Brandwalzen mit Wuschel

von Valeria Heintges

Zürich, 2. Mai 2021. Wo sind wir hier? Vordergründig ist die Frage leicht zu beantworten: Wir sind mit 50 Menschen in der Schiffbau-Box und sehen "Afterhour", die einzige Premiere, die das Zürcher Schauspielhaus in dieser Spielzeit noch zeigen wird. Regisseur: Alexander Giesche. Hintergründig sieht die Sache komplizierter aus: Denn dies ist kein Abend nach Motiven von, wie bei Giesches Großerfolg Der Mensch erscheint im Holozän, nach Max Frischs Erzählung. Wir wissen schon, dass keine durchgängige Geschichte serviert wird. Man solle, rät das Programmheft vor- und fürsorglich, "nicht nach logischen Verläufen" suchen, sondern "spekulativ assoziativ" bleiben.

Gasmasken im Anti-Club

Die Zuschauer sitzen auf Stühlen und kirchenähnlichen Bänken den vier Wänden der Schiffbau-Box entlang. In der riesigen Mitte des Raumes fünf Menschen, ganz in schwarz, im Halbdunkel. Alle fünf tragen eine Gasmaske und sind dadurch – weniger noch als wir bemaskten Zuschauer – kaum noch als Individuen erkennbar. Nur Maximilian Reichert, der größte von ihnen, hat eine Jacke an, auf deren Rücken "The Anti Social Social Club" (sic!) steht. Sie scheinen selbst nicht zu wissen, mit wem sie es da zu tun haben. Jedenfalls scheuen sie einander wie der Teufel das Weihwasser oder wie, um eines der großen Themen des Abends einzuführen, das Feuer das Wasser. Lange, sehr lange schwirren Karin Pfammatter, Teresa Vitucci, Thomas Wodianka, Daniel Lommatzsch und Reichert umeinander herum, suchen Nähe und wollen doch einander nicht nahekommen. Schauen sich nicht an, halten mehrere Meter Abstand, als hätten sie das Miteinander-Sein verlernt. Klar, denkt man da "spekulativ assoziativ", das ist die Afterhour dieser vermaledeiten Pandemie. Wir haben, bemaskt in allen Varianten, das Beieinandersein verlernt. Waren wir doch einander Feind. Als potenzielle Virusträger einander gefährlich und hoch suspekt.

Afterhour 1 560 c Eike Walkenhorst uDas Inferno in der "Afterhour" auf der Bühne von Nadia Fistarol © Eike Walkenhorst

Dann wummert ein Lied aus den Lautsprechern ins Dunkel. "I don't know what really happens at the end of the road", singt Nogo Erez. Klar, wer weiß schon, was passiert, wenn so eine Pandemie vorbei ist. Laut atmen die fünf in ihren Atemmasken. Ein riesiger Kreis aus Kameras arbeitet sich vom Schnürboden herunter. Nur ins Kreisinnere projizieren sie ihre Bilder von Vulkanausbrüchen, spuckenden Lavastrudeln und fließenden Lavabächen. Die Fünf stehen darum herum: Wärmen sie sich am Feuer? Verkennen sie die Gefahr? Trennt sie der Kamerakreis oder vereint er sie?

Rascheln und rauschen

Dann bringt, endlich, einer ein wenig Licht ins Dunkel. Und leuchtet den anderen, die nun etwas in großen Mörsern zerkleinern. Aber was? Und warum? Versuchen sie, Feuer und damit Licht zu machen? Sie produzieren nur Rauch. Es stinkt, aber hinter den Masken ist man nicht nur vor Viren, sondern auch vor Gestank geschützt.

Später werden die fünf ihre Gasmasken abnehmen, abgehen und mit einem "Wuschel" genannten Kostüm wiederkommen, in dem sie eine wilde Disko zelebrieren. Die Wuschel sind kopfüber mit schwarzen Bast- und Folienfäden bedeckt, die wild rascheln und rauschen, wenn der Mensch, der drinsteckt, tanzt. Und das tun die fünf ausgiebig. Es raschelt und rauscht, weht und wabert. Später werden sie sich, verschwitzt und außer Atem, gegenseitig, jede Abstandsregel missachtend, mit Massagepistolen bearbeiten. Eine Anspielung auf die Politik des Schweizer Bundesrates, der trotz steigender Fallzahlen auf Druck der Wirtschaft sehr weitgehende Öffnungen zuließ?

Afterhour 6 280 c Eike Walkenhorst uSchwitzen und trinken, nach dem Wuscheln, Rascheln und Rauschen  © Eike Walkenhorst

Noch später werden sie apokalyptische Feuerwalzen auf die Wände projizieren und das Publikum in Brandgeruch-Parfüm einnebeln. Sie werden sich – in Feuerwehrs-Montur – am Grill Würstchen grillen. Und dabei in Nebel eintauchen, der aus den Fugen der Bretter und dem Grill dringt. Währenddessen steigt ein Feuerwerk – oder sind es Schlachtgeräusche? Man weiß es nicht – und ist auch schon längst im Gedankennebel abgesoffen.

Verirrt im Assoziationsgewitter

Wieder spielt Giesche mit den Assoziationen der Zuschauer. Wie gut er das kann, durfte auch das Berliner Theatertreffen-Publikum erleben. Er hat viele Einfälle und kennt viele technische Gadgets. Doch dienen diese dieses Mal nicht einer Idee, sondern einer Vielfalt von Ideen. Und die kommen viel zu oft so uneindeutig und "spekulativ assoziativ" daher, dass sie sich gegenseitig erschlagen und konterkarieren.

Man sieht ein bisschen Pandemie-Aufarbeitung – aber nur den Blickwinkel derer, die sich dabei allzu sehr langweilten. Diejenige, die sich gleichzeitig halb tot arbeiteten oder gar die, die an der Krankheit starben, bleiben sträflich unerwähnt und unreflektiert. Man sieht auch sehr viel menschengemachte Klimakatastrophe, aber die Bilder von Feuerwalzen und Rauch und der Brandgeruch sind zu offensichtlich, regelrecht plakativ, als dass sie Wirkung haben könnten.

Am Ende endlich – der einzig verständlich gesprochene Text des Abends. Eine grauenerregende Beschreibung der Folgen des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf Indonesien. Selbst das Lied "Stille Nacht, heilige Nacht" wird dabei auf ihn zurückgeführt. Das ist der Zwangsläufigkeit zu viel. An fast jeder anderen Stelle hätte die dem Abend aber sehr gut getan.

 

Afterhour
von Alexander Giesche
Inszenierung: Alexander Giesche, Bühne: Nadia Fistarol, Komposition: Ludwig Abraham, Kostüme: Felix Siwiński, Video: Luis August Krawen, Produktionsleitung: Sandra Schudel, Licht: Christoph Kunz, Dramaturgie: Bendix Fesefeldt.
Mit: Teresa Vittucci, Karin Pfammatter, Maximilian Reichert, Thomas Wodianka, Daniel Lommatzsch.
Premiere am 2. Mai 2021 in der Schiffbau-Box
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhaus.ch


 

Kritikenrundschau

Andreas Klaeui vom Schweizer Rundfunk SRF 2 Kultur (3.5.2021) fühlt sich von diesem Abend "angeregt" und lobt ihn als visuelle Poesie. Die Produktion "hat zwar etwas Rauschhaftes, auch Immersives, also so ein sinnliches Eintauchen ist es, mit raumfüllenden Bildern und Musik, aber auch mit Düften zum Beispiel". Der Abend biete "Stimmungen, die behutsam ineinander übergehen, vieldeutige Stimmungen, die einen eigenen Sog entwickeln. Das heisst, die Szenen oder vielmehr Situationen entstehen langsam, das ist ein Theater, das sich viel Zeit nimmt, und zum Beispiel auch ausdauernd die Dinge zeigt, die das Theater sonst eher verbirgt, wie etwas aufgebaut wird, Töpfe, in denen sie ein Feuer zum Glimmen bringen, bis es raucht, oder ein Projektor, den sie aufbauen, um eine Feuersbrunst zu projizieren."

"Welche Geschichte hier erzählt werden soll? Wer so fragt, hat schon verloren. Empfinde, fühle, lass Dich fallen wie beim letzten Rave zum Technobeat", empfiehlt Daniele Muscionico im St. Galler Tagblatt (online, 3.5.2021): "Infernalische Bilder brennender Wälder, Feuerwalzen rollen auf einer Videowand auf uns zu, Holz bricht, knackt und verglüht, elektronisch in Brand gesetzt." Giesches Inszenierung sei eine "körperliche Hardcore-Session", die allerdings "verflixt hintersinnig, verdichtet assoziativ und brennend aktuell" daherkomme.

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