Der Zufall Unfall

von Andreas Schnell

Oldenburg, 24. Oktober 2008. Zum ersten Mal außerhalb Großbritanniens war gestern Abend das Stück "Mile End", das beim letztjährigen Edinburgh Fringe Festival den ersten Preis gewann, im Rahmen des Performing Arts Festivals "pazz" in Oldenburg zu sehen. Basierend auf der realen Geschichte von Christophe Duclos, der von einem psychisch Kranken vor eine U-Bahn gestoßen wird, schuf die junge Theatertruppe "Analogue" eine Inszenierung, die mit originellen Mitteln und dunklen Untertönen die Realität als Tragödie erzählt.

Während der knapp 60 Minuten des Stücks lernen wir beide Männer kennen. Der eine, Michael (Liam Jarvis), wird – ganz wie sein reales Vorbild – von dem Gedanken geplagt, er könne etwas Schreckliches tun, wobei seine Hilferufe an Freunde, an seine Psychiaterin, an die Polizei unerhört verhallen. Der andere, Alex (Sam Taylor), wird von Albträumen heimgesucht, in denen ein Mann vor einen fahrenden Zug geworfen wird. Dieser Mann trägt einen roten Schal – just so einen, wie ihn seine Frau Kate (Hannah Barker) vom Einkaufsbummel mitgebracht hat.

Ist Ahnung schon Vorbestimmung?

Das Pärchen, das augenscheinlich eine von den üblichen Härten des Alltags strapazierte Beziehung führt, gerät ob der düsteren Vorahnungen in Streit. Alex fürchtet um Kates Sicherheit und bewegt sie dazu, zuhause zu bleiben – und wird selbst zum Opfer. Am Ende stehen die beiden Männer auf einem Bahnsteig. Ein Zug fährt ein, Michael stößt Alex in den Tod.

Was in der Realität die Tat eines Mannes ist, der nicht bei Sinnen war, wird in "Mile End" (der Name der U-Bahn Station, in der sich das Geschehen ereignete) zu einer assoziativen, rauschhaften Erzählung, die schon bald keinen Zweifel daran lässt, was geschehen wird, und ihre Spannung aus der Unentrinnbarkeit zieht. Das Abdriften Michaels in den Wahnsinn, sein Verdacht, der Nachbar plane einen Mord, gesteigert zu der Annahme, er selbst sei jener Nachbar, und einer Vervielfältigung seiner Person einerseits, die Spannungen zwischen Alex und Kate, die Alex mit dem roten Schal neben Michael auf dem Bahnsteig stehen lässt, andererseits.

Unvermeidliches vermeiden wollen

Es geschieht das Unvermeidliche, befördert von mysteriösen, gesichtslosen schwarzen Gestalten, die immer wieder in das Geschehen eingreifen wie Göttergehilfen, aber auch für gewitzte Zeitlupeneffekte sorgen – und außerdem als Bühnenhelfer die wenigen Requisiten und Kulissenteile bewegen.

Mit sparsamen Lichteffekten, Musik und dem pointierten Einsatz von Videoprojektionen gleiten die Szenen traumartig ineinander, spielen teils parallel und skizzieren eher den Fortgang der Geschichte, als dass sie ihn analysieren. So bewegt sich "Mile End" schnell auf seinen Höhepunkt zu. Als Schlussbild sehen wir Kate und Michael. Sie erzählt in Reminiszenz an den Anfang des Stücks, wie alles begann: Da war ein toter Vogel, der vom Himmel gefallen war. Zugvögel fliegen um die ganze Welt. Sie finden immer wieder nach Hause. Nur sie komme nie irgendwo an.

Deterministische Vorstellung der Welt

So schwebt "Mile End" davon, getragen von atmosphärischer Dichte, raffinierten Regieeinfällen und einem überzeugenden, angenehm zurückhaltend agierenden Ensemble. Die Geschichte selbst ist weniger der Versuch einer Deutung der realen Ereignisse, sondern das Material für eine Meditation über Zufall, Entscheidungs(un)fähigkeit und Ohnmacht, erzählt von urbaner Isolation und der schicksalhaften Verkettung der Leben von völlig Fremden, die, wie von einem höheren Plan umhergeschoben, vom eigenen Wollen getrennt sind und sich der Welt entfremdet fühlen.

Darin bleibt "Mile End" letztlich einer deterministischen Vorstellung von Welt und Mensch verhaftet: Christophe Duclose musste sterben. Das Stück bleibt aber (trotz der schwarzen Figuren) leichtfüßig genug für die Annahme, dass es vielleicht doch so etwas wie Zufall gibt – als Abfolge in sich logisch notwendiger, sich gelegentlich in die Quere geratender Ereignisse.

 

Mile End
von Analogue
Künstlerische Leitung und Regie: Hannah Barker, Liam Jarvis, Produzent: Ric Watts.
Mit: Liam Jarvis, Hannah Barker, Sam Taylor, Lewis Hetherington, Daniel Tobin, Emma Jowett.

www.staatstheater.de


Mehr vom ersten Oldenburger pazz-Festival 2008 lesen: In Weetube bringt das kanadische Performance-Kollektiv Theatre Replacement MySpace-Kommentare auf die Bühne.

 

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