Impfen wie damals bei Peymann

von Wolfgang Behrens

30. März 2021. Gestern habe ich ein neues Wort gelernt. Ich begegnete ihm in einer nachtkritik-Meldung über die Auswertung des Pilotprojekts in der Berliner Philharmonie zur Öffnung von Kulturveranstaltungen während der Corona-Krise. Meine spontane Interpretation des Wortes lief jedoch ins Leere, denn "No-Shows" (ja, um dieses Wort geht es) sind mitnichten das, was derzeit an allen Theatern und Konzerthäusern zu erleben ist, nämlich "keine Shows". Wenn eine erste schnelle Internet-Recherche nicht trügt, dann stammt der Begriff "No-Show" vielmehr aus der Touristik und bezeichnet das Nicht-Erscheinen einer Person, obwohl diese eine Buchung getätigt hat. Im Falle des Pilotkonzertes in der Berliner Philharmonie gab es bei 1000 Buchungen 43 solcher No-Shows – der Quelle zufolge ist das eine recht geringe "No-Show-Rate". Demnach würde eine No-Show-Partei normalerweise bei Wahlen die Fünf-Prozent-Hürde locker überspringen (falls sich die Menschen hinter den No-Shows nicht als Nichtwähler erweisen sollten).

Das Glück der Theaterfreaks

Erstaunlich genug, wie ich finde, und ich krame, seitdem ich das gelesen habe, in meinem Gedächtnis, ob ich mir im Theater schon einmal ein*e*n No-Show (oje, heißt es der, die oder das No-Show?) habe zuschulden kommen lassen. Mehrmals war ich knapp davor, aber als der Waschmaschinen-Inhalt der Nachbarn über uns von unserer Decke tropfte, war noch rechtzeitig ein Freund zur Stelle, der die zwei Karten für Peter Zadeks "Peer Gynt" freudestrahlend und unserer desolaten Lage gegenüber völlig empathielos in Empfang nahm. Und als ich einmal in jenen Jahren, als ich noch ein Kritiker war, um viertel vor sechs in den Veranstaltungstipps der Zeitung las, dass Marthalers "Hallelujah (Ein Reservat)" heute nicht um halb acht, sondern schon um sechs beginnen würde, da habe ich tatsächlich noch bei der Volksbühne angerufen und die Karte freigegeben.

17 Kolumne behrens k 3PFür die Veranstalter sind No-Shows nur dann ein Problem, wenn die Karten noch nicht bezahlt sind. Für Theaterfreaks hingegen sind No-Shows ein Segen: In wie viele Premieren und ausverkaufte Vorstellungen bin ich nicht dadurch noch hineingerutscht, weil es eine genügende Anzahl von No-Shows gab? Ich hatte regelrecht gelernt, auf sie zu spekulieren – dass ich wirklich unverrichteter Dinge wieder abzog, kam eher selten vor. Manche Theater oder Opernhäuser organisierten die Verteilung der nicht abgeholten Karten an der Abendkasse mithilfe einer Warteliste (was komfortabel war, denn dann konnte man die Warteschlange vorübergehend auf einen Kaffee oder ein Bier verlassen), und einige Male habe ich es sogar erlebt, dass ganz kurz vor Beginn noch einmal jemand vom Abenddienst nach verkauften, aber freien Plätze schaute und uns überglückliche Student*innen in allerletzter Sekunde mit dem Verlöschen des Lichts in den Saal lotste. Es konnte übrigens auch von Nutzen sein, das Verkaufssystem eines Theaters ein wenig zu kennen – im Berliner Ensemble vor Claus Peymann etwa (das muss wohl im 19. Jahrhundert gewesen sein) kam man buchstäblich in jede Aufführung, wenn man am Aufführungstag morgens an die Kasse kam – da verfielen nämlich alle gebuchten, aber nicht bezahlten Karten.

Die Impfung als ausverkaufte Veranstaltung

Es ist unschön, wenn in eigentlich ausverkauften Sälen Plätze freibleiben. Aber es ist auch nicht weiter schlimm. Und die Theater haben ja, wie beschrieben, Mittel und Wege gefunden, den Effekt dieser No-Shows möglichst kleinzuhalten. Man könnte freilich auch die derzeitige Impfkampagne – die sich gegen ein Virus richtet, das ausverkaufte Säle ohnehin zu einem Ding der Unmöglichkeit macht – als eine gewissermaßen ausverkaufte Veranstaltung betrachten. Zumindest ist es offensichtlich, dass die Nachfrage nach Impfstoff momentan größer ist als das Angebot. Doch auch in den Impfzentren kommt es zu No-Shows, und zu nicht einmal wenigen.

Jetzt würde man eigentlich denken: Naja, kein Problem! Die Theater haben so etwas ja schon jahrzehnte-, wenn nicht jahrhundertlang vorgemacht, da organisieren wir eine Warteliste, und wenn jemand nicht zur Impfung erscheint, rückt halt jemand anderes nach. Im schlimmsten Fall wäre dieser Jemand vielleicht sogar einer, der nach der Priorisierung der Zu-Impfenden noch gar nicht dran gewesen wäre – aber hey!, alles ist besser, als Impfstoff wegzuwerfen.

Dem Vernehmen nach läuft das aber ganz und gar nicht so. Anders als die leeren Plätze im ausverkauften Theater sind die No-Shows in der Impfkampagne allerdings hochgradig ärgerlich. Mit der ganzen Wucht der derzeit untersagten Stammtisch-Diskurse drängt sich da die Frage auf: Wieso kann ein Theater so etwas besser organisieren als unser Gesundheitssystem? Und wenn wir schon einmal dabei sind: Wieso gelingt es dem LTT Tübingen, der Berliner Philharmonie oder der Oper in Madrid, kontrollierte, hoffentlich aussagekräftige und vielleicht sogar zukunftsweisende Pilotprojekte an den Start zu bringen, während der Politik seit Monaten nur sanfte, weniger sanfte und harte Lockdowns einfallen? Es könnte einem der verwegene Gedanke kommen, dass die Politik vom Theater am Ende gar etwas lernen könnte. Aber, ach ja!, das Berliner Pilotprojekt ist ja schon wieder untersagt!

 

Wolfgang Behrens, Jahrgang 1970, ist seit der Spielzeit 2017/18 Dramaturg am Staatstheater Wiesbaden. Zuvor war er Redakteur bei nachtkritik.de. Er studierte Musikwissenschaft, Philosophie und Mathematik in Berlin. Für seine Kolumne "Als ich noch ein Kritiker war" wühlt er unter anderem in seinem reichen Theateranekdotenschatz.

 

In seiner vorherigen Kolumne forderte Wolfgang Behrens, darüber nachzudenken, wie Theater auch in pandemischen Zeiten möglich wäre

 

 

mehr Kolumnen

images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/visuals_2023/23_NAC_kolumnen_einzel_hussein_2x2.png
images/stories/kolumne/NAC_Illu_Kolumne_Kasch_2x2.png
Kommentare  
Kolumne Behrens: bekanntes Problem
Lieber Wolfgang Behrens,

ich habe während meiner Studentenzeit im Reisebüro und als Reiseleiter gearbeitet. Der Begriff No-show ist mir daher schon lange ein Begriff. No-shows sind ein großes Ärgernis. Sie sind eher selten bei Urlaubsflügen ein Problem, sondern eher bei Geschäftsreisen, wo Manager mehrere Reservierungen vornehmen und dann den passenden früheren oder späteren Flug nehmen. Bei den entsprechend teuren Businesstarifen sind solche Umbuchungen möglich, bei Eco-Tarifen oder Charterflügen selten und/oder gegen Entgelt.

Die Fluggesellschaften gehen von ca. 10% No-shows aus und überbuchen daher i.d.R. ihre Maschinen. Es kann also vorkommen, dass bei vollbesetzten Maschinen Freiwillige gesucht werden - gegen Prämie und Hotelübernachtung - die ihren Platz aufgeben für höher priorisierte Reisende.

Im Veranstaltungsbereich gibt es auch schon immer No-shows - ich fand sie immer besonders ärgerlich, als ich in der freien Szene tätig war und wir viel mit Reservierungslisten gearbeitet haben (das war vor vielen Jahren). Wenn dann kurz vor Vorstellungsbeginn 20 Leute ohne Reservierung an der Kasse stehen, aber noch 20 Leute auf der Liste stehen, deren Namen man womöglich noch kennt, kommt man ins Schwitzen. Neu vergeben oder warten? Wir haben damals die No-show-Quote für unser kleines Festival in der Nähe von Darmstadt berechnet: wir lagen bei 18%. Letzten Endes habe ich dann Online-Tickets eingeführt und jede Art von Reservierung abgeschafft.

Was die Methode von Claus Peymann zur Freigabe von Tickets angeht: das BE setzte damals wie heute das gleiche Ticketing-System ein, ebenso übrigens wie das DT, die Schaubühne, die Volksbühne, die Staatsoper und viele andere ... Die Freigabe von Reservierungen ist darin konfigurierbar in Abhängigkeit vom Vorstellungsbeginn ... Das handhabt dann eben jedes Haus ein wenig anders.

Und zum Schluss schlage ich noch schnell den Bogen zum Impfen: das Impfmanagement von Schleswig-Holstein und der Stadt Dortmund wird mit einem Ticketingsystem von Eventim betrieben. Vom Konzerttermin zum Impftermin ist nur ein kurzer Weg...
Kolumne Behrens: Alles lähmend
Werter Herr Behrens, Sie haben ja soooooo Recht! Auch hier im Süden ist die Impflage katastrophal. Die einen versuchen seit Wochen erfolglos und oft auch verzweifelt, einen Impftermin zu bekommen, während sich in den großen Impfzentren – etwa jenem an der Messe Stuttgart – die Impfer*innen und Ärzt*innen zu Tode langweilen, weil die Impfberechtigten die vereinbarten Termine nicht wahrnehmen und verfallen lassen – aus Angst vor AstraZeneca. Ja, warum organisiert man nicht ein Nachrücksystem für Impfwillige? Warum ist man hier so unerträglich unflexibel, so lähmend langsam, so bürokratisch? Something is rotten ... Und die Öffnung der Theater rückt in weite Ferne.
Kolumne Behrens: Korrektur
@1 Lieber Herr Glaap,

vielen Dank für Ihre Ausführungen. Sehr interessant!
Nur eine winzige Korrektur, was den Bezug auf meinen Text betrifft: Ich habe tatsächlich die Zeit am Berliner Ensemble VOR Peymann gemeint (in diesem Punkt ist die Überschrift des Textes ein wenig irreführend). Möglicherweise wurde auch damals schon dasselbe Tickting-System verwendet, aber nach meinem Gefühl fand da irgendwann eine Umstellung statt.
Kolumne Behrens: erst 2005
@3
Lieber Herr Behrens,
ich bin erst 2005 bei der Ticketing-Company gestartet. Da war das BE schon einige Jahre dabei, die große Umstellung fand m.W. im Jahr 2000 statt. Davor war wahrscheinlich entweder PASS oder Muethos im Einsatz ...
Kommentar schreiben