Die traurigen Lieder der Ausweglosigkeit

von Jan Fischer

Lübeck, 30. April 2021. Ein einsamer, einarmiger Mann klettert in Rollschuhen die Bühne hinauf. Rollt vor der Projektion einer leeren Bühne in Richtung eines Plattenspielers. Zehn Tage nach seiner letzten Theater-Vorstellung, erzählt er, "wurde das Ghetto liquidiert". Und aus dem Plattenspieler dringt ein trauriges Lied.

Im Ghetto von Vilnius

Rückblende: Die Zeit tickt. Die russischen Truppen rücken näher, kaum 300 Kilometer sind sie vom jüdischen Ghetto in Vilnius entfernt. Das Ensemble des Ghetto-Theaters inszeniert ein letztes Stück. So lange sie spielen, sieht der SS-Führer Kittel von ihrer Erschießung ab. Der Chef der Ghettopolizei Jakob Gens feilscht mit Kittel um jedes einzelne Leben. Wer arbeitet, der stirbt nicht. Also besorgt Gens den Ghettoinsassen Arbeit – wird aber auch, um seine Position zu sichern, immer wieder zum Erfüllungsgehilfen Kittels und schickt Menschen in den Tod. Weniger als gewünscht – aber mehr als er erträgt. "Mit eigenen Händen habe ich in den Dreck gefasst", sagt er, als er von anderen Ghettoinsassen kritisiert wird, "damit ihr ein reines Gewissen habt."

Ghetto 4 560 Falk von Traubenberg uWill Workman als Erzähler Srulik mit der Puppe Lina © Falk von Traubenberg

Eine Dreiecksbeziehung enthält das Stück auch, denn sowohl Kittel als auch der schüchterne Puppenspieler Srulik und seine eher vorlaute Puppe Lina haben Interesse an der Sängerin Chaja. Chaja ist allerdings im kommunistisch inspirierten Untergrund-Widerstand gegen die Nazis aktiv, bastelt Bomben.

Mit der Schuld leben und sterben

Der israelische Dramatiker Joshua Sobol lässt Srulik – alt, einarmig, ohne Puppe – die Geschichte der letzten Vorstellung des Ghetto-Theaters im Rückblick erzählen. Mit Jacob Gens und seinem Gegenspieler, dem Bibliothekar und linken Aktivisten Herman Kruk, sind reale Personen und wahre Begebenheiten ins Stück gewoben. Die europäische Erstaufführung von "Ghetto" fand 1984 in der Regie von Peter Zadek an der Freien Volksbühne in Berlin statt – mit Ulrich Tukur als Kittel. 2006 wurde das Stück von Audrius Juzenas in einer deutsch-litauischen Produktion verfilmt.

Ghetto 3 560 Falk von Traubenberg uHeiner Kock als Herman Kruk, Ghetto-Bibliothekar, und Henning Sembritzki als Jacob Gens, Leiter des Ghettos, streiten über den richtigen Weg, das Ghetto zu überstehen. Auf der Bühne von Ramona Rauchbach. © Falk von Traubenberg

Malte C. Lachmanns für den Lübecker Stream abgefilmte Inszenierung konzentriert sich stark auf Gens und Chaja. Während im Ghetto-Theater Inszenierungen geprobt werden, ist Gens der Dreh- und Angelpunkt von Leben und Tod im Ghetto. Immer wieder rettet er Menschen – und schickt andere in den Tod. Verhandelt, feilscht, und kann sie doch nicht alle retten. Kann mit der Schuld nicht leben und versucht sich umzubringen. "Nach allem, was du getan hast, hast du kein Recht dir das Leben zu nehmen", sagt ihm die Schauspielerin Umah, verkörpert von einer Puppe.

Das Paradox des Widerstands

Im Bühnenbild häufen sich derweil die Toten – wo zunächst noch Stadtpläne und Landkarten an ein Stahlgestell geheftet sind, das an einen löchrigen Bauzaun erinnert, werden diese Stück für Stück ersetzt durch die Bilder ermordeter Kinder und Erwachsener – Tote, die Gens zu verantworten hat. Kinder, Alte – und zwei Mörder, die, verkörpert von Puppen, an dem Stahlgestell erhängt werden.

Ghetto 2 560 Falk von Traubenberg uIm Vordergrund: Kathrin Hanak als Sängerin Chaja und Andreas Hutzel als Nazi-Offizier Kittel © Falk von Traubenberg

Alles arbeitet, untermalt von traurigen jiddischen Liedern, meist gesungen von Chaja (Kathrin Hanak), auf eine grausam-paradoxe Situation zu: Denn am Ende verurteilt Chajas Gang in den Widerstand das ganze Ensemble zum Tod – auch die Kunst kann es nicht retten. Zwar gibt Kittel sich als Kunstconnaisseur, erschießt aber trotzdem alle, nachdem er bemerkt, dass Chaja nicht mit auf der Bühne ist. Allerdings nicht, ohne sich zunächst die letzte Vorstellung des Ensembles zu Gemüte zu führen, in der Srulik als Hitler mit rosa Haar, Glitzerhose und in Rollschuhen "Freude schöner Götterfunden" singt. Gens, der sich immer wieder mit Kittel gemein machen musste, um wenigstens ein paar Menschenleben zu retten, wird ebenso erschossen. Die mit dem reinen Gewissen und der mit dem unreinen: In "Ghetto" sterben sie alle. Es gibt keine Gewinner, außer vielleicht Kittel, der zwischen all den Leichenbergen und den Bildern der Toten ungesehen verschwindet.

Zwar gibt sich die Lübecker Umsetzung von "Ghetto" gern ein wenig absurd, gerade auch durch den Einsatz von Puppen – findet aber auch immer wieder auf den Boden der Ernsthaftigkeit zurück. Vor allem Andreas Hutzel als zähnefletschender Kittel, Henning Sembritzki als gebrochener, nach außen Härte auftragender Jakob Gens und der Gesang Kathrin Hanaks grundieren das Geschehen in der Grausamkeit, die die existenziellen Fragen hervorbringt: Widerstand leisten? Unheil gegen Unheil abwägen? Kapitulieren, weil man sowieso machtlos ist? Das sind die Fragen, die Lachmann aus "Ghetto" herausholt.

* Hinweis: Der Artikel wurde am 3. Mai 2021 aktualisiert. Die Figur des SS-Offizier Kittel trägt keinen Vornamen; was der Nachtkritiker im Stream als Holzgestell auf der Bühne identifizierte, war in Wirklichkeit ein Stahlgestell, wir haben das korrigiert.

 

Ghetto
von Joshua Sobol
Deutsch von Jürgen Fischer
Regie: Malte C. Lachmann, Bühne: Ramona Rauchbach, Kostüme: Tanja Liebermann, Medea Karnowski, Musikalische Leitung / Arrangements Willy Daum, Puppenbau / Beratung: Judith Mähler, Jiddisch-Betreuung: Martin Quetsche, Dramaturgie Anja Sackarendt, Stream Bildregie / Schnitt: Thomas Lippick.
Mit: Kathrin Hanak; Andreas Hutzel, Heiner Kock, Henning Sembritzki, Sven Simon, Vincenz Türpe, Will Workman, Musiker: Willy Daum, Tobias Hain, Edgar Herzog, Peter Imig.
Premiere im Stream am 30. April 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.theaterluebeck.de

 


Kritikenrundschau

Joshua Sobol schreitet "die Grenze dessen ab, wozu Menschen fähig sind. Vor großen Entscheidungen wachsen manche über sich hinaus, andere werden zu Zwergen. Und dritten wiederum geschieht beides zugleich", berichtet Peter Intelmann in den Lübecker Nachrichten (online 1.5.2021). Malte C. Lachmann habe den Text "nicht als bleiernes Lehrstück inszeniert, sondern als ein Kammerspiel, in das sich immer wieder Musik (Leitung Willy Daum) schiebt", wobei sich insbesondere Kathrin Hanak, als "großartige Sängerin" erweise.

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