Es reicht schon lange

von Matthias Schmidt

Leipzig / online, 14. Mai 2021. Isabell kehrt aus der Stadt in ihr Heimatdorf zurück, nur zu Besuch, natürlich, und Sebastian, der das Dorf nie verlassen hat und sie seit der Schulzeit ohne Aussicht auf Erfolg verehrt, schwärmt ihr vor, er könne aus den alten Eisenbahnschwellen der stillgelegten Bahnstrecke Möbel bauen und zu überhöhten Preisen an die Städter verkaufen. "Auf sowas steht ihr doch! Stell' dich in Leipzig auf den Markt und die Leute reißen dir das Zeug aus der Hand. Aus dem wurmstichigsten Holz, das du hier nur noch zum Verfeuern verwenden würdest, machen die sich dort Regale und Schränke. Aber wir sind die Hinterwäldler!"

Ein Willy Loman aus der Ostprovinz

Eigentlich ist der Bahnschwellen-Witz gut. Zugleich ist er natürlich traurig, denn der größer werdende Riss durch die Gesellschaft, auf den er zielt, ist ganz real. Der Riss zwischen dem WIR und dem IHR, zwischen DENEN in der Stadt, wozu DIE Politik gehört, und UNS auf dem Land, zwischen Ost und West, zwischen Steaks grillenden Zeitarbeitern und veganen Start-up-Gründern, zwischen Querdenkern und Denkern. Und so weiter. Sogar durch Familien geht er, und Rietzschel beschreibt genau das.

widerstand leipzig 1 560 c schauspiel leipzig uNächtliche Tristesse: Tilo Krügel © Schauspiel Leipzig

Sein Stück spielt in einem Dorf bei Leipzig, das wahrscheinlich aber fast überall liegen könnte. Er beschreibt das Dorf und seine Situation in gewohnt starken, melancholischen Bildern, beinahe so, wie er es in "Mit der Faust in die Welt schlagen" getan hat.

Enrico Lübbes Inszenierung meidet von Anfang an jeden Anschein realistischen Spiels und tut gut daran. Kostüm und Maske überzeichnen Isabell, ihren Vater, dessen Geliebte, einen Nachbarn und Sebastian bis ins Artifizielle. Sie machen Puppen aus ihnen, damit sie keine Karikaturen werden. Denn auch Lukas Rietzschels Text nimmt sie ernst, den Vater, einen Willy Loman aus der Ostprovinz, und seine Kumpane, in denen sich Frust angestaut hat über die Jahrzehnte. Ebenso Isabell, die ihr Dorf verlassen hat, aber nicht davon lassen kann. Zerrissen auch sie. All das sind Qualitäten des Textes und der Inszenierung – allein, ein anschauliches oder gar ergreifendes Bild der Probleme "in der Fläche" will nicht entstehen.

Pathos und Ironie

Mag sein, es liegt am Medium, denn Lübbe präsentiert das Stück als Video, unterschnitten mit Autofahrten durch die nächtliche Tristesse eines Gewerbeparks, mit Slow-Motion-Effekten, weitgehend unterlegt mit einem monotonen Soundtrack von Peer Baierlein. Auch Baierlein vermag in der coronakleinen Besetzung nicht zu leisten, was er beispielsweise in Claudia Bauers 89/90-Inszenierung schaffte: der Inszenierung zugleich Rhythmus und Druck zu verleihen, ein bisschen Pathos und ein bisschen Ironie. Nur einmal kann man es erahnen, als die fünf Schauspieler aus dem "bumm-bumm" der Autos, die über eine alte Betonplattenstraße fahren, einen Chorus intonieren. Der Rest ist Untermalung.

widerstand leipzig 2 560 c schauspiel leipzig uDie Leute da draußen: Denis Grafe, Teresa Schergaut © Schauspiel Leipzig

Mag sein, es liegt auch an den überschminkten, hochkostümierten Figuren, die die emotionalen Feinheiten der Textvorlage allein wegen ihrer Künstlichkeit kaum herausarbeiten können. Oder daran, dass die Regieanweisung Stille, die Rietzschel oft in seine Dialoge eingebaut hat, ganz in der Art, in der Jon Fosse einst nach Kleinen Pausen verlangte, um den Raum zwischen den Sätzen zu betonen, in einer Bildschirmarbeit eben weniger gut umsetzbar ist. Wo 10 Sekunden Stille im Zuschauerraum Wunder hätten bewirken können, kommt in der Videofassung ein Bildschnitt. Und die Musik geht weiter, immer weiter geht es, eine Stunde ist kurz, die Bühne dreht sich unaufhörlich. Es ist schwer, Halt zu finden, in dieser Inszenierung.

Nicht zuletzt mag es auch daran liegen, dass manche der schönen Rietzschel-Gedanken eigentlich etwas zu gedrechselt sind für ein Stück vom Lande. Der zum Beispiel diese von Isabells Vater: "Ist ein Mensch in der Stadt doppelt so viel wert? Weil er keine beständigen Beziehungen hat, verschiedene Kinder von verschiedenen Partnern, weil er Ausländern begegnet, weil er fleischfrei isst, weil er in irgendwelchen Start-ups arbeitet? Ich weiß es nicht. Ich verstehe es nicht. Aber auf einmal ist das mehr Wert. Auf einmal ist das die Norm." Andererseits – geschenkt, auch Willy Loman hat solche Sätze von Arthur Miller mitbekommen.

Stück mit Botschaft

Was den Widerstand angeht, der sich im Dorf formiert, erst vage, später handfest, so positioniert sich Rietzschel deutlicher als im Roman "Mit der Faust in die Welt schlagen", wo er ganz bewusst die Lesart komplett dem Leser überließ. In "Widerstand" sorgt Isabell dafür, dass der militanter werdende Widerstand der Dorfleute, ihr Vater hat sich sogar schon eine Waffe besorgt, einerseits polizeilich beendet und andererseits auch bewertet wird. "Sowas passiert nicht, weil der Bus nicht kommt", lässt er sie sagen, "ich habe alles zu verstehen versucht. Habe geredet, geredet, geredet. Und zugehört und Mitgefühl gehabt, vielleicht manchmal Mitleid. Und ich habe alle Augen zugedrückt dabei. Als das losging mit dieser Sprache, mit diesen Hasstiraden und sogar, als die ersten Heime brannten. 'Du musst doch Verständnis haben', haben sie gesagt, und ich habe es versucht, wirklich versucht. Und jetzt das. Aber es reicht. Es reicht schon lange." Es ist ein Stück mit Botschaft, aber in erster Linie ist es ein Stück mit einem kenntnisreichen, trotz aller Verwerfungen und Schlagzeilen liebevollen Blick auf das Leben der Leute "draußen im Land".

 

Widerstand
von Lukas Rietzschel
Uraufführung
Regie: Enrico Lübbe, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Teresa Vergho, Musik: Peer Baierlein, Dramaturgie: Torsten Buß, Video: Kai Schadeberg, Fabian Polinski, Doreen Schuster, Gabriel Arnold, Ton: Ralf Ludwig.
Mit: Tilo Krügel, Teresa Schergaut, Dirk Lange, Annett Sawallisch, Denis Grafe.
Online-Premiere am 14. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 

www.schauspiel-leipzig.de

 

Kritikenrundschau

Im Deutschlandfunk Kultur findet Michael Laages (14.05.2021), das Schauspiel Leipzig habe gut daran getan, diesen Stückauftrag zu erteilen: Autor Lukas Rietzschel zeige seine Figuren "lakonisch und kalt", aber mit Geschichte und persönlichem Profil" und habe "den Alltagswesen richtige Geschichten gegeben, ein Schicksal." Der Theater-Film "taucht diese Mitleidlosigkeit in einfache, aber künstliche Bilder." Die Spielenden würden an Puppen erinnern, "aber zu Abziehbildern und grob gezeichneten Karikaturen werden sie nicht."

In mancher Hinsicht sei Lukas Rietzschels Stück eine Hommage an Didier Eribon, schreibt Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17. 5.2021). Gerade in seiner direkten, unmittelbaren Rede liegt für den Kritiker die Stärke des Stücks, das er als überzeugenden Versuch wahrnimmt, "das Drama in seinen Möglichkeiten der politischen Bildung ernst zu nehmen." Auch die Ästhetik der Inszenierung sei interessant. "Sowohl Bühne als auch Kostüm, das Auftreten und Ausstrahlen der Figuren sind stark orientiert an der hochgradig artifiziellen Bildsprache von Susanne Kennedy", deren Kostümbildnerin Teresa Vergho hier auch für Lübbes Leipziger Inszenierung arbeitete. "Erst durch den surreal flirrenden, unwirklich phantastischen Zug bekommt diese Provinzatmosphäre das, was sie in Wirklichkeit vermisst: das Zugeständnis, eine eigene Welt zu sein."

"In der klugen, glasklaren Regie des Intendanten Enrico Lübbe ist (...) eine eindrucksvolle Mischform entstanden, die Spielszenen auf der Bühne mit Videosequenzen außerhalb des Theaters inklusive Nahaufnahmen zusammenfügt", so Irene Bazinger in der MOZ (17.5.201). "Unsentimental" wie der Autor selbst zeige der Regisseur "dessen Figuren zwischen den Mühlsteinen der Geschichte". Das Ergebnis sei eine "bewegende Uraufführungsregie", so die Kritikerin.

"Lübbes Verweigerung jeder Spur von Realismus hat den Effekt des Doppelbödigen und Gespenstischen", schreibt Tobias Prüwer in der Freien Presse (18.5.2021). Das passe zwar "hervorragend zum hier abgehandelten Thema der Lethargie". Dennoch blieben die Figuren "oberflächlich" und die "in Rietzschels Stoff wohl angelegte Tiefenbohrung in unterliegenden Gesellschaftsschichten" misslinge, findet der Autor, der aber gleichzeitig das "Vordringen in die Spannung zwischen Stadt und Land" lobend hervorhebt.

 

mehr nachtkritiken