Nur ein Ich

von Jürgen Reuß

Basel, 24. April 2021. Ein Schiff, eine Mannschaft, ein Wal, eine Welt – ein Mann. Eine Farbenlehre, eine Eroberungsideologie, eine Todessehnsucht, ein Massenwahnsinn. Ein blutiges Handwerk, ein Aufbegehren gegen die eigene Zugehörigkeit zur Natur, ein Arbeitsalltag an Bord, ein Konkurrenzklamauk der Nationen – ein Mann. Nennt ihn Jörg Pohl. Wow! Normalerweise wartet man mit dem Applaus bis zum Schluss, aber das Baseler Moby-Dick-Solo gehört definitiv zu den Theaterereignissen, die im Gedächtnis bleiben werden. Und sollte es diese Spezies, denen Texte im Internet nach dem ersten Absatz immer schon zu lang werden, tatsächlich geben, sollen auch die noch mitkriegen, dass das eine Inszenierung ist, die sie sich auf jeden Fall anschauen müssen.

Das Theater als Schiff

Dem Vernehmen nach sollen die beiden Co-Schauspieldirektoren Pohl und Antú Romero Nunes bei dieser Mitnahme aus Hamburg mal mehr Personen an Bord gehabt haben, bevor sie sie im Lockdown auf ein Solo eingedampft haben. Ohne den Vergleich aus eigener Anschauung zu haben, es kann nur besser geworden sein. Selten, dass ein 900-Seiten-Romanuniversum so umfassend, so auf den Kern verdichtet auf die Bühne gebracht wird. Und das, obschon gleich die ins kollektive Gedächtnis eingebrannte Romaneröffnung "Nennt mich Ismael" ausgelassen wird. Eine Auslassung, die programmatisch und damit essenziell ist. Melvilles Ahabismus kennt im Grunde nur ein Ich, und das ist nicht eines des überlebenden Erzählers, sondern eins, das sich mitten hineinwirft, das uns auf ewig von jedem neuen weißen Wal aus lockend zuwinkt, bis wir uns ahabisiert in unsere SUV und in die letzte Schlacht gegen die Natur werfen.

MobyDick 4 IngoHoehn uJörg Pohl in "Moby Dick" © Ingo Höhn

So ein Wahn braucht nicht viele Requisiten. Die Bühne ist schwarze Leere, bis auf ein paar Stapel Lagerware am Seitenrand, vielleicht eine Andeutung, dass am Ende alles als Tiefkühlkost auf den Tischen der Konsumenten landet. Der Kontrast zum Bühnenschwarz ist das Weiß, nicht nur das Weiß des Wals, sondern auch der weiße Fleck auf jeder Eroberungskarte, der ultimative Horror, den der Mensch nur als Gott des Gemetzels in die Blutfarbe des Besiegten tränken kann, um ihr den Schrecken zu nehmen, dass es etwas Größeres als ihn selbst geben könnte. Mit der auch in der kongenialen Übersetzung von Matthias Jendis beeindruckenden "Obschon"-Litanei springt die Inszenierung gleich mitten ins Buch, aber doch genau in den Motivationskern. Und Pohl macht von der ersten Sekunde an deutlich, dass er diesen Bühnenkosmos souverän beherrschen wird. Auch das Theater ist ein Schiff und Pohl sein Kapitän.

Das Publikum als Mannschaft

Sollte jemand es trotzdem nicht mitbekommen haben, nordet er mit einem kleinen Frage-Antwort-Spiel das Publikum unmissverständlich als seine Mannschaft ein. Und man folgt ihm gern. Beeindruckend, wie er allein mit Spritzflaschen auf rauer See einen Wal harpuniert, beiholt, den Heiligen Gral des Spermazets entnimmt, ihn zerlegt und mit Hilfe von ein bisschen Licht an Bord hievt und verstaut. Wasser und Blut, farblose Spritzflüssigkeit, rote Spritzflüssigkeit, mehr braucht es nicht, dass ihm wechselnd die Gischt in Gesicht schlägt oder das Blut unter Hauen und Stechen emporschießt.

MobyDick 1 IngoHoehn uWasser und Blut, alles eimerweise vorhanden © Ingo Höhn

Schaupielkäptn Pohl nagelt das Publikum mit seiner Präsenz auf die Sitze wie Ahab die lockenden Golddublone an den Mast. Er kann den Verführer zum Goebbels hochziehen, als Ekel Alfred parodieren, aber auch den Enzyklopäden vom Leherer Lässig bis zum faustischen "Habe ach"-Geseufze auffächern, um auch noch die von Melville dem Roman vorgeschaltete Wortkunde noch für die Bühne mitzunehmen. Manche Szenen kippen in lustigen Klamauk zwischen deutschem Walfangbürokraten und echten Pequodkerlen, mit eingestreuten Erläuterungen zum (un-)geschriebenen Fangrecht. Das gibt dem Publikum mal Luft zum Durchatmen, obwohl Pohl auch Pausen kann und Clownereien gar nicht nötig hätte. Aber er kann's, also warum nicht.

Der Wal als Schimäre

Wie bringt man so einen Entwurf zu Ende? Kann so einen Inszenierung dem allseits bekannten Gregory-Peck-Schluss entgehen? Sie kann, denn so wie es keinen "Nennt mich Ismael"-Anfang gibt, gibt es auch keine Moby-Dick-Endkampf-Ende. Stattdessen ein Spermazetorgasmus im Nebel. Das Weiß, das Pohl am Anfang beschworen, hat ihn erfasst. Der Wal bleibt das, was er selbst dann ist, wenn er auftaucht, eine Schimäre.

Großes Theater, nicht nur, was die schauspielerische Leistung angeht, sondern auch die geniale Romanadaption und die nicht minder geniale reduzierte Inszenierung. Wer zu den paar Dutzend Menschen gehört, die in Basel tatsächlich wieder live dabei sein dürfen, kann sich glücklich fühlen.

Moby Dick
nach Herman Melville, Übersetzung: Matthias Jendis 
Regie: Antú Romero Nunes, Bühne und Kostüme: Matthias Koch, Musik: Johannes Hofman, Rewert Lindeburg, Anna Bauer, Lichtdesign: Benjamin Hauser, Dramaturgie: Sandra Küpper, Kris Merken, Ton: Jan Fitschen, Robert Hermann, Video: Julian Gresenz, David Fortmann.
Mit: Jörg Pohl.
Premiere am 24. April 2021
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Hier die Nachtkritik zur Premiere von Antú Romero Nunes' Moby Dick-Inszenierung im September 2013 am Thalia Theater Hamburg.

 

Kritikenrundschau

Der große Showdown werde als Furioso aus Wasser, wuchtigem Sound, Nebel und Licht nachgezeichnet, so Dominique Spirgi im St. Galler Tagblatt (26.4.2021). Der einzig Überlebende, Jörg Pohl, kämpft sich durch Stürme und zwischenmenschliche Konflikte, "beeindruckend, welche Energie der Solist dabei an den Tag legt. Ruhige Momente gönnt ihm die Inszenierung nicht oder nur ganz zu Beginn." Nunes stelle hier einmal mehr sein Faible für die großen Stoffe der Weltliteratur unter Beweis." Der gesamte Theaterabend sei ein einziger Actionmoment, ein "rauschhaftes Spektakel", wie das Theater zurecht ankündigt. Aber, so Spirgi: "Dieses Dauerfurioso ist denn aber, so packend es auch ist, ein Makel des Abends. Es wird nicht so richtig klar, welche Geschichte oder Geschichten Nunes und Pohl erzählen wollen." Der innere Kampf und Krampf der Romanfiguren, der stetig schwelende und verzehrende Hass von Ahab auf den weißen Wal, die Ängste und die Verzweiflung der Mannschaft würden im Action-Furioso weitgehend untergehen.

 

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