Orpheus digital

von Georg Kasch

Berlin, 31. März 2021. Musiktheater in Zeiten sozialer Distanz – das klingt zunächst einmal nach sicherer Bank. Während sich das Sprechtheater erst an die Aufbereitung fürs Netz herantasten musste, hatte die Oper bei Pandemiebeginn schon einen guten Vorlauf. Mit Live-Übertragungen in Kinosäle und gelegentlichen Internet-Streams hatten die großen Häuser längst wertvolle Erfahrung gemacht. Zudem konnten viele von ihnen auf ein Archiv aus Hochglanzvideokonserven klassischer Inszenierungen zurückgreifen. Entsprechend wurde seit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 rausgekloppt, was die Bestände hergaben. Sogar live gestreamte Premieren gab es etliche. Dass die Show hier derart ungebrochen weitergeht, liegt – neben ordentlicher Budgets und Sponsoren, die fürs Freitesten zahlen – auch am internationalen Reisezirkus: Wer die Sänger:innen und Dirigent:innen nicht zum verabredeten Zeitpunkt nutzt, hat danach kaum eine Chance, sie noch einmal für Endproben zusammenzukriegen.

Neues aus der Freien Szene

Wenn's aber darum geht, Neues zu schaffen, also zeitgenössisches Musiktheater zu zeigen und nicht nur aufs bewährte Repertoire zu setzen, dann wird's schwierig. Oper zählt ja spätestens seit den Aerosoluntersuchungen zur höheren Risikoklasse. Und anders als im Sprechtheater kann man nicht mit kleinen Formen wie Monolog oder Kammerspiel auf Distanz ausweichen.

Abschied ScreenshotNotenständer und Überblenden: "Abschied". Screenshot

Diese Ausgangslage macht es besonders für die Freie Szene schwierig. Sie ist der Innovationsmotor für zeitgenössisches Musiktheater – hier gibt es unendlich mehr Uraufführungen, lebende Komponist:innen und Experimente zu entdecken als an den Mehrsparten- und Opernhäusern, die sich meist mit dem klassisch-romantischen Repertoire beschäftigen. Allerdings ist diese Szene so unterfinanziert wie das freie Theater insgesamt, buhlt oft um dieselben Töpfe wie die Sprechtheater- oder Performancesparte. Entsprechend stumm blieben die Gruppen zunächst.

Corona-Geisterstunde beim Ensemble Kaleidoskop

Das ist seit Dezember anders. Plötzlich ballen sich die Übertragungen – oft als Musikfilm oder als abgefilmtes Theater. Am berührendsten geriet dabei "Abschied" vom Solistenensemble Kaleidoskop: Den finalen Adagio-Satz aus Mahlers 9. Sinfonie lassen sie zerbröseln, zerbröckeln, zerfasern – bis nur noch ein Rascheln, Schaben, Kratzen zu hören ist. Dazu macht die Filmregie aus der Not, diesen im Oktober in Hellerau analog uraufgeführten Abend im Dezember vom Radialsystem Berlin aus in den Stream zu überführen, eine Tugend. Mit Überblenden schafft sie geisterhafte Atmosphären: Menschen verschwinden, gehen wie Schatten umher – plötzlich ist der Saal leer, dann wieder gefüllt. Unter anderem mit zahllosen Notenständern, die auf eine doppelte Abwesenheit verweisen: die der Musiker, die von Mahler vorgesehen waren, aber in dieser kammermusikalischen Variante nicht dabei sind. Und die der Abwesenheit von Live-Kunst in Zeiten der Pandemie.

OverTheEdgeClub 560 ChristophVoy uPosthumanistischer Tänzer vor flammendem Bühnenbild: "Over the Edge Club (revisted)" © Christoph Voy

Dass sich gegen Ende des Jahres plötzlich die Online-Premieren ballten, hat etwas mit Fördergeldern und -zeiträumen zu tun. Entsprechend wirkten viele Produktionen wie hastig zusammengetackert. Johannes Müller / Philine Rinnert etwa, die an den Berliner Sophiensälen seit vielen Jahren vor allem das klassische Repertoire mit perfomativen wie musikalischen Über- und Neuschreibungen befragen, legten mit "Nothing will be archived" einen eher rätselhaften Musiktheater-Film vor, der sein Thema (die vergessene Berliner Filmstadt Woltersdorf) mit dramaturgischen Seitenblicken überfrachtet. Paul Fricks Klangspur geht im diffusen Bildschnitt unter.

Das Ensemble LUX:NM wiederum hat am Berliner Ballhaus Ost versucht, seinen "Epilog:Abriss" mit bearbeiteten Bildern für den Medientransfer zu wappnen. Während Akkordeon, Saxofon, Posaune und Cello Andrej Koroliovs Klangkombinationen austesten, rauschen (Stör-)Bilder über die Vorhänge, die sich erst allmählich lüften – und am Ende einen leeren Raum zeigen. Man sieht und hört dadurch nicht klarer.

Was ähnlich für Over the Edge Club (revisted) von gamut inc gilt. Dabei hat es die Grundidee in sich: Das Libretto stammt angeblich von GPT-3, der derzeit komplexesten Sprach-KI am Markt und fragt: Können wir menschliche noch von künstlicher Intelligenz unterscheiden? Marion Wörle und Maciej Sledziecki arbeiten seit Langem mit computergesteuerter Instrumentalmusik. Ihre teils vom Algorithmus bestimmte elektronische Musik pulst, atmet, steigert sich schließlich zum ziemlich abgefahrenen Club-Track. Auf der Erzähl- und Bühnenebene aber verraunt sich der Abend im Ungefähren.

Der Netzaspekt muss stärker mitgedacht werden

Warum hat das spannende Thema, die packende Musik filmästhetisch so wenig Konsequenzen? Vermutlich deshalb: Einerseits ist das freie Musiktheater chronisch unterfinanziert. Für all die Projekte, die über Nacht für den Stream umgebaut werden mussten, war kein Budget für diese Transformation eingeplant und ließ sich auch nicht nachträglich beantragen. Gerade werden Leute, die anspruchsvolle Mitschnitte machen oder spannende Umgebungen programmieren können, mit Gold aufgewogen, sind also nicht verfügbar. Andererseits aber hat man im Musiktheater – analog zum Sprechtheater – das Netz und seine Spielformen (mit den Modi Interaktion, Immersion bis zu Gamification) lange nicht als adäquaten Partner begriffen.

Stattdessen geht es beim Blick aufs Publikum immer noch von einer "Gesellschaft auf Zeit" aus, in der "jeder einen Moment der persönlichen Versenkung erleben kann", wie es Patrick Hahn in der Neuen Zeitschrift für Musik (5/2020) mit dem Essay "Gedanken zur Musik in Zeiten des Konzertverbots" formuliert. Dabei ist die Praxis des abgedunkelten Saals, der Konzentration allein auf die Bühne oder das Podest, erst seit den 1850er Jahren entstanden – "in kunstreligiöser Verkennung ihrer eigenen gesellschaftlichen Verstrickungen", so Hahn. Das Problem ist, dass sich diese kunstreligiöse Haltung – stille Konzentration, ja Andacht – vor dem heimischen Bildschirm nur bedingt reproduzieren lässt. Ohne entsprechenden Rahmen und Co-Publikum ist die Aura schnell dahin, hat das abgefilmte Geschehen eher informativen Wert. Gegen viele Online-Filme waren die ins gut gefüllte Kino übertragenen Opernstreams geradezu Liveerlebnisse!

Im Musikladen der geteilten Aufmerksamkeit

Immerhin: Es gibt Beispiele, die entweder aus der Not eine Tugend machen. Oder aber Versuchsräume erschließen, die die Möglichkeiten des neuen Mediums nutzen und weiterentwickeln. Zu ersteren gehört "Das Musikgeschäft", wiederum am Berliner Radialsystem, das die Kurve zu einem netztauglichen Live-Stream kriegte. Und zwar weniger wegen der Teleshopping-Show, die Komponist* Neo Hülcker und Co-Regisseur Bastian Zimmermann in letzter Minute als Mitmach-Gag eingebaut haben. Sondern weil sie eine der zentralen Erkenntnisse des Netzverhaltens mitdenken: Da klebt man nicht unbedingt gebannt am Bildschirm, sondern beschäftigt sich durchaus auch mit anderem.

DasMusikgeschäft 560 DavidBeecroft Wimmelbild mit Instrumenten: "Das Musikgeschäft" © David Beecroft

In seiner zeitweiligen Unterspanntheit erinnert der Abend an Gob Squads Hybrid-Performance Show me a good time, bei der ja auch niemand erwartet, die ganze Zeit hochkonzentriert dranzubleiben. Was in "Das Musikgeschäft" passiert, wirkt äußerst alltäglich. Kund:innen und Lieferanten schneien in den Musikalienladen voller Kunst und Krempel (E-Gitarre neben Notenständer, Partituren neben Devotionalien), probieren Instrumente aus, die Mitarbeiter:innen öffnen Pakete, üben kurze Sequenzen am Keyboard. So fügt sich aus der Geräuschkulisse allmählich eine Klanglandschaft: Während ein Trommler-Wunderkind im – über eine Überwachungskamera ins Bild geholten – Probenkeller aufs Schlagzeug eindrischt, probiert oben eine Kundin Blockflöten aus, Verpackungsmaterial raschelt, eine Tastatur klackert – alles schön verstärkt. Das ist nichts für die vorderste Sesselkante, worauf der Ladenbesitzer einmal auch sehr deutlich und augenzwinkernd hinweist. Sondern ein Prozess, dessen Verdichtungen einen automatisch fesseln, während man sich im Leerlauf auch mal mit den aktuellen Corona-News auf dem Handy beschäftigen kann.

Die Suche nach der Resonanz

Natürlich ist diese Erkenntnis, dass man im Netz die Zügel lockern und die Erwartung an die Aufmerksamkeit des Publikums drosseln sollte, für alle Theatermacher:innen, unabhängig vom Genre, erst mal eine Kränkung. Aber es zeigt eben auch, wie viel Verständnis für den Medienwechsel noch wachsen muss, wenn der Stream nicht nur dokumentarisches Abbild eines mehrdimensional geplanten Ereignisses sein soll, sondern ein Kunstwerk, das auch im Netz eine Aura besitzt.

Genesis 560 Gerhard Kuehne u"Genesis" – Blick in die Halle © Gerhard Kühne

"Das Musik-Erleben hebt die Trennung zwischen Selbst und Welt auf, indem es sie gleichsam in reine Beziehung verwandelt", schreibt Hartmut Rosa in seinem Buch "Resonanz", in dem er die Beziehung des Ichs zur Welt beschreibt. "Musik sind die Rhythmen, Klänge, Melodien und Töne zwischen Selbst und Welt, auch wenn diese natürlich eine ding- und sozialweltliche Quelle haben." Für diese Resonanz müssen die Möglichkeiten des Netzes gesucht werden. Davon erzählt zum Beispiel Alexander Schuberts "Genesis" (ein Trailer, eine aufschlussreiche Lecture und Tonbeispiele gibt's hier). Das einwöchige Online-Reallive-Computergame, das entfernt an Aufbausimulationen wie "Minecraft" und "Sims" erinnert, ging Ende April 2020 als Teil des Internationalen Musikfests Hamburg an den Start.

In einer leeren Hamburger Industriehalle ließen vier Performer:innen sieben Tage lang eine Welt entstehen – als Avatare des Publikums. Wer einen einstündigen Slot ergattert hatte, konnte über die Projekt-Homepage seinem menschlichen Avatar auf Deutsch und Englisch so ziemlich alles an Aufgaben auftragen, was nicht eindeutig unter der Gürtellinie war. Die vier Avatar-Performer:innen, die sich oft gleichzeitig im Raum bewegten, also parallel von vier Nutzer:innen gesteuert wurden, kommunizierten über ein Armband zurück. Sie konnten zwischen den Antwortmöglichkeiten "Ja", "Nein (kann ich nicht)", "Erkläre mehr", "Danke" und "Bist du sicher?" wählen, den Nutzer:innen außerdem mitteilen, ob sie Hunger haben, müde sind, es ihnen zu warm oder zu kalt ist. Ob die Nutzer:innen darauf reagierten (zum Beispiel indem sie ihren Avatar anwiesen, eine Essenspause zu machen), war ihnen anheimgestellt. Alle Zuschauer:innen, die gerade nicht spielten, konnten das Geschehen verfolgen und sich über einen Chat austauschen.

Genesis Additional Images14"Genesis" – Blick auf den Bildschirm mit den Requisit-Wahlmöglichkeiten. Screenshot

Schuberts Ziel war zu beobachten, wie Menschen durch Technologie miteinander kommunizieren können. Schon in der Vorgängerarbeit "Control" hatte er in Oslo in einem ähnlichen Setting Menschen zusammengebracht, die kontrollieren und Menschen, die kontrolliert werden. Allerdings hatten die Performer:innen das vorher geprobt. Bei "Genesis" war alles offen: Es gab kein Skript, kein Narrativ, kaum Regeln. So konnte an sieben Tagen tatsächlich eine Welt entstehen.

Eine Klangwelt entsteht

Und wo bleibt die Musik? Nichts war vorher komponiert. Zugleich spielten Musik und Sound eine konstante Rolle. Zum riesigen Fundus, mit dem die Spieler:innen über die Avatare die leere Welt füllen konnten, gehörten auch zahlreiche Instrumente wie Orgel, Plattenspieler, Gitarre, Keyboard und ein demoliertes Klavier. Durch CD-Player und Platten mit Sprung ergaben sich Loops, dank festgeklebter Keyboardtasten langandauernde Akkorde.

Hier zeigt sich ein Musikverständnis, das auf John Cage zurückgeht, den ja auch viele Theatermacher:innen als Säulenheiligen der Avantgarde verehren. Weil er wesentlich dazu beigetragen hat, Töne aus ihrem Bedeutungszusammenhang zu lösen, Alltagsgeräusche als Musik wahrzunehmen (etwa im legendären "4'33''"), den Zauber des Zufalls zu entdecken (etwa mit dem Zufallsverfahren des I Ging). Auch an die Interpret:innen gab er Kontrolle ab, indem er statt genauer Notationen zunehmend allgemeinere Anweisungen schuf, die von den Ausführenden improvisiert oder auskomponiert werden mussten. Gerade im Hinblick auf ein partizipatives, responsives Online-Musiktheater scheint das – neben kurzen Kompositionen, die sich variabel anordnen lassen – als besonders gangbarer Weg.

Rosenblätter und Chatverläufe

Schubert ist als profilierter Komponist ohne E/U-Scheuklappen und zugleich studierter Informatiker natürlich eine Ausnahmeerscheinung. Aber er ist nicht der einzige, der sich in Sachen Game-Musiktheater vorwagt. Im November 2020 ging Andreas Eduardo Franks "SuperSafeSociety" online, in dem Frank eigene Kompositionen, aber auch von Kollegen wie Gordon Kampe, Jay Schwartz und Ludwig van Beethoven verwendete. Der Clou: Der Abend findet nicht nur an einem, sondern an zwei Bildschirmen statt. Handy und Laptop ergänzen sich dabei auf faszinierende Weise. Mal zeigt das Handy rhythmisierte Übertitel, mal Chatverläufe, dann wieder regnet es auf beiden Bildschirmen synchron Rosenblätter. Währenddessen zeigt der Laptop die sechs Neuen Vocalsolisten Stuttgart, deren Köpfe von Leinwänden verdeckt werden, deren Bilder die gesungenen und skandierten Corona-Litaneien illustrieren. Das Design knüpft an die Optik des Microsoft-Betriebssystem MS-DOS an, bindet Chats und Publikumsgesichter ein (der Trailer gibt leider nur einen unvollständigen Eindruck) .

SuperSafeSociety Screenshot"SuperSafeSociety". Screenshot

Sicher kann man die Corona-Ironie in Großbuchstaben nervig finden. Aber die Geschwindigkeit, mit der Frank auf die Gegenwart reagiert, die visuelle Überwältigung, die die Arbeit auszeichnet (verantwortlich sind Valentin Alisch, Niklas Berlec und Tobias Hönow) und die Qualität der Neuen Vocalsolisten machen sie zu einem ziemlich einzigartigen Vergnügen.

Evelyn Hriberšeks "O.R.PHEUS" und "EURYDIKE"

Beide Beispiele konnten nur entstehen, weil sich die Macher:innen schon länger mit den Möglichkeiten von Netzästhetik und Partizipation auseinandersetzen. Eine Künstlerin, die sich bereits mit den immersiven Möglichkeiten analog-digitalen Erzählens beschäftigte, als Smartphones erst zum großen Sprung ansetzten, ist Evelyn Hriberšek. Schon 2012 entwickelte sie in München ihr Single-Player-Experience O.R.PHEUS, in denen jede:r Besucher:in mit Smartphone und Kopfhörern 25 Minuten Zeit hatte, sich in den Räumen eines 1000-Quadratmeter-Bunkers zu bewegen. Je nachdem, welche Entscheidungen man traf, beeinflusste das die eigene Spielerfahrung und die der anderen Spielenden. So begegnete man analog wie virtuell Fragmenten der Handlung – und der Musik.

O.R.PHEUS nachtkritik Copyright by Evelyn Hribersek Julian Rupp 30.3.2021"O.R.PHEUS – Eine musikalisch-theatrale Rauminstallation" © Evelyn Hriberšek & Julian Rupp 2012 - 2021 | VG Bild-Kunst Bonn 2021

Ludger Brümmer, Leiter des Hertz-Labor am Zentrum für Kunst und Medien in Karlsruhe, hatte die Räume mit Kurzkompositionen ausgestattet, wobei sich die Klänge im realen Raum auch mit dem aus den Kopfhörern überlagerten und ergänzten. Ein Beispiel: Eine OP-Liege war mit Lautsprechern verbunden. Wer sich darauf legte, spürte die Vibrationen und erlebte einen Sound, der sich mit dem aus dem Smartphone mischte.

2017 folgte mit EURYDIKE eine interaktive virtuell-analoge Rauminstallation, in der sich die Spieler*innen mit VR-Brillen und Kopfhörern bewegten. Der Abend hinterfragt eine von Männern dominierte Tech-Gesellschaft, in der Frauen als Objekt dienen. Im Mythos stirbt Eurydike, je nach Fassung, gleich zwei Mal durch einen Mann: das erste Mal auf der Flucht vor einer Vergewaltigung durch einen Schlangenbiss, das zweite Mal, weil Orpheus sich umdreht.

EURYDIKE 560 Evelyn Hribersek Adrian Schaetz u"EURYDIKE. Kunstinstallation. Musiktheater. Real Life Game. Mixed Reality Experience." © Evelyn Hriberšek & Adrian Schätz 2017 - 2021 | VG Bild-Kunst Bonn 2021

Jede:r Spieler:in hat nun in einer 3D-Umgebung mit 360-Grad-Sound die Aufgabe, Eurydike aus dem Schattendasein zu befreien, ihr eine aktive Rolle zu geben. Bei "EURYDIKE" stammt die Komposition von einer Frau, SØS Gunver Ryberg, die auch für Computerspiele und Filme Scores erarbeitet. Eine vibrierende, auf die Nervenenden zielende elektronische Musik ist dabei entstanden. Übrigens: Dass die VR-Brillen gehackt wurden und Durchblicke ermöglichen, sich also auch hier realer und virtueller Raum durchdringen, transportiert natürlich auch inhaltlich eine Botschaft: Hinterher hat man hoffentlich den Blick geschärft für toxische Männlichkeit insbesondere im Netz.

Der die Sirenen betört

Es gibt sie also, die Formate, die schon länger mit all dem arbeiten, was Musiktheater im Netz sowohl einzigartig als auch zugänglich machen kann. Natürlich erfordern sie von Musiker:innen einen offenen Werkbegriff. Natürlich machen sie aus der Musik streckenweise eine untergeordnete Instanz. Dafür entstehen künstlerische Ereignisse, die keine Notlösungen sind, sondern auch Publikum erschließen, das um zeitgenössisches Musiktheater sonst eher einen Bogen macht.

Dass sich Hriberšek mit dem Mythos von Orpheus und Eurydike auseinandersetzt, ist dabei nicht zufällig ein Rückbezug auf die Anfänge des Musiktheaters, so wie wir es kennen. Schließlich war Orpheus jener Sänger, der selbst die Sirenen und die Wächter des Totenreiches betören konnte. Er wurde zum Symbol für Musik und das Musiktheater überhaupt, worauf schon die älteste erhaltene Oper verweist, Jacopo Peris "Eurydice" von 1600, aber auch zahllose weitere Bühnenwerke danach zwischen Claudio Monteverdi und Helmut Oehring. Will heißen: Das Musiktheater ist, 421 Jahre nach seiner Erfindung, immer noch quicklebendig. Wenn es aber auch im Netz überleben will, muss es die entsprechenden Spuren aufnehmen. Sie sind alle schon da.

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