Verloren wie Tränen im Regen

von Reingart Sauppe

Saarbrücken, 11. April 2021. Es kommt selten vor, dass das geografisch abgelegene Saarländische Staatstheater von überregionalem Medieninteresse überrannt wird. Zu tun hat das freilich mit dem "Saarland-Modell", das zur Zeit dem Staatstheater die coronakonforme Öffnung seiner Spielstätten erlaubt. Gleich drei Produktionen konnten dadurch endlich zum ersten Mal gezeigt werden, darunter auch "Eine kurze Chronik des künftigen China" von Pat To Yan, das seit Anfang November letzten Jahres auf seine europäische Erstaufführung warten musste.

"Wenn du über die Grausamkeit der Realität schreiben willst, darf es nicht realistisch sein" – sagt das "unheimliche Mädchen", das in Moritz Schöneckers Inszenierung so gar nichts Unheimliches oder Bedrohliches hat, sondern in ihrem ausgestellten Kostüm eher an eine puppenhafte Kunstfigur aus Oskar Schlemmers Triadischem Ballett erinnert. Welche Rolle ihre albtraumhaften Erinnerungen an einen erlittenen Organraub spielen, bleibt unklar. Ein Geheimnis ist auch ihre Familiengeschichte, deretwegen ihr Geliebter und späterer Kindsvater seiner Liebe zum Musicaltheater abschwört und sich dafür sicherheitshalber das Sehen gleich ganz verbietet. "Ich will noch einmal die Wahrheit sehen, bevor ich gehe", orakelt er am Ende.

Big Brother schaut zu

Nein, mit reiner Rationalität kommt man an diesem Abend nicht weit. Doch nicht nur der Zuschauer muss errätseln, was hier gerade geschieht oder geschehen ist, sondern auch die Protagonisten selbst. Was ist real, was Traum? Kann man sich auf seine Erinnerungen verlassen, falls man überhaupt welche hat oder wurden diese von AutorInnen der Regierung verfasst und ins Hirn eingepflanzt? Aus dem TV-Bildschirm am Bühnenrand schaut ein Chinese zu. Ist er Big Brother oder auch nur ein ferngesteuerter Roboter wie die fleißigen Heinzelmännchen in ihren weißen Schutzanzügen wie aus einer Corona-Schnellteststation?

in der Mitte: Jan Hutter (Das Mitglied der politischen Partei); hinten links: Barbara Krzoska (Das unheimliche Mädchen); Bernd Geiling (Der Mann, der Schmerz mitansieht); hinten rechts: Martina Struppek (Der wütende Mann); Gaby Pochert (Antigone); auf dem Monitor: Kenneth Sze (Mann im Video)Ein Traum? Jan Hutter, Barbara Krzoska, Bernd Geiling, Martina Struppek, Gaby Pochert, Kenneth Sze © Martin Kaufhold

So viel versteht man im Laufe des Abends dann aber doch: Das unheimliche Mädchen im Puppenkostüm und der Mann, der jetzt eine Sonnenbrille trägt, weil er nichts mehr sieht, sind in den Süden des Landes geflohen und Eltern eines Sohnes geworden, dessen rätselhafte Mission es ist, eine schwarze Kiste unbekannten Inhalts in ein Theater im kriegszerstörten Norden des Landes zu bringen. Dort angekommen, erinnert sich der junge Mann qualvoll an die bedrohliche Erfahrung während einer Demonstration, die offensichtlich eine posttraumatische Belastungsstörung auslöste und ihn zum gefühllosen Außenseiter machte.

Erst im Theater wird er sich seines Schmerzes wieder bewußt und lebendig. Und mit ihm das Publikum, das diesem dystopischen Verwirrspiel bis zu diesem Zeitpunkt mit derselben Mischung aus emotionaler Distanz und Ratlosigkeit zusieht wie die Figuren auf der Bühne selbst. Erst als Schauspieler Silvio Kretschmer seinen bewegenden Monolog eines jungen Demonstranten herausschreit, der sich couragiert und gleichzeitig angsterfüllt gegen die Staatsmacht stellt, springt der magische Funke des Theaters über: Sofort denken wir an Joshua Wong und all die anderen jungen Aktivisten, die auf den Straßen von Hongkong ihre Zukunft und den hohen Preis einer Gefängnisstrafe riskierten.

Die Pandemie vorausgeahnt?

Der Hongkonger Autor Pat To Yan hat seinen Theatertext "Eine kurze Chronik des künftigen China" 2015 unter dem Eindruck der Regenschirmrevolution geschrieben. Er ist selber Aktivist der Proteste gegen die chinesische Zentralregierung. Doch sein Stück will mehr sein als die Chronik einer Widerstandsbewegung. Mithilfe von allegorischen Tierfiguren und griffigen philosophischen Aperçus, die diesen plakativ in den Mund gelegt werden, versucht Pat To Yan das Lebensgefühl seiner Generation zu verdichten: Nichts ist so, wie es gesagt wird – alles könnte auch anders sein. Jeder lebt in seiner eigenen Timeline, Vergangenheit wird rekonstruiert, Erinnerungen umgeschrieben oder gleich ganz erfunden, Menschen werden zu angepassten Robotern und Puppen zu lebendigen Menschen. Es klingt wie die fernöstliche Antwort auf Blade Runner oder Matrix.

Verena Bukal (Die Katze mit einem Loch); Silvio Kretschmer (Der Außenstehende) | Foto: Martin KaufholdVerena Bukal, Silvio Kretschmer in Kostümen von Veronika Bleffert © Martin Kaufhold

Und in der Tat: Sätze wie "Wenn Sie hoch anpassungsfähig sind, macht das Überleben Ihre ganze Existenz aus. Es geht um nichts anderes mehr" klingen so, als ob Pat To Yan den Wettlauf zwischen Mensch und Corona-Virus bereits vorausgesehen hätte. Die philosophischen Ambitionen des Autors werden der Inszenierung am Saarländischen Staatstheater allerdings zum Fallstrick. Das zeitgeistige Konvolut unserer globalisierten und digitalisierten Erfahrungswelt bringt Regisseur Moritz Schönecker mit den ganz klassischen, analogen Mitteln des Theaters auf die Bühne. Da sitzen die Schauspieler als symbolische Figuren mit bildhaften Namen in chinesisch inspirierten Kostümen auf der Bühne und erzählen uns distanziert und lakonisch ihre zum Teil abstrusen Geschichten, von denen sie selber nicht wissen, ob sie ihnen trauen sollen.

Im geisterhaften Vergnügungspark

Der Grundtenor ist erwartungsgemäß und vordergründig düster: Schwarze Bühne, darauf liegen Untote in weißen Schutzanzügen (!) zusammengeschnürt wie Pakete, weiße Lichtstäbe erhellen kalt die Szenerie.

Vom TV-Bildschirm lächelt der Big-Brother-Chinese, im Wechselrahmen grüßt ein mysteriöses Skelett, ein Knochenhaufen lässt die Gegenwart von Tod und Verderben vermuten. Und wenn Schauspielerin Verena Bukal  im Ganzkörperanzug als "weiße Knochenfrau" oder mit kreisrundem Pappmachekopf  als Katze mit Loch im Bauch auftritt (Kostüme: Veronika Bleffert), dann kollidiert fernöstlicher Animismus gefährlich mit westlicher Faschingstradition.

Gaby Pochert (Antigone); hinten: Bernd Geiling (Der Mann, der Schmerz mitansieht) | Foto: Martin KaufholdAuch Antigone (Gaby Pochert) kommt noch zu einem musikalischen Auftritt © Martin Kaufhold

Als Zuschauer wähnt man sich schon bald in einem geisterhaften Vergnügungspark, in dem auch altbekannte RebellInnen wie Antigone auftreten dürfen und ihre Geigenkünste zum Besten geben. Warum, weiß keiner so genau. Überzeugender ist da schon das aalglatte Mitglied der Partei im metallisch glänzendem Anzug, den Jan Hutter mit abgefuckter Lässigkeit spielt.

Es ist ein denkwürdiger Abend: Nach monatelangem Lockdown öffnet das Theater endlich wieder und scheint anlässlich dieser Premiere den Glauben an sich selbst erst wieder finden zu müssen, so distanziert und lakonisch, so verschwurbelt und bedeutungsschwanger, depressiv und mitunter unfreiwillig komisch es sich uns Zuschauern hier präsentiert. Aber so wie das Stück mit einem Appell gegen die Mutlosigkeit und das Sich-Abfinden mit dem Ist-Zustand endet, so halten wir an der Hoffnung fest, dass auch das Theater nach der Pandemie zu seiner alten Stärke zurückfindet und der magische Funke, auf den Pat To Yan so sehr setzt, sich wieder entzündet.

 

Eine kurze Chronik des künftigen China
von Pat To Yan
Deutsch von John Birke
Inszenierung: Moritz Schönecker, Bühnenbild: Benjamin Schönecker, Kostüme: Veronika Bleffert, Musik: Kiko Faxas, Choreographie: Zufit Simon, Licht: Patrick Hein, Dramaturgie: Horst Busch.
Mit: Silvio Kretschmer, Bernd Geiling, Barbara Krzoska, Verena Bukal, Jan Hutter, Gaby Pochert, Martina Struppek.
Premiere am 11. April 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatstheater.saarland

 

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