Bagatellisierte Gesinnungspandemie

von Michael Bartsch

Frankfurt am Main / online, 14. Mai 2021. "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!" Brechts viel zitierten Satz aus dem Epilog des "Arturo Ui" möchte man aktuell nur dahingehend modifizieren, das "noch" durch ein "wieder" zu ersetzen. Für die meisten Mitbürger mag der politische Klimawandel nur ein gefühlter sein. Hundert Minuten Film "NSU 2.0" des Schauspiels Frankfurt aber rufen eindringlich ins Bewusstsein, wie weit nationalistische Komplexe, rassistische oder frauenfeindliche Gesinnungen inzwischen wieder verbreitet sind. Es geht um die Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds, mehr noch um jene darauffolgenden Verbrechen, "die ohne Kumpanei so nicht möglich gewesen wären". "Es ist so leicht, in normalen Kreisen auf Gleichgesinnte zu treffen", sagt Stephan Ernst, der Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke.

Theaterfilm statt Bühnenstück

Am 26. März wollte Nuran David Calis ursprünglich seine Stückentwicklung zum Thema präsentieren. An der Bühnenfassung wird zwar unverdrossen weiter geprobt. Aber mehr als nur hilfsweise hat der filmisch in gleicher Weise begabte Regisseur seuchenbedingt nun eine Videofassung erstellt, die eindringlich vor einer meist bagetellisierten Gesinnungspandemie im Land warnt.

NSU2.0 3 Frankfurt 560 c Jessica Schäfer u"Gibt es einen Nährboden, auf dem das wächst?"  Ensemblebild auf Anna Ehrlichs Bühne © Jessica Schäfer

Mit der Festnahme des mutmaßlichen Verfassers von Nazi-Drohschreiben unter dem Titel "NSU 2.0" erst kürzlich im Mai hat sich der Anlass dieser Produktion aber keineswegs erledigt. Im Gegenteil. Hinter den Bluttaten vermeintlich einzelner Fanatiker stehen Netzwerke bis in Behörden hinein, stehen relevante Bevölkerungsgruppen, stehen Parteien. "Gibt es ein Hintergrundrauschen, gibt es einen Nährboden, auf dem das wächst?", benennt der Teaser auf der Homepage der Städtischen Bühnen Frankfurt die Kernfrage des Films.

Suggestive Alarmstimmung

Die besondere Leidenschaft, die manchmal ätzende Pointierung, mit der Calis dieser Frage nachgeht, könnte mit seinen Erfahrungen als Kind armenisch-türkischer Immigranten erklärt werden. Die drei Spieler Lotte Schubert, Torsten Flassig und Mark Tumba engagieren sich nicht minder intensiv, ohne zu agitieren. Entstanden ist erwartungsgemäß ein eminent politischer Theaterfilm, der am meisten durch seine dokumentarische Kraft überzeugt. Er muss seine Zuschauer nicht geradeaus auffordern, aber die zahlreichen Originalzitate der Mörder wie auch der Klimavergifter suggerieren eine notwendige Agenda des akuten zivilgesellschaftlichen, politischen und juristischen Gegensteuerungsbedarfs.

Nuran David Calis folgt dabei einer Methode, die schon Volker Lösch in seiner Dresdner Inszenierung Das blaue Wunder anwendete. Zitate von AfD-Größen wie Björn Höcke oder Alexander Gauland, aber beispielsweise auch frauenfeindliche von unbekannten AfD-Funktionären hätten es verdient, überall an öffentlichen Plätzen oder Autobahnen plakatiert zu werden, vertrauend auf die Urteilskraft der Bürger. Sie sprechen für sich.

NSU2.0 4 Frankfurt 560 c Jesssica Schäfer uAkuter Gegensteuerungsbedarf: Lotte Schubert, Torsten Flassig und Mark Tumba.  © Jessica Schäfer

In der vermittelten suggestiven Alarmstimmung, die ohne volkspädagogische Penetranz herüberkommt, liegt vielleicht die Besonderheit dieser aktuellen dramatischen Beschäftigung mit dem NSU-Thema. Denn der Film muss sich vergleichen lassen mit den rund zwei Dutzend Bühnenfassungen, die bereits versucht worden sind. Angefangen mit Mareike Mikats Abend "Unter drei" 2013 in Braunschweig über 'Beate Uwe Uwe'-Selfie Klick 2016 in Chemnitz bis hin zu dem für diesen Oktober geplanten bundesweiten Theater-Großevent Kein Schlussstrich zum zehnten Jahrestag des Auffliegens des NSU.

Der Frankfurter Film behandelt eine Schicksalsfrage, aber aus kammerspielartiger Lupenperspektive. Schauplatz ist ein unspezifiziertes Büro, analog einem überschaubaren Bühnenraum. Die Ausstattung mit Schreibtisch, Lampe oder Locher wird nur angedeutet. Kein Videoclip lenkt von den drei Spielern ab. Filmische Mittel werden nur sehr sparsam eingesetzt, selten eine Bildteilung oder eine Blende, häufiger schon Schnitte auf Nahaufnahmen der Gesichter. Deren Augenlider sind oft mit künstlichen Augen überschminkt, es entsteht beim Schließen ein zweiter, starrer, erschreckender Blick.

Sie warten, bis wir wieder schlafen

Zu lang geraten, weil schon vielfach seziert, ist das erste Kapitel um den NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe. Die Vernehmung des Lübcke-Mörders Stephan Ernst wiederum vermittelt ebenso wie der dritte Teil zum Massaker in der Hanauer Sisha-Bar 2020 treffend die Milieus, mit denen die Täter umgingen. Häufig wechseln die Spieler aus der Darstellerrolle einer authentischen Figur in die kommentierende und verlangen so den Zuschauern einiges ab.

NSU2.0 1 Frankfurt 560 c Jesscia Schäfer uKammerspielartige Lupenperspektive: Torsten Flassig, Lotte Schubert und Mark Tumba  © Jesscia Schäfer

Das gilt auch für Fakten und Zusammenhänge, deren Kenntnis Regisseur und Autor Calis vielfach voraussetzt. Politiker der Grünen, Linken und der SPD, die die Ereignisse kommentieren und kontrapunktieren, werden erst im Abspann namentlich genannt. Cem Özdemir beispielsweise, der sich entsetzt über die Ahnungslosigkeit so genannter Sachverständiger im Prozess gegen den Synagogenattentäter von Halle äußert.

Einer Art Zusammenfassung, eines Fazits am Schluss hätte es schon gar nicht mehr bedurft: Es handelt sich nicht um Taten einzelner Irrer, wie sie auch von der Justiz gelegentlich so isoliert gesehen werden. Und die Gefahr ist mit dem Abschluss von Prozessen nicht vorüber. "Sie warten, bis wir wieder schlafen, und schlagen dann zu", lautet die Warnung.

 

NSU 2.0
Film zum geplanten Theaterstück am Schauspiel der Städtischen Bühnen Frankfurt
Regie und Text: Nuran David Calis, Bühne: Anne Ehrlich, Kostüme: Anna Sünkel, Video und Recherche: Gregorian Karnik, Komposition und musikalische Einrichtung: Vivan Bhatti, Kamera und Schnitt: Shabnam Nimi Divingele, Dramaturgie: Alexander Leiffheidt.
Mit: Torsten Flassig, Lotte Schubert, Mark Tumba.
Online-Premiere am 14. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde und 30 Minuten

www.schauspielfrankfurt.de

 

Kritikenrundschau

Ästhetisch funktioniere die Inszenierung auch als Stream überraschend gut, findet Rezensentin Eva-Maria Magel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (17.5.2021). Der karge Raum der Kammerspiele eigne sich auch als Filmset – und die Monologe der Täter "entfalten ihren Schrecken". Wenn die Performer*innen über Schutzräume von gesellschaftlich Ausgegrenzten sprechen und zwischendurch rassistische Sprüche von AfD-Mitgliedern zitiert werden, füge sich das zu einem "stimmigen Bild". Es offenbare die Inszenierung auch, was im gesellschaftlichen Diskurs fehle, meint die Rezensentin: ein Sich-Stellen gegenüber der Komplexität des Themas, dem, "was zwischen dem vermeintlich Eindeutigen liegt". Sie schließt mit einer Hoffnung, die gleichzeitig als Lob für den Abend verstanden werden kann: Vielleicht sei das Theater ja einer dieser Diskursräume.

In der Allgemeinen Zeitung (17.5.2021) beschreibt Johanna Dupré den Abend als von "einer unterschwelligen Alarmstimmung durchzogen" und vermutet, dass diese im Theaterraum noch stärker wirken dürfte, als auf dem Bildschirm. Der Regisseur und die Performer*innen stellen laut der Kritikerin unsere Gesellschaft in der Inszenierung auf den Prüfstand. "Verzeihen" möchte sie Calis, dass er manchmal an diesem Abend "über die Strenge schlage" und Bilder entwerfe, in denen der NSU "Dr.-Mabuseartig in den Schatten fortbesteht und geheime Aktionen plant". Denn: Noch wirkmächtiger sei das Bild, dass es sich bei den Gewalttaten des NSU um Einzeltäter*innen gehandelt habe – und nicht um ein Netzwerk.

 

 

 

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