Licht in der Finsternis

von Thomas Rothschild

18. Mai 2021. Im österreichischen "Standard" dichtete Doron Rabinovici dieser Tage: "Ohne Burgtheater wäre es finster um uns." Meint er, seit er zu dessen Autoren gehört? Jedenfalls lässt sich die Behauptung bei genauerer Betrachtung so pauschal nicht aufrecht erhalten. Wessen Gedächtnis zurückreicht in eine Zeit vor Claus Peymann und Achim Benning, der wird sich noch gut an Zustände erinnern, in denen das Burgtheater wenig beigetragen hat zur Erhellung seiner Umgebung. Das hohle Pathos verstaubter Klassikerinszenierungen, nur gelegentlich aufgelockert durch einen streng nach Vorschrift zelebrierten Nestroy, sorgte für Ödnis und künstlerischen Stillstand.

Die wenigen Lichtblicke kamen nicht aus der Beletage am Ring, sondern aus dem Keller, namentlich von Conny Hannes Meyers brechtianischen "Komödianten" am zwei Straßenbahnhaltestellen entfernten Börseplatz. In diese Finsternis, die im Burgtheater und drum herum herrschte, schlug 1965 ein Bühnenereignis ein wie eine Bombe: das Gastspiel des 1947 gegründeten Living Theatre aus New York mit Mysteries and smaller pieces und The Brig im Theater an der Wien.

The Artists are present

Es waren zwei Komponenten, eine inhaltliche und eine formale, deren Zusammentreffen eine unerträgliche Provokation für die Sehgewohnheiten bedeutete: die radikale, auf Positionen des Anarchosyndikalismus, des Pazifismus und des gewaltfreien Widerstands basierende Auseinandersetzung mit der politischen Gegenwart, einer Welt des Krieges, der Folter und der Allmacht des Geldes, und eine kompromisslose Körperlichkeit, die beim Wort nahm, was andere nur gefordert hatten.

living theatre 560 beck malina c bernd uhlig hJudith Malina und Julian Beck beim Scensommar Festival in Stockholm 1982: beide hatten hatten zu einem Gespräch eingeladen, um die Arbeit des Living Theatre zu erläutern und Fragen zu beantworten.© Bernd Uhlig

Unvergessen der Schock, als sich die Ensemblemitglieder zu einem Leichenberg anhäuften, derart mit einem Bild an Auschwitz gemahnend, das man damals nur aus Nacht und Nebel von Alain Resnais kannte. Ein Jahr später, 1966, gastierten drei Arbeiten bei den Berliner Festwochen. Die Berliner Festspiele widmen der Gruppe im Rahmen des Theatertreffen nun einen eigenen Schwerpunkt und parallel erscheint in diesen Tagen der Band Das Theater leben mit Schriften des Living-Theatre-Mitgründers Julian Beck aus den Siebzierjahren.

Kompromisslos körperlich

Mit dem vulgärpsychologischen Fernsehrealismus zahlreicher neuerer Theaterstücke hat der erbarmungslose dokumentarische Naturalismus des Living Theatre nichts zu tun. Er unterscheidet das Bühnenereignis von der Banalität eines den Alltag abbildenden Konversationstheaters und erstattet dem Theater etwas zurück, was fast schon (und mit Sicherheit im finsteren Burgtheater der Ära Ernst Haeussermans) verloren gegangen war, eben das Körperliche.

Was, wenn nicht die spürbare Anwesenheit des menschlichen Körpers, die physische Dimension, stellte den Vorzug des Theaters gegenüber dem Hörspiel und auch gegenüber dem Film dar, der mit zweidimensionalen Schatten allenfalls die Illusion von Körpern erzeugt? Die Betonung des Körperlichen wird beim Living Theatre meist begleitet von einer formelhaften Sprache, die bei den Sprechchören des Agitprop Anleihen macht.

Auf emotionale Erschütterung zielend

In mancher Hinsicht scheint "The Brig" von Kenneth H. Brown, einer der größten Erfolge des Living Theatre, dem modernen Tanztheater näher als dem Sprechtheater. Die Choreografie von Bewegungsabläufen und Stimmen ersetzt die konventionelle Handlung. "The Brig" ist ein Stück über Faschismus als globale Struktur. Es ist ein Stück über Gewaltausübung und Macht, und darin liegt auch seine Aktualität im Jahr 2021. Erfahrbar wird Entmenschlichung in einem Militärknast, in dem die Gefangenen funktionieren müssen wie Teile einer Maschine. Die negative Utopie von Fritz Langs "Metropolis" ist hier Wirklichkeit.

Was dieser Inszenierung, wie auch anderen Stücken des Living Theatre, internationale Beachtung bescherte, war der krude Realismus der Darstellung. Ursprünglich vom auf Umwegen nach New York emigrierten Erwin Piscator geprägt, ließen sich Julian Beck und Judith Malina, die Gründer des Living Theatre, mehr und mehr von Artauds "Theater der Grausamkeit" anregen, das auf den Zuschauer nicht so sehr, wie Brecht, über den Intellekt, über Einsichten, als vielmehr durch unmittelbare emotionale Erschütterung einwirken wollte.

living theatre 560 aktivismus beck strassentheater 1982 c bernd uhlig hStraßentheater-Aktion: Performance des Living Theatre 1982 in Stockholm © Bernd Uhlig

Was "gespielt" wurde, sollte unter die Haut gehen, nicht goutierbar und nach Ende der Vorstellung in einem Glas Sekt versenkbar sein. Viele freie Ensembles, aber auch Regisseure an Staatstheatern haben mittlerweile Einfälle und Verfahren des Living Theatre geplündert, von der katalanischen Fura dels Baus bis zu Einar Schleef und Florentina Holzinger.

Alternativer Lebensstil

Das Living Theatre war nicht die einzige Gruppe, die in jenen Jahren, in den USA weniger gegen eine staatlich subventionierte Klassikergruft wie das Burgtheater, sondern gegen das kommerzielle Theater des Broadway, opponierte. Ellen Stewart und ihr La MaMa Theatre, die New York Street Theatre Caravan, das Bread & Puppet Theatre, die San Francisco Mime Troupe, das Teatro Campesino schlugen mit unterschiedlichen theatralen Mitteln vergleichbare Wege ein.

Zu einer alternativen Ästhetik kam bei vielen freien Gruppen, so auch beim Living Theatre, ein abweichender Lebensstil. Man verstand sich, nicht nur auf der Bühne, als Kollektiv. Gemeinsame Arbeit und gemeinsames Leben sollten eine Einheit bilden – ein nicht nur in den USA immer wieder ersehntes, wenngleich nur schwer zu realisierendes Konzept, das aus sozialistischen und manchmal auch urchristlichen Vorstellungen geboren ist. Dabei dienten diverse amerikanische und europäische Modelle der Zwischenkriegszeit vom Group Theatre bis zu Piscator und den Roten Revuen als Vorbild. Sucht man nach verwandten Initiativen in Europa, so findet man sie am ehesten bei Ariane Mnouchkine, bei Tadeusz Kantor, aber auch bei den Aktionen der deutschen Kommune 1.

Rückblick und Retrospektive

Auf "Mysteries" und "The Brig", die den internationalen Ruhm des Living Theatre etabliert haben, folgten Bearbeitungen von sehr unterschiedlichen literarischen Vorlagen wie "Frankenstein", "Die Zofen", "Antigone" oder "IchundIch" und Eigenkreationen des Ensemblekollektivs wie "Paradise Now", Seven Meditations on Political Sado-Masochism oder "Not In My Name", ein Appell gegen die Todesstrafe.

Die Truppe wechselte notgedrungen mehrmals ihren Wohnort und ging auch nach Julian Becks Tod im Jahr 1985 auf Tournee. Judith Malina hat ihren Mann und Partner um 30 Jahre und seinen 25 Jahre jüngeren Nachfolger Hanon Reznikov um 7 Jahre überlebt. Das Restensemble machte auch nach ihrem Tod weiter. Das jüngste Stück heißt "Electric Awakening" und wurde in Brasilien uraufgeführt. Das Living Theatre wird seinem Namen gerecht. Offenbar ist es der berechtigten Überzeugung, dass es ohne es finster wäre.

Im Verlag Theater der Zeit ist die deutsche Übersetzung von Julian Becks Mischung aus Aphorismensammlung und Notizbuch "Das Theater leben" aus dem Jahr 1972 erschienen, pünktlich zu drei Online-Beiträgen, die das diesjährige Theatertreffen dem Living Theatre am 16. Mai gewidmet hat. Darin wurde auch aus Becks Buch gelesen: mit einer sterilen Bravheit, die sich zum Living Theatre verhält wie die Asche zum Feuer. Danach: eine Diskussion oder vielmehr Monologe dreier Gäste und einer Moderatorin über das Living Theatre: damals & heute. Und wiederum: die Talking Heads vor den Computerkameras, die einander zustimmend zunicken, sind von der Sinnlichkeit des Living Theatre, selbst in der Verfilmung von "The Brig" durch Jonas Mekas, weit entfernt. Zwei Minuten aus Judith Malinas Berliner Lektion von 1991 lassen danach das Blut in den Adern gerinnen, durch den Inhalt, durch den Tonfall, durch die Haltung. Zwei weitere Theatertreffen-Beiträge – der preisgekrönte Dokumentarfilm "Resist! Die Kunst des Widerstands: Living Theatre" von Dirk Szuszies, der vorübergehend dem Ensemble des Living Theatre angehört hat, und ein Gespräch über das Theater als politisches Aktionsmedium – folgen am 21. Mai.

Es lohnt sich, von dem (kostenlosen!) Angebot Gebrauch zu machen. Der Film liefert nicht nur Eindrücke von mehreren Produktionen des Living Theatre, sondern vor allem das Porträt von Schauspieler*innen, die andere Sorgen haben, als eine Hauptrolle zu bekommen und gesicherte Honorare. Dass das, bei allem Idealismus, nicht immer leicht ist, wird nicht verschwiegen. Politisches Theater hat seinen Preis. Aber als Lohn bringt es tatsächlich, nicht nur rhetorisch, Licht in die Finsternis.

 

 

rothschild kleinThomas Rothschild, Studium der Slavistik und Germanistik in Wien, Moskau und Prag, 1968-1971 Linguist, 1971 bis 2007 Literaturwissenschaftler an der Universität Stuttgart. Publikationen u.a. zum politischen Lied, zur Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts, zu Medienfragen. Der im schottischen Glasgow geborene und in Wien aufgewachsene Stuttgarter war zweifacher Juror des Ingeborg-Bachmann-Preises, ist Träger des Österreichischen Staatspreises für Literaturkritik und des Bruno Kreisky-Preises für das politische Buch.

 

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