In der Erklärschleife

von Lara-Sophie Milagro

20. April 2021. Als im März dieses Jahres die Ergebnisse der Studie "Vielfalt im Film" veröffentlicht wurden, war das eigentlich Erstaunliche, dass es kaum jemanden zu erstaunen schien, dass Vielfalt im deutschen Film nach wie vor ein frommer Wunsch ist. "Rassismus, Sexismus, Altersdiskriminierung" meldete die Süddeutsche Zeitung und merkte an: "Die Ergebnisse sind bitter, wirklich überraschend sind sie nicht". "Diskriminierung als Normalzustand" titelte die taz und die Nachtkritik veröffentlichte die Ergebnisse unter der lapidaren Headline: "Überraschend?" Mehr als 5.000 Filmschaffende verschiedener Gewerke hatten im letzten Jahr an der Studie teilgenommen, mehr als die Hälfte von ihnen gab an, am Arbeitsplatz rassistisch, sexistisch, aufgrund ihrer sexuellen Identität, Religion, sozialen Herkunft, gewichts- oder altersbedingt diskriminiert worden zu sein.

Diskriminierungserfahrung wird öffentlich

Auch unter Theaterschaffenden melden sich in immer kürzeren Abständen Menschen zu Wort, die mit ihren Diskriminierungserfahrungen an die Öffentlichkeit gehen. So macht 2019 die Schauspielerin Maya Alban-Zapata publik, dass sie im Jahr zuvor während ihres Gastengagements am Theater an der Parkaue in Berlin mehrfach rassistisch beleidigt worden war, ein gutes Jahr später berichtet die Tänzerin Chloé Lopes Gomes u.a. im Spiegel von rassistischen Diskriminierungen durch eine Ballettmeisterin am Berliner Staatsballett, im März dieses Jahres beschuldigen mehrere Mitarbeiterinnen der Volksbühne Intendant Klaus Dörr des Machtmissbrauchs und "sexueller Grenzüberschreitungen" und kurz danach macht Schauspieler Ron Iyamu seine Rassismuserfahrungen am Schauspielhaus Düsseldorf in einem WDR-Beitrag öffentlich.

17 NAC Kolumne Visual Milagro V3Initiativen, Petitionen, Forderungskataloge und Handlungsleitfäden gibt es freilich schon lange und zu Hauf. 2016 erschien die vom BKM geförderte Studie "Frauen in Kultur und Medien", die die Diskriminierung weiblicher Theaterschaffender klar benennt und empirisch belegt. Konkrete Forderungen hatte es sogar schon 2005 gegeben, anlässlich eines öffentlichen Hearings am Düsseldorfer Schauspielhaus mit dem hoffnungsvollen Titel "Theaterfrauen in Spitzenpositionen", das seitenweise Handlungsempfehlungen zur Förderung von Frauen am Theater hervorbrachte. "Gebracht hat's bis heute wenig bis gar nichts", so Regisseurin und Mitbegründerin von Pro Quote Bühne Angelika Zacek. Gerade wurden von Pro Quote Bühne unterstütze Anträge der Grünen auf eine "Quote für die Kunst- und Geschlechtergerechtigkeit in Kultur und Medien" im Bundestag abgelehnt. Trotzdem waren sich "weite Teile des Ausschusses bei der Analyse der Probleme von Frauen im Kulturbereich in vielen Punkten schnell einig", versicherte Olaf Zimmermann, Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates. Mich erinnert das an die Ansage in der telefonischen Warteschlange einer Theaterkasse, aus der man hundertprozentig raus fliegt, nachdem man 30 Minuten ausgeharrt hat: Wir bitten Sie noch um etwas Geduld, der nächste freie Platz ist bereits für Sie reserviert.

Und täglich grüßt der Vielfalt Talk

Anstatt konkrete Diversitäts-Maßnahmen umzusetzen, kreist die öffentliche Debatte immer noch vor allem darum, ob die Vorkommnisse, auf denen all die Studien, Zahlen und Erfahrungsberichte beruhen, überhaupt ein Problem darstellen. Der Kulturbetrieb hängt im "Erklär's mir noch mal, Sam"-Modus fest, die Rollen sind klar verteilt. So sind BPoC Theater- und Filmschaffende derzeit heiß begehrte Interviewpartner*innen für Vielfalt-Gesprächsrunden und Anti-Rassismus-Kampagnen kultureller Institutionen, nicht selten auch deren ehrenamtliche Diversity-Berater*innen und müssen im Zuge dessen immer noch und immer wieder die Fragen von vor zehn Jahren beantworten: Gibt es Diskriminierung am Theater? Was war dein schlimmstes Rassismuserlebnis? Eine asiatische Maria Stuart – geht das? Warum ist Blackfacing rassistisch? Ist es nicht auch diskriminierend, wenn Darsteller*innen ohne Behinderung jetzt keine Rollstuhlfahrer mehr spielen dürfen? Ist nicht die Streichung des N-Worts aus Kinderbüchern das Ende der Kunstfreiheit? Ist das N-Wort denn überhaupt so schlimm? Warum noch mal?

Warum geht es ausgerechnet in Film und Theater, wo so gerne gesellschaftliche Missstände anprangert und Utopien für ein besseres Miteinander entworfen werden, so quälend langsam voran, wenn es gilt, konkrete Maßnahmen gegen Diskriminierung über Lippenbekenntnisse hinaus umzusetzen? Warum unterschreiben viele weiße Theatermacher*innen jetzt erst online Petitionen gegen Rassismus an deutschen Bühnen oder solidarisieren sich öffentlich mit ihren Queeren Kolleg*innen? Ist ihnen Diskriminierung am Theater und am Set bisher nie aufgefallen? Warum haben nicht schon viel früher viel mehr Kulturschaffende – Schwarz oder weiß, Mann oder Frau, Queer oder nicht – strukturelle Diskriminierung an ihrem Arbeitsplatz öffentlich angeprangert?

Zum Heulen in die Garderobe?

Auch wenn es von weißen, männlichen, nicht-Queeren Kunstschaffenden gerne so dargestellt wird, als sei der Gang an die Öffentlichkeit derzeit in Mode, ja sogar karrierefördernd – es bedarf nach wie vor ungeheuer viel Mut und birgt große berufliche und private Risiken, Diskriminierung und Machtmissbrauch öffentlich zu machen. Denn es geht nach wie vor um Sprachdominanz, um das In-Frage-stellen, Nicht-ernst-nehmen, sarkastisch Kommentieren und Lächerlichmachen von Diskriminierungserfahrungen.

Beliebtestes Totschlagargument: denen, die es wagen, öffentlich über Rassismus oder Sexismus zu sprechen, wird mangelndes Talent und fehlende Professionalität unterstellt. So jüngst geschehen durch den Dramaturgen und Publizisten Bernd Stegemann, der dem Schauspieler Ron Iyamu nicht genügend Abstand zu seiner Rolle bescheinigte, weil dieser es als rassistisch empfand, bei der Probe zu einem Stück, in dem er einen ehemals versklavten, haitianischen Freiheitskämpfer spielte, als "Sklave" angesprochen zu werden. Gemäß dieser Logik, sollten sich Schauspielerinnen vielleicht darauf einstellen, demnächst im Arbeitskontext von ihren Regisseur*innen "Schlampe" gerufen zu werden, wenn diese meinen, das ergebe sich aus der Rolle. Wer damit ein Problem hat, kann ja in die Garderobe heulen gehen, sich bei der Diversitätsbeauftragten beschweren oder einfach mal begreifen, dass ja niemandem wirklich was passiert in der Kunst, ist ja schließlich ein safe space, alle tun ja nur so. Theater eben.

Homogenität und Macht

Nur wer Macht hat, kann (wirkungsvoll) handeln. "Handeln und Macht verweisen wechselseitig aufeinander (…). Sie haben ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis", brachte es Hannah Arendt einst auf den Punkt. Zwar stehen Einzelne als Intendant*in, Regisseur*in oder Ballettmeister*innen an der Spitze eines hierarchisch strukturierten deutschen Theaterapparats, der einigen Wenigen sehr viel Macht überträgt. Aber wie weitreichend und vor allem unantastbar deren Macht und Definitionshoheit innerhalb des Kulturbetriebs tatsächlich ist, ergibt sich nicht zuletzt aus der Macht der Gruppe(n), für die der Einzelne auch außerhalb des Theaters, in Politik und Gesellschaft, steht und die ihre Privilegien auf ihre Mitglieder übertragen.

Das Dilemma dabei ist, dass genau die Gruppen, die am meisten Macht und demgemäß Handlungsmöglichkeiten hätten, Anti-Diskriminierungsmaßnahmen flächendeckend umzusetzen, meist auch diejenigen sind, die am wenigsten Notwendigkeit dazu sehen. Schließlich hat es für genau diese Gruppen, mit den von ihnen etablierten Regeln, ihrer Definitionshoheit darüber, was schauspielerisches Können oder die beste Besetzung, künstlerische Freiheit, safe space oder (Un)Gleichheit ist, bisher wunderbar funktioniert. Das Beste daran: eine Legitimation ihrer eigenen Definitionshoheit erübrigt sich innerhalb einer weitgehend homogenen Führungsspitze ganz von selbst.

Damit Diversität und Gleichberechtigung im deutschen Film- und Theaterbetrieb nicht weiterhin im Schneckentempo voran schleichen, braucht es nicht nur (intersektionale) Diversität in sämtlichen Gewerken, sondern unbedingt auch Diversität in den (Macht)Strukturen. Solange sich Macht bei nur einigen Wenigen (Gruppen) konzentriert, wird eine weiße, männliche, nicht-Queere, nicht behinderte Minderheit der breiten Mehrheit der Kulturschaffenden auch in 100 Jahren noch erklären, was Kunstfreiheit ist.

 

Lara-Sophie Milagro ist Schauspielerin, in der Leitung des Künstler*innen-Kollektivs Label Noir, Berlinerin in der fünften Generation und fühlt sich immer da heimisch, wo Heimat offen ist: wo sie singt und lacht, wo sie träumt und spielt.


In ihrer letzten Kolumne schrieb Lara-Sophie Milagro über neue Prototypen der kulturellen Aneignung.

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