Philoktet - Theater Basel
Karneval mit Schmiere
von Andreas Klaeui
Basel, 4. Mai 2021. Am Ende schnallt sich Philoktet den nekrotischen Fuß wie einen Phallus vor den Damenslip und holt sich einen runter. Die schmerzende, schwärende Wunde, die bei Heiner Müller noch auf einen klaffenden Riss im System verwies, weist dieses System nun als machistische Selbstbefriedigung aus. Oder so.
Konfetti, Konfetti!
Neoptolemos rülpst dann noch das Alphabet, und dann ist Aus. Was Jan Bonny in Heiner Müllers Tragödie der Haltungen findet, ist erst mal die toxische Männlichkeit. Und dann der Karneval. Für den berühmten Prolog ("Was wir hier zeigen, hat keine Moral / Fürs Leben können Sie bei uns nichts lernen. / Wer passen will, der kann sich jetzt entfernen") greift Aenne Schwarz zu Fasnachts-Kostüm und Maske (oder Larve, wie man in Basel sagen muss), auch schon mit phallisch verlängerter Nase. Odysseus und Neoptolemos pfeifen dazu einen Basler Fasnachtsmarsch. Und überhaupt regnet es die ganze Zeit Konfetti vom Himmel.
Drei cis-weibliche Schauspielerinnen spielen die toxischen Männer, und sie rülpsen, furzen, saufen, was das Zeug hält. Sie blaffen sich mit aufgerauter Stimme im Kasernenton an und erfüllen auch alle weiteren sich anbietenden Klischees. Mit der Basler Fasnacht – diesem melancholischen Totentanz versonnener Trommler und Pfeifer in nächtlichen Altstadtgassen – hat dies freilich herzlich wenig zu tun; wenn schon eher mit dem schenkelklopfend sanktionierten Gendercrossing einer Humpta-karnevalistischen "Verkehrten Welt".
Kunst mit Kotze
Immerhin stinkt die soziale Wunde offenbar derart, dass es zum seriellen Kotzen aus mehreren Dutzend Einliter-Petflaschen kommt. Die Soldatenprolls verhandeln dann kumpelhaft mit der Bierdose in der Hand, diese dienen Odysseus auch trefflich zum Pissen auf Achilles’ Rüstung. Wenn er nicht gerade im klassischen Pissoir-Stil erigierte Glieder in das Erbrochene kritzelt.
Der Abend hat durchaus auch seine ruhigeren, konzentrierteren Momente. Nämlich immer da, wo er auf den Text hört: Dann entwickelt Heiner Müller zuverlässig und mit Akkuratesse seinen politphilosophischen Suspense. Namentlich Aenne Schwarz gelingt dies mit einer groß angelegten, viellagigen Studie über den Hass. Die hat Klasse, und sie läuft komplett neben der Spur, neben diesem Mainstream aus breit zermanschtem Konfetti und Sekreten. Den größten Abstand zu Heiner Müller markiert ja in der Tat dieser dauernde Konfettiregen. Philoktet im Karneval, auch darauf muss man erst mal kommen!
Philoktet
von Heiner Müller
Inszenierung: Jan Bonny, Bühne: Alex Wissel, Kostüme: Ulrike Scharfschwerdt, Lichtdesign: Stefan Erny, Roland Heid, Dramaturgie: Inga Schonlau, Kris Merken. Mit: Elmira Bahrami, Rosa Lembeck, Aenne Schwarz.
Premiere am 4. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
theater-basel.ch
Kritikenrundschau
In der bz - Zeitung für die Region Basel beschreibt Mathias Balzer (online, 6.5.2021, 05.00 Uhr) Jan Bonnys Zugriff als "die witzige, grenzwertige, aber auch doppelbödige Dekonstruktion dieser testosterongeladenen Kriegergeschichte" - und beobachtet, wie zu Beginn des "exzessiven Reiherns" erste Zuschauende kopfschüttelnd das Publikum verlassen. Sie hätten ruhig bleiben können, findet der Kritiker, denn es gehe doch einigermaßen textgetreu weiter. Das sieht er als Schwäche des Abends - der verdichtete Text mit "antikisierendem Ton" sei ermüdend. "Dieser Effekt verstärkt sich, wenn Elmira Bahrami ihren Odysseus gekonnt vernuschelt und ihre beiden Gefährtinnen ihre langen Monologe oft im schmerzerfüllt schreienden Drama-Ton rezitieren."
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