Schillernde Figur Erinnerung

von Stephanie Drees

Berlin / online, 17. April 2021. Die Erinnerung ist gewieft. Je mehr Emotionen sie an sich binden kann, desto größer die Chance, dass sie sich in den neuronalen Schichten der Hirnrinde festsetzen, dem Langzeitgedächtnis. Auf der Bühne steht eine junge Frau vor einer trüben, staubüberzogenen Glasscheibe und trägt die Schichten ab: Den Pinsel in der Hand, streicht sie weg, statt über.

Mosaik aus Lebensperspektiven

Unter der Staubschicht kommt ein Hochzeitsbild hervor. Ein glückliches Paar, das waren ihre Großeltern einst. "Ich erinnere mich daran, wie manipulativ Opa sein konnte", ruft sie, und: "Ich erinnere mich, wie Opa begann, sich für Oma zu schämen." Sätze, die sich in die Luft ritzen. Dazwischen, in Dauerschleife aus dem Off, die Worte der Großmutter, eingesprochen von der Enkelin. Gedehnt, kindlich, verletzlich: "Heinz, nach Hause!" Eine Bitte an den Großvater, flehentlich vorgetragen – Erinnerungen an die demenzkranke Großmutter, deren eigene Erinnerungen zu diesem Zeitpunkt immer weiter verblassten.

selbstvergessen 2 560 Arno Declair uVerschwimmende Lebensbilder: Greta Borg, Nike Strunk, Noa Rosa Nrecaj, Dimitrije Parkitny, Paula Aschmann, Lasse Kühlcke © Arno Declair

Es ist eine kluge Erzählkonstruktion, die sich Regisseur Gernot Grünewald am jungen DT, der Jugendsparte des Deutschen Theaters in Berlin, für die Produktion "Selbstvergessen" überlegt hat: Sechs Jugendliche im Alter zwischen zehn und 19 Jahren stehen auf der Bühne der "Box", einer kleinen Spielstätte des Hauses, und formen ein Mosaik aus Lebensperspektiven: denen ihrer Großeltern und den eigenen. Alle Omas und Opas haben oder hatten in ihrer letzten Lebensphase Demenz. Einige leben noch, manche sind bereits verstorben. Die älteste noch lebende Großmutter ist 90 Jahre alt. Vieles, was an diesem Abend passiert, basiert auf Interviews, die die Jugendlichen mit ihnen geführt haben und Material, was in familiären Archiven lagerte: Fotos, Videos, Tonaufnahmen.

Das  Ende des Erinnerns

Die Demenz durchdringt in beiden Generationen die Leben. Die Inszenierung, ein Livestream, beleuchtet dramaturgisch wie bildsprachlich die schillernde Figur Erinnerung. Sie ist nicht nur gewieft, sondern mitunter trügerisch, denn: Durch das Erzählen gestalten wir sie immer wieder neu. In Teilen schreiben wir uns selbst. "Ich wurde erwachsen, als mein Opa mich nicht mehr erkannte", sagt eine Spielerin in die Kamera, die mit großer Sorgfalt Geschichten in den Gesichtern der Jugendlichen findet. Und: "Ich wurde erwachsen, als mein Opa sich nicht mehr erkannte."

Was aber passiert, wenn das Erinnern an sein Ende kommt? Gibt es einen Ich-Kern, der bleibt? Wie erinnern die Enkel*innen, die am Anfang ihres Lebens stehen, die Großeltern? Wie verändert sich die Beziehung, was bleibt, nachdem Menschen gegangen sind? Was wollen die Spielerinnen erinnern, wenn sie selbst alt sind? All das sind große philosophische Fragen. Gernot Grünewald und sein jugendliches Ensemble schaffen es in dieser kompakten Inszenierung, sie auf spielerische Weise zu erden. Das liegt vor allem an zwei Punkten: Der radikalen Besinnung auf die individuelle, starke Bühnenpräsenz der Jugendlichen. Und einer atmosphärischen Dichte, die das Unmittelbare des Liveerlebnisses mit den Mitteln des Theaterfilms verbindet.

selbstvergessen 1 560 Arno Declair uBilder in Bildern fügen sich zum Mosaik in Zeit und Raum: Paula Aschmann © Arno Declair

Der Ort macht seinem Namen alle Ehre: Dunkel ist es in den meisten Ecken dieser "Box", das Licht wird punktgenau eingesetzt. Es geht um Schlaglichter. Nebeneinander angeordnet im Rund sind Glasscheiben in schwarzen Rahmen, sie überragen die Jugendlichen. Stehen die Spieler*innen vor ihnen, wirkt es, als würden sie in ihren eigenen, kleinen Kabinen weilen. Die Scheiben bieten Spiegelung, Projektionsfläche und trennen räumliche und zeitliche Ebenen. In einer Szene sitzt ein Spieler hinterm Glas, man hört die Stimme der Großmutter aus dem Off, während sie auf die Interview-Fragen antwortet. Nein, Angst vor dem Tod hat sie nicht, vielleicht lebt sie gar schon zu lange?

Starkes Spiel

Der Enkel imitiert Mimik und Gestik seiner Oma sanft komödiantisch. Es ist eine kleine Hommage, die leicht ins Chargenhafte, Überzogene hätte kippen können – genau wie die Masken. Anhand von Original-Fotos der Großeltern wurden sie von DT-Maskenbildner Mike Schmiedel gefertigt. Sehr genau sind sie gearbeitet, Gesichter werden lebendig. Sie verstärken das starke Spiel der Jugendlichen, die oft sie selbst sind, aber auch manchmal die eigene Oma, der eigene Opa. Gleichzeitig sind sie nie nur Großmutter oder -vater, wenn sie mit Ballons tanzen, die zuvor für eine Kindheitserinnerung standen. All diese Bilder sind gute Bilder, weil sie über die Figuren hinaus viel über ihre Spieler*innen erzählen.

Die Zeit, mit ihr wird hier im wahrsten Sinne poetisch-klug gespielt. Alle Momente sind gleichzeitig schon vergangen.

Das Jetzt, es ist immer auch Erinnerung.

 

Selbstvergessen
vom Anfangen und Aufhören
Eine Stückentwicklung von Gernot Grünewald und dem Ensemble
Uraufführung
Regie: Gernot Grünewald, Ausstattung: Michael Köpke, Musik: Daniel Sapir, Video und Bildregie Livestream: Thomas Taube, Licht: Heiko Thomas, Peter Grahn, Ton und Video szenisch: Leopold Stoffels, Dramaturgie: Birgit Lengers, Kamera und Videotechnik: Lennart Löttker, Jonas Klipp, Nora Josif, Head of Stream: Peter Stoltz, Sendeton: Bernd Schindler
Mit: Paula Aschmann, Greta Borg, Lasse Kühlcke, Noa Rosa Nrecaj, Dimitrije Parkitny, Nike Strunk
Premiere als Livestream am 17. April 2021
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten

www.deutschestheater.de

Kritikenrundschau

Im Inforadio vom rbb erinnert sich Ute Büsing (19.04.2021) an diesen Abend übers Erinnern und nennt ihn eine "behutsame Annäherung an die Krankheit Demenz". Bei der Abtastung der "Grundfragen von Leben und Tod" durch das junge Ensemble, gehe es auch um die Zukunft und die eigene Angst vorm Tod. "Der Erinnerungsraum weitet sich übers Private hinaus und das Publikum wird Teil davon. Sensibel fängt der Livestream einen einzigartigen Bühnenmoment ein."

Sehr unmittelbar sei diese Inszenierung, findet Barbara Behrendt im rbb Kultur (19.4.2021). Beispielsweise spreche ein Spieler ganz nah in die Kamera, als wären wir Zuschauende die Oma, die es zu überzeugen gilt, einen Besuch bei der Nachbarin abzuhalten. Dem Regisseur Gernot Grünewald sei es wichtig, dass live auf der Bühne erinnert wird. Und so mache das Theater hier, was es am besten kann: Gemeinsam erinnern, gemeinsam altern, "gemeinsam dem Tod einen Schritt entgegen gehen". Der Regisseur tue gut daran, den Abend immer wieder aus der Aura der Huldigung herauszuholen. Familienkonflikte und Leid werden thematisch gestreift, der Abend sei mit großer Empathie entwickelt. Stärker noch seien die Szenen, in denen die Jugendlichen bei ihren konkreten Erfahrungen blieben, in denen auch Befremdung spürbar werde.

"Was bedeutet erinnern? Was bedeutet vergessen? Was bleibt vom Selbst, wenn die Biografie verloren geht?", fragt nochmals Barbara Behrendt in der Deutschen Bühne (18.4.2021) und greift in einer zweiten, etwas längeren Rezension die Kernthemen der Inszenierung auf. Wenn die Jugendlichen an diesem Abend von ihren eigenen Lebensträumen erzählen, dann spiegele sich das Leben der Großeltern nur hier und da in ihren Sätzen. "Und vielleicht muss das so sein", schreibt die Rezensentin, schließlich sei die Zukunft nur ein klein wenig aufgeschoben.

 

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