Des Fluches Folgen

von Rainer Nolden

Frankfurt am Main / online, 8. April 2021. Kein kleines Wagnis ist das Schauspiel Frankfurt eingegangen mit seinem Entschluss, "Eine posthumane Geschichte" des Hongkonger Autors und Regisseurs Pat To Yan zur Uraufführung zu bringen. Es ist ein Stück voller Mythen und Mysterien aus einem weit entfernten Kulturraum. Da treten etwa "die weiße Knochenfrau", die "Ansammlung gequälter Seelen" oder das "Mädchen mit einem Baum auf dem Kopf" auf, allesamt allegorische Figuren aus der kantonesischen Mythologie, die im fernöstlichen Geschichtenkosmos so bekannt sein dürften wie hierzulande das Rotkäppchen oder Max und Moritz.

In einem Podcast zum Stück gestand die Regisseurin Jessica Glause denn auch freimütig, dass es ihr und ihrem Team kaum möglich gewesen wäre, das Stück zu "knacken", hätten sie nicht die Gelegenheit gehabt, den Autor per langen Skype-Sitzungen mit Fragen zu bombardieren und von ihm sozusagen aus erster Hand all die Fußnoten zu erhalten, die zum Verständnis seines Werkes unabdingbar sind.

Der Fluch des KI-Gesäßes

Freilich reicht der Zeitstrahl, an dem entlang Pat To Yan seine komplexe und komplizierte Geschichte erzählt, nicht nur in eine ferne Vergangenheit zurück, sondern weist auch in eine (gar nicht so ferne) Zukunft, in der es um Macht und deren Missbrauch von Mächtigen und Militärs geht. Und gemeint ist damit natürlich jene Gegenwart, die der Autor tagtäglich am eigenen Leib erleben muss – die einer Stadt, in der die Demokratie und die Freiheit ihrer Bewohner zu einem kostbaren Gut geworden ist, das oftmals nur um den Preis des eigenen Lebens verteidigt werden kann.

eine posthumane geschichte 3 560 c robert schittko uFiguren aus dem kantonesischen Mythen-Kosmos: "Eine posthumane Geschichte" © Robert Schittko

Im Mittelpunkt der "posthumanen Geschichte" steht Frank (André Meyer), ein Söldner und begeisterter Gamer, der als Spezialist für Cyberkriegsführung angeworben wird, um die Feinde des Landes, das den bezeichnenden Namen "Mitte ohne Ende" trägt, mittels Drohnenattacken zu bekämpfen. Den Job nimmt er auch des Geldes wegen an, denn seine Frau Jane (Agnes Kammerer) erwartet ein Kind. Dieses Baby wird ohne Po geboren – die Verwirklichung eines alten kantonesischen Fluchs, der Menschen gilt, die etwas Böses getan haben. Dank der fortgeschrittenen Technik bekommt das Baby, dem die Eltern den Namen "Anders" (Uwe Zerwer) geben (im Original heißt er, das Andersartige besser betonende, "Another") ein künstliches Gesäß, das sich nicht nur als viel effizienteres Gehirn als das weiter oben entpuppt, sondern auch dafür sorgt, dass sein Besitzer im Zeitraffer altert – womit er, wie die Ärztin versichert, zum "Wegbereiter einer neuen Art Mensch werden kann". Immerhin verfügt dieses futuristische Frankenstein'sche Geschöpf über ein lebensrettendes Talent: Dem Sohn gelingt es dank seines KI-Hinterns, der unentwegt Botschaften empfängt, den im Krieg verschollenen Vater ausfindig zu machen, der in die Fänge der weißen Knochenfrau (Christina Geiße) geraten ist.

Parallel zu diesem Handlungsstrang schickt sich der "Mann, der das Geisterkind füttert", an, die Herrschaft in "Mitte ohne Ende" zu übernehmen – mit Hilfe einer erfundenen Geschichte, die die Menschen gefügig und zu willigen Untertanen machen soll. Dafür gibt es ein Unternehmen, das derlei Geschichten generiert und den Menschen sozusagen Fake News in die Gehirne implantiert – eine Art Orwell'scher "Neusprech" für die schrecklich schöne neue Welt. Eine solche Fachfrau für "Datenindikation" ist Jane (vermutlich ist diese Tätigkeit das "Böse", das ihr Baby ohne Po auf die Welt hat kommen lassen), die sich für diesen Job von ihrer über Leichen gehenden Freundin Priscilla (Anna Bardavelidze) erneut anwerben lässt – und sich am Ende als der einzige Mensch mit Gewissen entpuppt, weil sie sich der Schädlichkeit und Schändlichkeit ihres Jobs bewusst geworden ist.

Zukunftsapokalypse in fernöstlich-magischem Realismus

Jessica Glause hatte "Eine posthumane Geschichte" als analoge Theaterarbeit begonnen. Die Pandemie machte ihr und ihren Schauspieler*innen einen Strich durch die Rechnung. Um eine Aufführung realisieren zu können, entschieden sie sich für eine Videoperformance, die dem Stück ein Science-Fiction-Ambiente verleiht, das mit herkömmlichen Bühnenmitteln wohl kaum herzustellen gewesen wäre. Benjamin Lüdtke sorgt mit Kamera und Schnitt für ein futuristisches Umfeld, das zeitweise die Anmutung eines Computerspiels erhält und damit für eine durchaus passende Bildästhetik der in kurzen und kürzesten Szenen erzählten Geschichte sorgt.

Die Fülle von Themen, Motiven und Anspielungen, die der Autor in diese neunzig Minuten packt, ergießt sich freilich wie ein Informations-Tsunami über den Betrachter: Es geht um künstliche Intelligenz, um Ethik und Moral, um die Perfektionierung der militärischen Tötungsmaschinerie, um die Unterdrückung Andersdenkender, um die Frage, inwieweit Robotik und Künstliche Intelligenz in die menschliche Existenz eingreifen (oder längst eingegriffen haben) – und ob der Mensch, technisch hochgerüstet, sich nicht selbst schon längst zur Maschine vervollkommnet oder ob er verkommen ist angesichts der Tatsache, dass er kaum noch von seinem Handy oder Laptop zu trennen ist. Eine Zukunftsapokalypse, eingebettet in die fernöstliche Version eines magischen Realismus.

eine posthumane geschichte 1 560 c robert schittko uBühnen-Set-up von Mai Gogishvili © Robert Schittko

Mai Gogishvili greift für das Bühnenbild tief in die computergesteuerte Trickkiste und hat sich für ihre Kostüme von Anime- und Mangafiguren sowie Fantasy- und Science-Fiction-Filmen inspirieren lassen. Doch wenn es zwischen zwei Menschen funkt – wie zwischen dem rapide alternden Anders und dem Mädchen mit dem Baum auf dem Kopf (Vanessa Bärtsch) –, dann funkelt ein Feuerwerk von elektronischen Sternen zwischen den Liebenden, als wären sie einem Poesiealbum des vergangenen Jahrhunderts entstiegen. Liebe bleibt offenbar selbst in ferner Zukunft eine ziemlich altmodische Angelegenheit.

Sieben Schauspieler verkörpern 17 mehr oder weniger menschenähnliche Wesen, die durchgehend in rascher Folge auf- und wieder abtauchen. Die meisten dieser Figuren sind eher Karikaturen als Charaktere, zweidimensionale Comic-Strip-Figuren, die permanent in die Kamera blicken, ohne einander anzuschauen. Emotionen, das Grundrauschen einer analogen Theateraufführung, sucht man hier vergebens. Ein Experiment, geboren aus der Not der Stunde. Aber eben nur das.

 

Eine posthumane Geschichte
von Pat To Yan
Inszenierung: Jessica Glause, Dramaturgie: Julia Weinreich, Bühne und Kostüme: Mai Gogishvili, Musik: Joe Masi, Kamera und Schnitt: Benjamin Lüdtke.
Mit André Meyer, Agnes Kammerer, Uwe Zerwer, Christina Geiße, Jonathan Lutz, Anna Bardavelidze, Vanessa Bärtsch.
Filmische Uraufführung am 8. April im Schauspiel Frankfurt
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten

www.schauspielfrankfurt.de

 
Kritikenrundschau

Kevin Hanschke (10.4.2021) in der FAZ bescheinigt dem Autor einen "scharfe(n) Blick für die Heuchelei und Ungerechtigkeiten der Digitalmoderne". Ein  Bühnenbild so "clean wie die Technologie, die Yan beschreibt", performancehafte Einschübe und Assoziationen zu Oskar Schlemmers „Triadisches Ballett“ bleiben dem Kritiker in Erinnerung. Bei dem "wenig hoffnungsvollen Schluss", den die Frankfurter Inszenierung seiner Meinung nach zieht, sei sie gleichzeitig voller "kurrilem Galgenhumor".

In der Frankfurter Rundschau gibt Judith von Sternburg  (online 9.4.21, 19:02 Uhr) einen Abriss der Entwicklung vom Bühnen- zum Digitalstück und beschreibt letzteres als "eine elegante Illusion". "Mit Metropolis-haften Bühnenelementen", "opulenten Kostümen", "technisch aufgepeppten Bildeffekten", perkussiver Musik und nicht zu vergessen der thematischen Brisanz  machten es Autor, Regisseurin und Ensemble der Zuschauerin "leicht, 90 Minuten neugierig zu bleiben". Im Showdown würden allerdings einige der geplotteten Probleme etwas "arg flugs aufgelöst".

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