Vergissmeinnicht zählt einfach

von Reinhard Kriechbaum

Graz, 31. März 2021. Nichts ist ganz unmöglich, und sei es auch noch so unwahrscheinlich. 2015, im Jahr der Uraufführung von Sam Steiners wortschwallendem Einsilbigkeitsstück "Lemons Lemons Lemons Lemons Lemons", hätten selbst notorische Schwarzseher nicht von einer Pandemie geträumt, von großflächig eingeschränkten Sozialkontakten. Sechs Jahre später wirkt das Szenario näher gerückt.

140 Wörter Tagesbudget

Sam Steiner, Dramatiker und Drehbuchautor aus Manchester, schildert in seinem Bühnen-Erstling eine bedrohliche politische Situation im nicht näher gefassten Irgendwo. Es dräut ein Gesetz, das den Mitteilungsdrang seiner Bürger radikal einschränken würde: 140 Wörter Tages-Konversation – und aus. Ein junges Paar probt den Ernstfall, der dann tatsächlich eintritt. Das Gesetz wird verabschiedet. Was macht ein solcher Einschnitt in eine der privatesten Freiheiten – die Redefreiheit – mit uns, ganz individuell?

1 560 Zitronen Maximiliane Haß Katrija Lehmann c Lex Karelly Orwells "1984" lässt grüßen: Katrija Lehmann und Maximiliane Haß spielen das Erfolgsstück von Sam Steiner © Lex Karelly

Kein Wunder, dass ein solches Stück in der Facebook-, Twitter- und WhatsApp-Welt auf Widerhall stößt (die Anspielung auf die 2015 gültige Zeichenbeschränkung auf Twitter – 140 – ist ja auch augenscheinlich). Es ist unterdessen in acht Sprachen übersetzt worden. Aus den fünf "Lemons" im Originaltitel sind in Stefan Wipplingers deutschsprachiger Variante, die im Grazer Schauspielhaus vorerst virtuell aus der Taufe gehoben wurde, drei "Zitronen" geworden. Das ist vielleicht als unaufdringlicher Hinweis gedacht, dass man in unserer Sprache mit unnötigen Wiederholungen besonders aufpassen sollte. Sie hält ja so manche Formulierungs-Umständlichkeiten bereit, und von unnötigen Schnörkeln in unserem Alltags-Sprech reden wir lieber gar nicht, nicht wahr? 140 Wörter – da fluschen die unnötigen Ausdrücke nur so dahin und nagen zusätzlich am eisernen Vorrat.

"Man braucht mehr Worte, wenn man weniger Geld hat"

Um Sprachkritik geht's hier natürlich nicht, sondern ums Politische der Sprache und um die Beziehungskiste zweier junger Menschen. Im Original heißen sie Bernadette und Oliver. Aus letzterem hat die niederländische Regisseurin Anne Mulleners, seit voriger Saison Regieassistentin im Schauspielhaus Graz, eine Olivia gemacht. Bernadette ist Juristin und also berufsmäßig Versteherin von Verordnungen. Olivia, die Musikerin, ist eine, die motzt und protestiert. "Man braucht mehr Worte, wenn man weniger Geld hat", argumentiert sie. Die drohende Einschränkung der persönlichen Redefreiheit teile "die Gesellschaft in Leute, die Worte haben und in solche, die sie brauchen".

2 560 Zitronen Maximiliane Haß Katrija Lehmann c Lex Karelly Konversationsstück unter Extrembedigungen: Katrija Lehmann und Maximiliane Haß im Bühnenbild von Eva Sol und Philipp Glanzner © Lex Karelly

Der Reiz von "Zitronen Zitronen Zitronen" ist, dass der gesellschaftliche Diskurs heruntergebrochen wird auf die private Ebene. "Jedes Paar hat sein eigenes Wörterbuch", sagt Bernadette einmal. Der Autor dekliniert nicht lange herum an gesellschaftspolitischen Fragen, er bringt sie ganz unaufdringlich ein in diese privaten Wörterbücher, die bei den beiden Protagonistinnen übrigens sehr unterschiedlich bestückt sind.

Survivaltraining am Wortschatz

Zwei Stückvarianten hat man in Graz vorbereitet: ein Kammerspiel im kleinsten Bühnenraum soll es in dieser Saison noch geben. Jetzt aber erst einmal eine Online-Fassung, die aus eben diesem Bühnenraum ausbricht. Im Botanischen Garten der Universität mit seinen architektonisch eigenwilligen Gewächshäusern wuchert es rundum, während die beiden Frauen in einer Art "Survivaltraining" schon mal Wörter zählen und einschränken. Hübsche Idee, die Schnitte und Sprünge zwischen den vielen kurzen Szenen mit einem Zurückdrehen auf Schwarzweiß zu markieren. So behält die Sache ihren Flow, wie er englische Konversationsstücke auszeichnet. Die virtuelle Version hat also sehr eigene filmische Qualitäten. Sie machen erst recht drauf neugierig, wie dieses Stück, diese beiden so durch und durch sympathischen Darstellerinnen im Theater ankommen.

1 560 Zitronen Maximiliane Haß Katrija Lehmann c Lex Karelly Im Clinch und doch vereint: Maximiliane Haß und Katrija Lehmann spielen entlang der Wort-Obergrenze © Lex Karelly
Katrija Lehmann und Maximiliane Haß sind die beiden Schauspielerinnen. Gar nicht klischeehaft sind sie hergerichtet, und beide agieren mit größter Natürlichkeit und Selbstverständlichkeit. Weder wirkt die Juristin über die Maßen streng, noch die Musikerin ausgeflippt. Und doch ist gerade so viel Unnahbarkeit auf der einen und Empathie auf der anderen Seite, dass der Dauer-Clinch der beiden gut nachvollziehbar ist. Aber keine Angst, die Reduktion der Wörter führt letztlich nicht zu Spaltung, sondern zu einer Stärkung der Beziehung. Am Ende werden sie gemeinsam Richtung Demo aufbrechen, auch wenn in dieser letzten Szene die Tages-Wortzahl mit 137 schon nah am Limit ist. Und weil wir schon beim Positiven sind: Zusammengesetzte Wörter werden nicht einzeln gezählt. Vergißmeinnicht ist eins!

 

Zitronen Zitronen Zitronen
von Sam Steiner
Aus dem Englischen von Stefan Wipplinger
Regie: Anne Mulleners, Entwurf Bühne: Eva Sol, Kostüme & Umsetzung Bühnenentwurf: Philipp Glanzner, Komposition: Mihai Codrea, Sânziana Dobrovicescu, Dramaturgie: Franziska Betz, Kamera & Schnitt: Thomas Achitz, Set-Ton & Mischung: Elisabeth Frauscher.
Mit: Maximiliane Haß, Katrija Lehmann.
Online-Premiere am 31. März 2021 im Schauspielhaus Graz
Dauer: 1 Stunde

www.schauspielhaus-graz.at

 

Kritikenrundschau

Das Stück nimmt ein Paar ins Visier, das sich auf das Inkrafttreten eines 140-Wort-Gesetz vorbereitet, indem es Abkürzungen für die Alltagskommunikation eruiert, so Margarete Affenzeller im Standard (2.4.2021). "Die Inszenierung gleicht einem Experimentalfilm über eine seltsam verschobene, zum Teil surreale Welt (weiche Felsblöcke als Couch)." Für ein Gedankenexperiment von 60 Minuten gerade recht.

"Die Versuchsanordnung wirkt zwar recht konstruiert, aber weil Steiner das Inkrafttreten und die Auswirkungen des Gesetzes
mit der Liebesgeschichte eines jungen Paars verknüpft, bleibt das Thema zugänglich", schreibt Ute Baumhackl in der Kleinen Zeitung (online hinter Paywall 1.4.2021). Mit Grandezza schultern die beiden Schauspielerinnen Maximiliane Haß und Katrija Lehmann die soziale und emotionale Fracht des Stücks, aber "die Digitalversion bleibt an Atmosphäre und Stringenz doch einiges schuldig. Immerhin muss 'Zitronen Zitronen Zitronen' parallel von einer politischen Verwüstung erzählen".

Die junge niederländische Regisseurin Anne Mulleners habe aus Sam Steiners Hetereo-Pärchen zwei Frauen gemacht, "eine gute Entscheidung, die die Klischee-Gefahr eines wortkargen Mannes und einer quasselnden Frau von vorneherin bannt", so  Barbara Behrendt im DLF (1.4.2021). Sie setze in dem kurzen Theaterfilm ganz auf das Experiment und die Labor-Situation. Mit kurzen Trennbildern in schwarz-weiß mache die Regisseurin geschickt redselige Vergangenheit und stumme Gegenwart deutlich. Fazit: "Der Text macht unser kostbares Sprachgut spürbar und er macht in Mulleners Inszenierung sogar Spaß."

Mit einer Mischung aus Bühnenaufführung und Szenen im Freien gehe das Schauspielhaus Graz mit dieser ersten online-Premiere einen neuen Weg, schreibt Karin Zehetleitner in den Salzburger Nachrichten (1.4.2021). Autor Sam Steiner entwerfe in "Zitronen Zitronen Zitronen" eine beklemmende Zukunftsvision, bei der die Kommunikation auf 140 Wörter pro Tag eingeschränkt wird. "Das Drama zeigt das fast unmögliche Herantasten an die Minimalisierung gekonnt – und äußerst wortgewaltig." Gedreht wurde auf der Bühne, aber auch im Botanischen Garten, "Szenenwechsel wie auch Wechsel zwischen Schwarz-Weiß und Farbe geben einen streng komponierten Rahmen vor, in dem nichts von den Darstellerinnen ablenkt".

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