Zu Gast im eigenen Leben

von Valeria Heintges

St. Gallen, 21. April 2021. Regisseur Olivier Keller weiß selbst nicht recht, was er produziert hat. "Ein Theaterstück, erzählt für Bildschirm und Kopfhörer" lautet die offizielle Genrebezeichnung. Ein Film, der sich ein Theaterstück zur Grundlage nimmt. Ein wenig Hörspiel ist auch dabei, wenn Stimmen zu hören sind und dazu Gesichter, die den Mund nicht bewegen. Und doch ist es für einen Film zu viel Text und zu wenig Berührung. 

Abgesagt, verschoben, abgesagt 

Nun gut, das mit der Berührung lässt sich in diesen langen Wochen und Monaten schnell erklären. Doch die Vorgeschichte von "Schleifpunkt", dem Theaterstück von Maria Ursprung, ist nicht schnell erzählt. Eine Uraufführung gab es bis heute nicht, dafür aber eine fix-fertige, ungezeigte Inszenierung am Theater Graz, Regie: Marie Bues. Die musste vor ihrer Premiere (aber nach der Generalprobe) am 3. Oktober 2020 an den Autorentheatertagen am Deutschen Theater Berlin abgesagt werden: zwei Corona-Fälle im Team. Immer wieder gab es neue Premierentermine, sieben sollen es gewesen sein; immer wieder wurden sie verschoben.

                               Endlich im Kasten: Diana Dengler, Judith Cuénod © Jos Schmid

Gleichzeitig ließ sich das Team um Olivier Keller, Co-Leiter vom Theater Marie, von St. Gallens Schauspielchef Jonas Knecht überzeugen, die Arbeit direkt als digitale Variante zu denken und zu inszenieren. Die Herangehensweise und die "Nicht-Aufführungsgeschichte" sind so verrückt, dass dazu vier digitale Salons erdacht wurden. Drei sind bereits zu sehen: Einer mit Autorin Maria Ursprung zu Idee und Entstehung des Stücks und zur Förderung im Rahmen des Programms Dramenprozessor, einer zur Film-Theater-Hörspiel-Arbeit in der Lokremise St. Gallen und einer zur Aufführungsgeschichte vor der Premiere des Films. Der vierte erscheint am 21. Mai zur Finissage, darin soll über Erfahrungen mit dem Online-Theater berichtet werden.

In der Hand der Dauergästin

Das Ergebnis all dieser Irrungen und Wirrungen kann sich sehen lassen. Im Zentrum von "Schleifpunkt" steht Diana Dengler als Fahrschullehrerin Renate. In einem Moment der Unachtsamkeit entgleitet ihr die Kontrolle über ihr Leben, als sie eine junge Frau auf der Straße anfährt und diese, um die Sache zu vertuschen, mit nach Hause nimmt. Zuerst bleibt die Fremde einige Tage im gegenseitigen Einvernehmen. Dann wird immer klarer: "Sie", wie die namenlose Frau nur heißt, will nicht mehr gehen. Mehr noch: Sie übernimmt die Kontrolle über Renates Leben. Macht Tochter Rieke Mut, eine Forschungsarbeit im Ewigen Eis anzunehmen, ermuntert den Polizisten Rolf, einen Annäherungsversuch zu starten, und sorgt auch sonst für allerlei Veränderungen. Die allerdings sind Renate unlieb. Doch weiß sie, dass die Fremde sie und ihre berufliche Zukunft in der Hand hat.

Immer unklarer werden gleichzeitig die Verhältnisse, bis nicht einmal mehr sicher ist, ob diese fremde Frau existiert oder in Renates Vorstellungs- und Angstwelt herumgeistert. Maria Ursprung hält das konsequent in der Schwebe; schreibt aber gleichzeitig Dialoge, die die Redenden schmerzhaft aneinander vorbeirauschen und sich dabei gegenseitig tiefe Wunden schlagen lassen.

                               Was will die Fremde? Diana Dengler, Judith Cuénod, Tabea Buser © Jos Schmid

Für die Zwischenwelten findet das Inszenierungsteam immer neue Bilder: Da fliegen Schneebälle im Takt der Musik an Fensterscheiben, sind Trennwände mit Eisblumen überzogen, die die Schauspieler dahinter seltsam formlos und unwirklich erscheinen lassen. Da verschwindet Fahrschullehrerin Renate beinahe hinter ihrem großen, runden Mikro, das stark an ein Lenkrad erinnert (warum nur sitzt sie als Fahrerin, uns frontal anschauend, links von ihrer Tochter?) und wird vom Chor der Fahrschüler bedrängt. Deren Stimmen, zwei weibliche, eine männliche, wandern im Kopf(hörer) irritierend von links nach rechts und wieder zurück. Da reden die Akteure – coronabedingt und -konform – aneinander vorbei und im Split-Screen nebeneinander her und erhöhen nur die Irritationen in der Atmosphäre. Da stellt die Fremde den eigenen Unfall nach – und der Zuschauer vor dem Bildschirm rätselt: Liegt oder steht die Schauspielerin in dieser unendlichen Schwärze?

Sture Daseinskraft

Den Akteuren, vor allem Diana Dengler als Renate, gelingt es bewundernswert, den Weg vom Spiel auf der grossen Bühne zur Gesichtstotalen vor der Kamera zu gehen. Dengler nimmt man die Seelenqualen, denen sie ausgesetzt ist, voll ab, wenn sie steif vor Angst nervös die Finger knetet oder wütend dem Objektiv die Stirn bietet. Tabea Buser spricht Tochter Rieke faszinierend natürlich, als kämen ihr wirklich gerade die Worte in den Sinn. Judith Cuénod, als einzige Akteurin nicht Mitglied des St. Galler Ensembles, spielt die fremde "Sie" in einer Mischung aus luftiger, unfassbarer Materielosigkeit und sturer Daseinskraft. Matthias Albold gibt den Polizisten adäquat unspannend und beamtig. Als ihn Renate gedankenlos-brutal abserviert, offenbart sein Gesicht, wie tief verletzt er ist. In Momenten wie diesen zeigt das Film-Theater-Hörspiel, wie souverän es mit seinen Mitteln umgehen kann.

 

Schleifpunkt
von Maria Ursprung, erzählt für Bildschirm und Kopfhörer
Regie: Olivier Keller, Ausstattung: Beate Fassnacht, Sounddesign: Daniel Steiner, Video: Kevin Graber, Technik: Andreas Bächli, Dramaturgie: Patric Bachmann.
Mit: Diana Dengler, Tabea Buser, Matthias Albold, Judith Cuénod und den Stimmen von Anna Blumer, Moritz Bürge, Jeanne Le Moign.
Online-Premiere am 21. April 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten (Film)

www.theatersg.ch / www.theatermarie.ch / www.winkelwiese.ch www.buehne-aarau.ch

 

Kritikenrundschau

"Ins Theater zu gehen, ist natürlich etwas anderes. Aber dem Theater Marie gelingt es, statt einer Trostlösung aus der Not eine Tugend zu machen", schreibt Flavia Bonanomi im St. Galler Tagblatt (22.4.2021). "Schleifpunkt" büße gegenüber der Liveaufführung nichts an Intensität und Unmittelbarkeit ein. "Trotz der physischen Distanz ist man den Darstellerinnen und Darstellern beinahe näher als im Theaterraum. (…) Es wirkt so, als wäre dieses Spiel für einen selbst aufgenommen, dieser Film für einen höchstpersönlich gedreht worden."

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