Rückenschmerz nach der Wirtschaftswunderzeit

von Georg Kasch

Nürnberg, 24. Oktober 2008. AEG – Aus Erfahrung gut. Oder doch eher: Auspacken, Einschalten, Geht nicht? Die drei Buchstaben stehen in Nürnberg vor allem für das Ende eines der größten Arbeitgeber der Stadt. Und einen der gewaltigsten Streiks: Als Electrolux, der neue Eigentümer des Konzerns, 2005 die Verlagerung der Produktion Richtung Osteuropa und die Schließung des AEG-Werkes mit seinen 1760 Angestellten bekannt gab, protestierte die ganze Stadt. Erreicht wurden höhere Abfindungen und eine längere Übergangszeit. 2007 ging die letzte Waschmaschine vom Band.

Die Regisseurin Tina Geißinger hat nun den Fall aufgegriffen und daraus ein Dokumentartheaterprojekt über Arbeit und ihren Verlust gemacht. In "ArbeitsEnde:Gestern" am Staatstheater Nürnberg versammelt sie auf der Bühne der Tafelhalle zwölf ehemalige AEGler, die einen Kaffeetisch wie für da Vincis Letztes Abendmahl aufbauen.

Hier plaudern sie über alte Zeiten und stellen sich dem Publikum vor. Franz Schwarz kam zum Beispiel zur AEG, weil seine Mutter dort arbeitete. Karl-Heinz Binek, einst kaufmännischer Sachbearbeiter, vertreibt sich die Zeit heute mit Backen, Waschen und Bügeln. Und Pakize Iscözücü leidet noch immer unter den Rückenschmerzen, die sie sich am Fließband zuzog.

Mythos der glücklichen Arbeitslosen

Sie alle verbindet der Verlust nicht nur der Arbeit, sondern auch eines Stücks Lebenssinn. Geißinger hat aus den Texten einer Schreibwerkstatt mit Ex-AEGlern eine dokumentarische Collage gefügt, die Einblicke in das Leben von Fabrik-Arbeitern und Arbeitslosen gibt. Ihre Erzählungen, die scheinbar persönlichen Gespräche, ihre Anekdoten im Weißt-Du-noch-Ton werden mit Meldungen über den Niedergang des Nürnberger AEG-Werks und nackten Zahlen konterkariert: Von den 1760 Arbeitern fanden 660 eine neue Arbeit, 440 sind in Rente, 660 weiterhin arbeitslos.

Das ermüdet zunächst, weil der Charme des Gutgemeinten Grenzen hat. "ArbeitsEnde:Gestern" läuft fern jener Perfektion und intellektueller Tiefe ab, mit der Rimini Protokoll diese Art von Dokumentartheater salonfähig machte. Schon Friederike Baers Bühne – die lange Tafel auf rotem Teppich – erscheint reichlich bieder. Zudem versagt hier ein Microport, dort gibt es schlecht überspielte Hänger, klingen Texte arg auswendig gelernt.

Wunderkammer Waschmaschine

Und doch häufen sich die Momente, in denen sich aus dem nostalgischen Kaffeeklatsch lebendige Theaterminuten entwickeln. Einem eigenartigen Laut folgen weitere, bis eine polyphone Struktur aus nachgeahmten Maschinengeräuschen entsteht. Bau und Funktion einer Waschmaschine werden demonstriert, indem sich die Darsteller zusammenstellen und ratternd ein Demonstrationstuch rein waschen. Und aus Handgriffen des Kabelbaus entwickelt sich eine synchrone Tanzchoreografie.

Man erfährt berührende Details über die Arbeiter mit Migrationshintergrund (auf der Bühne sind das immerhin die Hälfte), über den Ablauf in einer Fabrik und über die Spätfolgen der Maloche (zum Beispiel lebenslang ruinierte Hände). Gegen Ende der 80 Minuten wird das Projekt deutlich: Aus dem Off verkündet eine Stimme, dass von den zwölf Darstellern auf der Bühne noch immer acht ohne Arbeit seien und Arbeitgeber sie gerne ansprechen dürften. Der Ansatz scheint utopisch (welcher Mittelständler geht schon mitten in der Krise zur Arbeitslosenschau ins Theater?). Und stellt einmal mehr die Frage nach der Aufgabe und Autonomie der Kunst. Oder sind solche lebenspraktischen Ansätze der Weg des Theaters, gesellschaftlich relevant zu bleiben?

50 Jahre Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgeht

Die Macher scheinen daran zu glauben. "ArbeitsEnde: Gestern" ist der Auftakt der Arbeitswoche "Vollbeschäftigung für alle", die von Montag bis Freitag im Straßenbahndepot Muggenhof unweit des ehemaligen AEG-Areals Akzente zum Thema setzen will. Mit dem Kauf der Eintrittskarte wird man Teil der Belegschaft: Während der Frühschicht lassen sich auf dem Markt der Arbeitsmöglichkeiten neue Jobs erfinden, im Streikzimmer gibt es eine AEG-Rückschau, in der Leihbücherei erzählen "lebendige Bücher" aus dem Arbeits- und Nichtarbeitsleben. Die Spätschicht offeriert als "Fortbildungsmaßnahmen" getarnte Podiumsdiskussionen und Lesungen, und in der Nachtschicht wird getanzt.

Ob das Arbeitslosen ihre Würde zurückgibt? Oder neue Arbeitsplätze schafft? Oder Herrn Weise von der Nürnberger Bundesagentur aufrüttelt? Vielleicht ist sind Projekt und Arbeitswoche auch nur die phantasievolle Antwort auf eine Frage Hannah Arendts von 1958: "Was uns bevorsteht, ist die Aussicht auf eine Arbeitsgesellschaft, der die Arbeit ausgegangen ist. Was könnte verhängnisvoller sein?"

 

ArbeitsEnde:Gestern
Ein Projekt von Tina Geißinger, Friedrike Baer und Sandra Hoffmann
Regie: Tina Geißinger, Bühne und Kostüme: Friederike Baer.
Mit: Sekine Bayrak, Mahmut Bayrak, Karl-Heinz Binek, Vincenzo Giurbino, Lara Güven, Pakize Iscözücü, Doris Knedlik, Evelyne Paegle, Petra Reichelt, Monika Schrade, Franz Schwarz, Süheyla Türk und den Stimmen von Julia Bartolome und Heimo Essl.

www.staatstheater-nuernberg.de

 

 

Kommentare  
ArbeitsEnde:Gestern: Zahlen stimmen nicht
Nürnberg, den 28.10.2008

sehr geehrte Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Georg Kasch,

Ihr Artikel zu dem Theaterstück ist zwar sehr interessant, aber die angegebenen Zahlen stimmen in keinster Weise mit der Wirklichkeit überein.

Wir sind eine Interessengemeinschaft und würden gerne erfahren, von wem die Angabe stammt, daß 440 von den ehemaligen 1760 Mitarbeitern nun in Rente sind!

Gerne hören wir von Ihnen und sind auch jederzeit zu einer Auseinandersetzung oder einem Gespräch bereit.

Mit freundlichen Grüßen

Eva Wenzl
ArbeitsEnde:Gestern: Zahlen so in Aufführung
Liebe Frau Wenzl,

die Zahlen wurden laut meinen Notizen so in der Aufführung genannt. Um einen eigenen Zahlendreher auszuschließen, werde ich mich beim Staatstheater erkundigen, welche Zahlen im Skript stehen.

Mit freundlichen Grüßen,
Georg Kasch
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