"Ich singe Homer und bin nicht blind"

Von Andrea Heinz

17. Mai 2021. Die "Tyrannei der Beleidigung erstickt uns. Es ist Zeit, Luft zu holen und von neuem zu lernen, die Gleichheit zu verteidigen, ohne der Freiheit zu schaden" – so endet Caroline Fourests "Generation beleidigt", ein schmales Büchlein, das sich mit dem "wachsenden Einfluss linker Identitärer" auseinandersetzt, 2020 im französischen Original erschienen ist und rasch ins Deutsche übersetzt wurde (Edition Tiamat).

Fourest kommt aus dem Umfeld der linken Satire-Zeitung Charlie Hebdo, war mit Opfern des islamistischen Anschlags von 2015 befreundet. Sie ist Schriftstellerin und Filmemacherin, lehrt an der Sciences Po über das schwierige Verhältnis von Multikulturalismus und Universalismus, und sie ist bekannt für ihr überzeugtes, engagiertes und lautes Eintreten für ur-französische Werte: Freiheit, Gleichheit, Laizismus.

Verbotene Frisuren und Yoga-Übungen

Die auch nicht mehr ganz so neue, aber in jüngster Zeit noch einmal erstarkte Bewegung linker Identitärer sieht Fourest als Bedrohung – und man kann ihr, liest man dieses Buch, kaum widersprechen. Unter fortwährender Betonung ihrer eigenen universalistischen, republikanischen Haltung prangert sie vor allem eine "woke" Jugend an, die Mikro-Aggressionen und cultural appropriation beklagt, Triggerwarnungen und Safe-Spaces einfordert und ihre Vorstellungen von Antirassismus (der oft in rassistischem Essentialismus besteht, nur eben diesmal auf "die Weißen" bezogen) mit Sprechverboten, Zensur und Segregation durchzusetzen sucht.

Fourest häuft jede Menge Beispiele an, von verbotenerweise angeeigneten Frisuren (die berühmten ukrainischen Zöpfe der Katy Perry), Yoga-Boykotten in Kanada oder fehlerhaft umgesetzten Kochrezepten (zu größerer Bekanntheit gelangte hier der Fall von Jamie Olivers Gewürzmischung). Vieles hat eher anekdotische Qualität, manches, wie Postings einzelner Personen, wenig Aussagekraft. Anderes, wie die Geschichte, die sie im Kapitel "Der Alptraum von Evergreen" erzählt, verstört. An der als links geltenden Universität Evergreen im Bundesstaat Ohio spielten sich 2017 Szenen ab, über die Fourest schreibt: "Man hatte das Gefühl, in eine sadistische Reality-Gameshow geraten zu sein."

Student*innen beleidigten, beschimpften und demütigten in einem stundenlangen Plenum den Universitätspräsidenten, einige Dozent*innen wurden in einer Buchhandlung "als Geiseln" festgehalten, um ihre "weißen Privilegien zu reflektieren". Einem Dozenten der Universität, einem jüdischen Bürgerrechtler, wurde beschieden: "Deine weißen Begründungen sind uns scheißegal. Dies ist keine Diskussion, du hast dieses Recht verwirkt!" Man fühlt sich ein bisschen an Maos Kulturrevolution erinnert, oder an die Rote Armee Fraktion in ihrer selbstgerechten, scheinheiligen Brutalität.

Cover Fourest 560Ein Potpourri von Fällen

Es ist schade, dass Fourest mit wenig Trennschärfe arbeitet und unterschiedlichste intersektionale Phänomene in den großen Topf der identitären Linken wirft. Auch an Ursachenforschung hat sie kaum Interesse. Sie bringt Beispiele von feministischem, anti-sexistischem oder anti-rassistischem Engagement, dazu immer für Empörung gute Fälle von Cancel Culture und solche, die man eigentlich schlechterdings nicht mehr als Engagement (ob links oder nicht), sondern nur noch als persönliche Befindlichkeit wahrnehmen kann – etwa, wenn eine Studentin in der Kantine beklagt, dass ein Gericht aus ihrer Heimat nicht rezeptgetreu nachgekocht wurde. Ist das schon Identitätspolitik?

Diese Beliebigkeit macht es schwer, die Problematik wirklich einzugrenzen, geschweige denn zu verstehen. Denn wo diese links-identitäre Politik und Haltung herrühren, die angeblich vor allem die junge Generation befallen, welche soziologischen oder psychologischen Gründe es dafür gibt, was womöglich die zunehmende digitale Vernetzung oder eine wachsende existentielle Bedrohung durch den Klimawandel damit zu tun haben, zu all dem fällt Fourest leider wenig ein. Lieber spricht sie gern und häufig von einem "Kampf", von Gefahr, dem "Bösen" und recht pauschal von "Verleumdern" und der "extremen Dünnhäutigkeit der jüngeren Generation", die durch ihre dogmatischen und restriktiven Ansichten der extremen Rechten in die Hände spielen würde – was zwar nicht ganz falsch ist, aber auch eine Schuldumkehr.

Botschafter des Universalismus

Dabei hat Fourest zweifellos recht in ihren Befürchtungen, verunmöglichen linke identitäre Positionen doch (genau wie rechte, übrigens) zunehmend Diskussion, Auseinandersetzung, Verständigung. Vielfach auch so etwas wie Kompromisse, Einübung in gegenseitigem Verständnis, Empathie.

Hier kommt nun die Kunst ins Spiel: Als Filmemacherin liegt Fourests Fokus natürlich eher auf dem Kino, das ihr als "mächtiger Botschafter des Universalismus" gilt (im Kapitel "Castings auf Grundlage von DNA-Tests?"). Aber auch das Theater ist in den Blickpunkt linker Identitärer geraten. Fourest berichtet über eine Aufführung von Aischylos' "Schutzflehenden", die durch Antirassisten verhindert wurde (man denke an die rechten Identitären, die in Wien eine Aufführung Jelineks "Schutzbefohlener" störten!), und von einem Stück, das Théâtre du soleil zusammen mit Robert Lepage umsetzen wollte. Es sollte in diesem Stück um das Leid von Ureinwohner*innen gehen, was wiederum Ureinwohner*innen auf den Plan rief, die beklagten, zwar gefragt worden zu sein, aber nicht mitmachen zu dürfen. Sie verwiesen auch darauf, dass der kanadische Staat in diesem Fall sogar Zuschüsse gewähren würde.

Verwandlung und Empathie

Bemerkenswert ist hier vor allem, was die jeweiligen Regisseur*innen zu diesen Angriffen zu sagen hatten. Ariane Mnouchkine ließ in einem Interview verlauten: "Kulturen sind nicht das Eigentum von einzelnen Menschen. (...) Die Kulturen, und zwar sämtliche Kulturen, gehören uns allen, sie sind unsere Quellen und in gewisser Weise auch heilig." Sie verweist in diesem Zusammenhang auch auf so banale zwischenmenschliche Tugenden wie Respekt, etwas, das in diesen ganzen Debatten kaum noch vorkommt.

Der Regisseur der "Schutzflehenden", Bernard Surugue, sagte: "Das Theater ist ein Ort der Verwandlung, keine Zuflucht der Identitäten. Das Groteske hat keine Farbe. Die Konflikte unterbinden die Liebe nicht. Man nimmt den anderen auf und wird selbst im Laufe der Aufführung zu einem anderen. (...) In 'Antigone' lasse ich die weiblichen Rollen von Männern spielen, und zwar auf altertümliche Weise. Ich singe Homer und bin nicht blind. Ich lasse die Perser in Niamey von Nigerianern spielen, meine letzte persische Königin hatte schwarze Haut und trug eine weiße Maske." Auf der Bühne kann, zumindest im Idealfall, jede*r alles sein – was, folgt man einer klassischen Gerechtigkeitstheorie, im besten Fall dazu führt, dass man sich solidarisiert, Empathie entwickelt und für Bedingungen sorgt, die für alle gerecht sind. Soweit die Theorie.

Fourest hat, leider, eher wenig dazu geschrieben, wie man denn die eingangs erwähnte Freiheit und Gleichheit verteidigen und – so wäre zu ergänzen – überhaupt definieren und aushandeln könne. Das Theater wäre dafür prädestiniert. Es könnte ein Ort sein, an dem Identität nicht festgeschrieben und in einem ewigen Kampf verteidigt werden muss. Es könnte zeigen (und tut das im besten Fall!), wie man ein produktives Spiel daraus macht.

 

Generation beleidigt
Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss linker Identitärer. Eine Kritik.
von Caroline Fourest
Aus dem Französischen von Alexander Carstiuc, Mark Feldon, Christoph Hesse.
Edition Tiamat, Critica Diabolis 284, 144 Seiten. 18.- Euro

 

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