinx gelöst.
Löse auch dieses.
Der Bezwinger der Sphinx:
Wie könnte ich diese verseuchte, diese zerbrochene Welt
wieder aufrichten? - Wie sollte ich euch helfen können?
IHR - ihr müsst das Rätsel dieser kranken Welt selbst lösen!
Ihr müsst alle gemeinsam zu Welt-Rätsel-Lösern werden!
ALLE:
Der Seher! - Wir brauchen einen Seher! Das ist eine fabel-
hafte Idee! - Holt den Seher, dem die Wahrheit
eingeboren ist, als einzigem Menschen!
Der Bezwinger der Sphinx: Ihr könnt in der ganzen Welt
nach ihm suchen - und werdet ihn nicht finden!
ALLE: Wo ist der Seher? Wo ist er?
Der Bezwinger der Sphinx: Diesen Seher, dem die Wahrheit
eingeboren ist, werdet ihr nicht finden können!
Denn in dieser Welt gibt es ihn nicht. Es gibt ihn nicht!
ALLE:
Es muss ihn geben! Irgendwo muss es ihn geben!
Und wir werden ihn finden - wir werden ihn finden!
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