Das Trauma der Verführung

von Andreas Wilink

Recklinghausen / online, 2. Mai 2021. Vielleicht können wir, mit unseren westlich geübten und getrübten Sinnen für den Sonnenaufgangs-Osten, diese Erzählung vom Begriff des Ausnahmezustands her betrachten. Dabei ist es gleichgültig, ob das im Meer schwimmende Japan die Auffassung teilt, dass jede Leidenschaft pathologischer Natur und also dem Menschen – ob Mängel- oder Überschusswesen – eingeschrieben sei. Das Werk von Yukio Mishima jedenfalls handelt vom Obsessiven, das größer ist als das, was Psychologie und kausale Logik davon verstehen, und öffnet sich hin zu anderen Räumen.

Unter der Kraft apollinischen Lichts

Eine Gestalt wie Mishima findet sich in der westlichen Literatur kaum. Schon deshalb nicht, weil der Antagonismus von Geist und Tat, der so häufig das unglückliche Bewusstsein europäischer Autoren prägt, bei ihm sich aufhebt und zur "Ethik der Tat" wird, wie es der Ehrenkodex der Samurai fordert. Mishima war ein Radikaler im politischen Sinn und in seinen Operationen am offenen Herzen: reaktionär und avantgardistisch, nationalistisch und kosmopolitisch; beeinflusst von der europäischen Dekadenz – Oscar Wilde, Baudelaire, Lautréamont, D'Annunzio und dem frühen Thomas Mann – wie von Japans Tradition; ein von Leibesertüchtigung besessener Athlet, Aktivist, Schauspieler, Krieger und Ästhet.

Seidentrommel 1 560 c Christophe Raynaud uGetrennt und vereint durch die Seidentrommel: Yoshi Oida und Kaori Ito © Christophe Raynaud de Lage

Die Faszination, die die Person, 1925 als Hiraoka Kimitake in die Oberschicht geboren und nahezu aristokratisch erzogen, vielleicht mehr noch als das immense Werk ausübt, liegt in ihrem Ambivalenten. Mishima ist uns nicht ganz geheuer. Ist er auch Japan nicht, obgleich dort zu seinen Ehren Gedichte verfasst, Preise vergeben und Denkmale errichtet werden. Seine von spirituellen Elementen durchspukte Philosophie beschrieb er als "kosmischen Nihilismus". Sein schillerndes Leben endete 1970 im rituellen Sterben, umgeben von Getreuen seiner Leibstandarte. Der 45-Jährige "Magnolienkaiser", wie ihn der Schriftsteller Hans Eppendorfer nannte, beging Seppuku, das heißt: entleibte sich zweifach, indem er sich mit eigener Hand den Bauch aufschlitzte und parallel köpfen ließ. Dem vorausgegangen war ein zum Scheitern verurteilter Putschversuch, mit dem er die gottgleiche Macht des Kaisers neu installieren und Japan zu sich selbst zurückführen wollte.

Aber in Schönheit! Alle Versuchungen, Aberrationen und Selbstzerfleischungen, Lustbarkeiten und Grausamkeiten haben zu geschehen unter der reinen und reinigenden Kraft apollinischen Lichts. Yukio Mishima hat die Verhaltenslehren der Kälte studiert und, wer weiß, nicht nur Nietzsche, sondern auch Carl Schmitt gelesen. Von Versuchung handelt auch "Die Seidentrommel".

Seidentrommel 280h ChristopheRaynauddeLage uDuett der Lockung: Kaori Ito und Yoshi Oida © Christophe Raynaud de LageDie Ruhrfestspiele unter ihrem Intendanten Olaf Kröck holen nicht nur geografisch weit aus, indem sie im Jahr ihres 75. Bestehens die französische Festival-Koproduktion einluden, die in Paris Premiere gehabt hat, und sie im Livestream präsentierten.

Zuerst denken die Körper

Auf dem im 14. Jahrhundert begründeten, sich unterschiedlichst entwickelnden, streng formalisierten Nō-Theater basiert Mishimas moderne Adaption, die für diese Inszenierung Jean-Claude Carrière angepasst hat und die in eine Theatersituation überführt wird. Dafür steht schon mit seiner künstlerischen Biografie der 87-jährige Yoshi Oida, berühmt geworden durch seine Arbeit mit Peter Brook und einst ein Freund Mishimas, der neben der Tänzerin und Choreographin Kaori Ito auftritt. Dies allein eine Sensation.

Der dramatische Korpus der "Seidentrommel" ist bis auf seine Spurenelemente reduziert und gewissermaßen rein spirituell anwesend. Hier denken die Körper, bevor sie diese Funktion an das Gehirn weitervermitteln. Die Grammatik der Gesten der zwei Darsteller sucht sich der westeuropäische Zuschauer in ihm vertraute symbolische Zeichen zu übersetzen. Missverstehen von Interaktion ist ja auch an der kulturellen Heimatfront gegeben, insofern bleibt ohnehin offen, ob das somatische Vokabular, das zu erfassen der eigenen Vorstellung obliegt, auch so gemeint ist. Mishima als jemand, der Platz nahm auf dem west-östlichen Divan, hat diesen Konflikt in sich selbst ausgetragen.

Ein alter Mann im Kittel-Mantel reinigt den Bühnenboden, während er den Dreisatz "Leiden – Geburt – Leben" mehrfach vor sich hinspricht, als würde er sich so in einen anderen Zustand rückversetzen. Ist er ein Wiederkehrer von Drüben? Eine rot gekleidete, stolze junge Frau kommt dazu, überprüft die Bühnentechnik und beginnt zur Musik einer Flöte zu tanzen. Probt Kaori Ito noch oder befindet sie sich schon in der Rolle? Diese Frage erfordert als Antwort kein 'entweder oder', sondern 'sowohl als auch'. Jeder Vorgang auf einer Bühne bedeutet Spiel. Sie zieht Yoshi Oida, dem der müde Rücken zu schaffen macht, in ihren Tanz, trainiert ihn.

Vision der Leere

Das Duett der Lockung endet mit ihrer Offerte: Wenn es ihm gelingt, die Trommel zu schlagen, dann... Das Instrument aber ist mit Seide bespannt – es bleibt tonlos. Er fühlt sich von ihr und der Welt der Dinge gedemütigt, verraten, entehrt. Und bringt sich um. Doch der Triumph der Verführung sucht sie zu scheppernden Klängen heim als Trauma. Als ihre Schuld, die der Schmerzensmann Oida – blutverkrustet, wölfisch heulend – verkörpert wie für Mozarts "Don Giovanni" der tote Komtur. Die Seidentrommel wird dabei für sie zum Relikt des Verdrängten, für ihn zur Waffe, für beide zu einer wie auf einem Miniatur-Altar platzierten Reliquie der Liebe.

Jede Sehnsucht, jede Schuld, jede Erinnerung, jede Trauer erfindet sich ihr Phantom – und ihre eigene Kunstwahrheit. Am Ende erweitern Oida und Ito den Dreiklang des Anfangs (Leiden – Geburt – Leben) in poetischen Reim-Versen um weitere existentielle Begriffe. Aus einem Transistorradio erklingt rhythmisch die Aufforderung zum Tanz. Auf der Bühne verlischt die einzige magische Glühbirne. Die Vision der Leere hat sich erfüllt.

 

Die Seidentrommel
nach Yukio Mishima
Text: Jean-Claude Carrière, Regie & Choreographie: Kaori Ito und Yoshi Oida, Musik: Makoto Yabuki, Kostüme: Aurore Thibaut, Licht: Arno Veyrat.
Von und mit: Kaori Ito und Yoshi Oida.
Deutschlandpremiere am 2. Mai 2021, Ruhrfestspiele digital
Dauer: 1 Stunde

www.ruhrfestspiele.de

Kommentare  
Seidentrommel, Ruhrfestspiele: Eleganz und Einfachheit
In der Choreographie, die Ito und Oïda gemeinsam entwickelten, stehen die Eleganz und die noch mitten im Leben stehende Kraft der Profi-Tänzerin den wesentlich unsichereren, schwerfälligeren, vom Alter gezeichneten Bewegungen des 87jährigen Oïda gegenüber, dessen Figur sich in die junge Frau verliebt, von ihr jedoch zum Narren gehalten wird.

Die sparsamen Textzeilen dieses recht einfachen Plots stammen vom französischen Schriftsteller und Drehbuchautor Jean-Claude Carrière, der die Premiere bei der coronabedingt in den Herbst 2020 verlegten Spezial-Ausgabe des Festival d´Avignon noch miterlebte, jedoch wenige Wochen später im Januar 2021 verstarb.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/02/die-seidentromme-ruhrfestspiele-recklinghausen-kritik/
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