Fragebögen "Theater und Macht" - Acht Fragen an zehn Intendant*innen und Theater-Leitungsteams in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Machtfragen
20. Mai 2021. Wie führen Sie Ihr Haus? Wie gestalten Sie Veränderung? Und wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb? Das haben die Herausgeber*innen des Sammelbandes "Theater und Macht – Beobachtungen am Übergang", einer Kooperation von nachtkritik.de und der Heinrich-Böll-Stiftung, zehn Intendant*innen und Leitungsteams zwischen Augsburg und Zürich gefragt.
Inspiriert sind die acht Fragen u.a. von der Intendant*innen-Befragung in der Publikation "Unternehmensethik für den Kulturbetrieb" (2012) von Daniel Ris, der als Intendant der Burgfestspiele Mayen nun selbst zu den Befragten gehört.
Staatstheater Augsburg - André Bücker
Sophiensaele Berlin – Franziska Werner
Schauspiel Dortmund – Julia Wissert
Schauspielhaus Graz – Iris Laufenberg
Ernst Deutsch Theater Hamburg – Isabella Vértes-Schütter
Burgfestspiele Mayen – Daniel Ris
Theater Plauen-Zwickau – Roland May
Landestheater Schwaben – Kathrin Mädler
Zimmertheater Tübingen – Dieter Ripberger und Peer Mia Ripberger
Schauspielhaus Zürich – Benjamin von Blomberg, Katinka Deecke, Nicolas Stemann
Staatstheater Augsburg – André Bücker
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Ich habe immer viel Wert auf kooperative Arbeit gelegt. In Augsburg bin ich Teil einer gleichberechtigten Doppelspitze aus Intendant und Geschäftsführendem Direktor. Im Schauspiel haben wir schon vor vier Jahren eine geschlechter-paritätische Teamleitung aus HausregisseurInnen und DramaturgInnen etabliert. Die Belegschaft muss sich darauf verlassen können, dass notwendige Entscheidungen – in jedem Bereich – durch die Leitung zügig und nachvollziehbar getroffen und verlässlich kommuniziert werden. Darauf hat jeder Beschäftigte einen Anspruch. Nur so fühlen sich die MitarbeiterInnen ernst genommen und begreifen das Theater insgesamt als ihr eigenes, als gemeinsames Projekt. Als Intendant sollte man immer ansprechbar sein und interne Kommunikationsstrukturen aufbauen, die Offenheit nicht nur simulieren, sondern tatsächlich angstfrei Diskussion und Kritik ermöglichen. Transparenz und Glaubwürdigkeit in den Entscheidungsprozessen, auch in künstlerischen Fragen, ist letztlich wichtige Voraussetzung für das Funktionieren des gesamten Hauses.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Veränderungen sind an einem Haus mit ca. 450 MitarbeiterInnen immer ein schwieriger Prozess. Das Staatstheater Augsburg ist seit fünf Jahren in einem Zustand permanenter Transformation. Zuerst wurde das Große Haus sanierungsbedingt geschlossen, was den Umzug in Interimsspielstätten notwendig machte. Dazu kamen ein Bürgerbeteiligungsprozess zur Zukunft des Theaters, ein Intendantenwechsel und die aufwendige Betriebsumwandlung vom städtischen Eigenbetrieb zur Stiftung Staatstheater Augsburg. Nun haben wir ein Jahr Pandemie und die Erweiterung des Spartenangebots um das Digitaltheater hinter uns. Bei all dem war unser Leitbildprozess nach innen sehr hilfreich. Nach außen bedarf es intensiver Kommunikationsarbeit in die Breite der Stadtgesellschaft hinein. Dazu haben wir u.a. mehrere neue Stellen geschaffen, wie z.B. eine Projektleitung für digitale Entwicklung, eine Stelle für Audience Development und zwei zusätzliche Stellen in der Theaterpädagogik. Darüber hinaus gibt es seit vier Jahren eine Plattform für interkulturelle und interdisziplinäre Theaterarbeit, die kommunikative Fäden zwischen der Freien Szene, den Institutionen und diversen Communities zusammenführt.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Essentiell wichtig ist das Verständnis der einzelnen Bereiche füreinander. Jeder Bereich hat seine eigenen Notwendigkeiten und Bedürfnisse, die Menschen in den Abteilungen sind teilweise extrem verschieden. Und, obwohl sie gemeinsam am gleichen Produkt arbeiten, sind sie mit völlig unterschiedlichen Tarifverträgen ausgestattet, die nicht alle zu einem flexiblen Theaterbetrieb passen. Über verschiedene Sitzungs- und Jour-Fixe-Formate versuchen wir, alle Bereiche zu vernetzen und Informationsrückkopplungen selbstverständlich zu machen. Wir haben in der Pandemie die Erfahrung gemacht, dass sich mittels digitaler Technik Prozesse anders und effektiver gestalten lassen, z.B. bei virtuellen Werkstattabgaben. Wir versuchen im Bereich Fortbildung und Digitalisierung abteilungs- und spartenübergreifend die Menschen am Haus zu schulen, zu qualifizieren und zielgerichtet zu investieren. Wir haben Personalentwicklungskonzepte. Wir haben interne Workshop-Formate entwickelt, z.B. Basis Theaterwissen für die nicht-künstlerischen Abteilungen und Einblicke in Leitungsaufgaben für die Ensembles. Und, so banal es klingen mag, Aufgaben, Zuständigkeiten und Pflichten müssen für alle Beschäftigten klar definiert sein. Das ist noch nicht an allen Theatern selbstverständlich.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Machtmissbrauch kann in jeder Struktur und in jeder Institution vorkommen, in der Wirtschaft, in der Politik, im Kulturbereich. Im Theater wird diese Thematik besonders leidenschaftlich diskutiert, manchmal aber auch politisch aufgeladen, pauschalisiert und instrumentalisiert. Nicht jede Leitungsentscheidung, die einzelnen nicht gefällt oder nicht in die eigene Agenda passt, ist gleich ein Fall von Machtmissbrauch. Große Theaterbetriebe sind, ähnlich wie z.B. Ministerien oder Konzerne, hierarchisch aufgebaut. Das ist per se nichts Negatives oder Verdächtiges. Es trifft zu, dass es an einigen Theatern Missstände gibt und sich Theaterleitungen unangemessen verhalten. Das darf man nicht hinnehmen. Der Anspruch an die Integrität der Kultureinrichtungen und ihre Leitungen, die von der öffentlichen Hand finanziert werden, ist hoch und das ist richtig so.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Ja, wir haben in einem über ein Jahr andauernden Prozess unter Leitung eines externen Experten ein Leitbild erstellt, welches von der Belegschaft verabschiedet wurde. Dieser Prozess wurde unter persönlicher Beteiligung von zahlreichen Mitarbeitern aus allen Abteilungen äußerst tiefenscharf geführt. Mit der Verabschiedung des Leitbildes ist der Prozess allerdings nicht beendet, sondern es hat sich eine Arbeitsgruppe gebildet, die das Leitbild in die alltägliche Praxis umsetzt und weiterentwickelt. Mitarbeiter können sich bei Problemen auf dieses Leitbild beziehen. Partner bei Konflikten ist immer auch der Personalrat oder die Ensemblevertretung.
Der "Sitz der Macht" ist im Theater der Feuerwehrplatz. Ohne die Genehmigung der Feuerwehr und der Brandschutzbehörde geht gar nichts. Dieser Sitz steht symbolisch für bürokratische Hürden und behördliche Verordnungswut, die dem Kunstbetrieb das Leben manchmal schwer machen. Diese Struktur bedeutet andererseits aber eben auch die Absicherung der Künstlerinnen und Künstler.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Wir haben im Sommer 2020 eine Stelle "Projektleitung digitale Entwicklung" geschaffen. Diese Stelle ist als Stabstelle (mit eigenem Etat) direkt der Intendanz zugeordnet und hat auch eine Digitalstrategie für das gesamte Haus im Blick. Dazu gehören auch die technischen Bereiche und die Verwaltung. Wir gründen eine Sparte Digitaltheater, die eigenständig existiert, sich aber in der Praxis mit allen anderen Sparten vernetzt. Wir haben bereits 2020 ein Virtual-Reality-Repertoire aufgebaut, das sich ständig weiterentwickelt. Die nächsten personellen Schritte, wie die Schaffung einer Stelle für einen Werkstudenten und eine Stelle für einen Content Producer, sind bereits in Planung bzw. werden gerade umgesetzt. Das digitale Theater wird mit eigenem Spielplan ein künstlerischer Motor für das gesamte Haus.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Genauso viel wie der Rest der Gesellschaft. Der Theaterbetrieb existiert ja nicht im luftleeren Raum. Es gelten dieselben Gesetze wie überall. Im Zentrum dieses Betriebes existiert allerdings ein besonderer Ort: Die Bühne, ein Raum der absoluten Freiheit. Hier darf das Undenkbare gedacht, das Unsagbare gesagt werden, hier darf und soll man Grenzen überschreiten. Solche Freiheit muss das Theater behaupten und bewahren, sonst wird es sinnlos. Dafür braucht es allerdings Spielregeln, die diesen Ort als geschützten Raum etablieren. Und diese Formen des Umgangs miteinander müssen alle Akteure immer wieder auf Augenhöhe aushandeln.
André Bücker studierte zunächst Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften und ist seit 1995 als Regisseur tätig, mit Stationen u.a. in Dortmund, Hannover, Graz, Nürnberg, Göttingen, Koblenz und am Nationaltheater Weimar. Insgesamt entstanden inzwischen über 80 Opern- und Schauspielinszenierungen. Zudem realisierte er zahlreiche spartenübergreifende Projekte und Theater im öffentlichen Raum. Seit 2018 ist er Staatsintendant und Stiftungsvorstand der neu gegründeten Stiftung Staatstheater Augsburg. 2019 wurde André Bücker in das Kuratorium der Universität Augsburg berufen.
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Sophiensaele Berlin – Franziska Werner
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Kooperation und Austausch stehen für mich im Vordergrund, wahrscheinlich praktiziere ich einen Mix aus Führungsstilen mit großen partizipativen Anteilen. Die Selbstorganisation des Teams ist sehr wichtig. Die Kolleg*innen kennen sich ja in ihren Bereichen am besten aus. Sie sind gefragt, Lösungen und Strategien zu finden, Ideen werden miteinander diskutiert. Es gibt viel Gestaltungsspielraum für jede*n Einzelne*n. Eigenverantwortung und Freiräume bringen aber auch Verunsicherungen mit sich, Kommunikationsprozesse dauern teilweise länger. Fehler- und Feedbackkultur muss ständig geübt werden. Empathie, ernsthaftes Interesse an anderen Meinungen und Kommunikation auf Augenhöhe sind für mich wichtig. Auch versuche ich mich regelmäßig zu erinnern, was ich bisher mit Chef*innen erlebt habe und wie ich es mir gewünscht hätte. Stress und Druck sind leider normal in unserer Branche, trotzdem versuche ich eine relaxte Atmosphäre zu kultivieren. Und ja – der Vorhang muss hoch, wie es so schön heißt, aber wir operieren nicht am offenen Herzen.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Die Sophiensæle verstehen sich als Haus mit Fokus auf die experimentelle Berliner Freie Szene in all ihrer Vielfalt. Wir folgen dabei einer machtkritischen Herangehensweise, die sich inhaltlich wie strukturell konsequent Fragen nach der Zugänglichkeit unseres Programms und unserer Räume für Künstler*innen, Publikum und Mitarbeiter*innen widmet. Konstantes Thema unseres Hauses sind deshalb Öffnungs- und Diversifizierungsprozesse. Dafür versuchen wir Ressourcen bereitzustellen, das heißt Geld, Zeit und Expert*innenwissen. Wir bilden uns weiter und holen uns Beratung und Feedback. In unserer Produktionsabteilung gibt es inzwischen eine Mitarbeiterin, die ein regelmäßiges Stundenvolumen für die Planung und Steuerung von Transformationsprozessen am Haus hat. Wir haben gemerkt, dass das so nebenbei nicht zu bewältigen ist und im Alltagsgeschäft immer hintenansteht. Inzwischen gibt es auch eine abteilungsübergreifende Arbeitsgruppe mit diesem Fokus, die interne Arbeitsstrukturen analysiert und Veränderungsbedarfe in unserer Institution untersucht. Hier wird in vielerlei Hinsicht besprochen, wie wir als Institution machtkritisch arbeiten können. Wir versuchen uns konstruktiv selbst zu hinterfragen. Das ist ein kontinuierlicher Veränderungs- und Lernprozess. Wir sind geschäftsführender Partner des Netzwerkprojekts MAD – Making a Difference (im Rahmen von Tanzpakt Stadt-Land-Bund), welches sich für eine selbstbewusste und sichtbare Community von tauben, behinderten und chronisch kranken Choreograf*innen, Tänzer*innen und Performer*innen stark macht. Dieses Projekt hat inzwischen einen großen Einfluss auf unsere Arbeit: Dadurch haben wir Expert*innen am Haus, die uns hinsichtlich Barrierefreiheit und Zugänglichkeit beraten und weiterbilden. Inzwischen gibt es auch außerhalb dieses Projekts Workshops für Künstler*innen und Gruppen, die mit unserem Haus assoziiert sind – zur Sensibilisierung und zu generellen Fragen einer aesthetic of access.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Die Bedürfnisse, Anforderungen und Zeitläufe der jeweiligen Abteilungen sind tatsächlich sehr unterschiedlich. Für die Kunst möchte man alles gerne bis zum letzten Moment offenlassen, Änderungen und neue Ideen ermöglichen. Alle anderen Abteilungen brauchen mehr Planungssicherheit und größere Vorläufe. Unser Motto ist: so flexibel wie möglich, so vorausgeplant wie nötig. Unser Apparat ist da sehr geübt und wendig, auch kurzfristig Dinge nach den Bedürfnissen und Anforderungen der Kunst möglich zu machen. Ich denke, das ist wirklich eine Spezialität der Freien Szene, eher den Organisationsapparat den künstlerischen Bedürfnissen anzupassen und nicht umgekehrt. Es ist wichtig, eine regelmäßige Gesprächskultur zu pflegen und die Bedürfnisse der jeweiligen Abteilungen und Arbeitsfelder ernst zu nehmen und ggf. entsprechend nachzujustieren. Wir haben ein ausgeklügeltes Meeting-System zwischen den Abteilungen, welches wir regelmäßig zu optimieren versuchen. Eine kontinuierliche Moderation zwischen den Anforderungen der Kunst und den Anforderungen der Produktionsabläufe ist immer notwendig. Alle haben ja am Ende dasselbe Ziel: tolle Kunst für das Publikum.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Auf jeden Fall. Es ist gut, dass es dafür endlich mehr Öffentlichkeit und Debatten gibt. Das führt zu Sensibilisierung und Handlungsoptionen gegen diese Missstände. Ich bin gespannt, wo wir in 10 Jahren stehen.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Aktuell arbeiten wir an einem Leitbild, an der Verständigung über eine gemeinsame Haltung und Arbeitsethik. Das sehen wir als einen gemeinsamen Teamprozess und nicht einfach als etwas, was von der Leitung bzw. Programm- und Dramaturgieabteilung vorgegeben werden kann. Aktuell enthalten unsere Verträge die sogenannte Anti-Rassismusklausel. Diese planen wir zu einer weiter gefasste Antidiskriminierungsklausel umzubauen. Mittelfristig würden wir uns eine externe Mediations- und Vertrauensstelle wünschen.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Der Sitz der Macht ist bei uns eher gemeinsam am Besprechungstisch oder – im Moment – im Video-Call.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Sehr viele digitale künstlerische Formate sind in den letzten Monaten neu entstanden, das ist spannend und ein kontinuierlicher Weiterbildungsprozess für alle Mitarbeitenden im Haus ebenso wie für die Künstler*innen. Inzwischen wissen wir, dass eine digitale Produktion genauso viel Aufmerksamkeit, Arbeit und oft sogar noch mehr Geld benötigt als eine analoge Bühnenproduktion. Und natürlich macht das auch neue Expertisen, Abläufe und Strukturveränderungen in den verschiedenen Abteilungen notwendig. Bestimmte Jobprofile gewinnen plötzlich an Bedeutung und werden von allen gesucht: Live-Kamera, Schnittregie, Programmieren von Partizipationstools, Hosts für digitale Formate, Digitaldramaturgie, Urheber*innen- und Vertragsrecht im digitalen Raum. Ich denke, da wird noch einiges passieren und die langfristigen Veränderungen für das gesamte Feld sind noch gar nicht genau abzusehen. Zukünftig werden digitale und analoge künstlerische Formate ganz selbstverständlich nebeneinander und gleichwertig in den Spielplänen sein. Und ja, das wird langfristig auch zu einer etwas anderen Aufstellung der Mitarbeiter*innenschaft und ihrer Job- Profile führen.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Viel.
Franziska Werner ist seit 2011 künstlerische Leiterin der Sophiensaele Berlin. Sie studierte Theaterwissenschaft/Kulturelle Kommunikation, Kunstgeschichte und Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin (M.A.) und Etudes Théâtrales an der Sorbonne Nouvelle Paris. Seit 2001 arbeitete sie als freie Produktionsleiterin, Dramaturgin und Regieassistentin in Berlin und überregional mit und für verschiedene Künstler*innen, Festivals und Produktionsorte. Sie war Mitbegründerin des Künstlerkollektivs Pony Pedro und realisierte mit diesem zwischen 2005 und 2010 Interventionen im Stadtraum an der Schnittstelle zwischen Performance, Installation und urbanen Kommunikationsstrategien. Seit 2012 ist sie Mitglied im Rat für die Künste Berlin und Gründungsmitglied der Koalition der freien Szene.
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Schauspiel Dortmund – Julia Wissert
Die Antworten auf die Fragen sollten vor dem Hintergrund gelesen werden, dass nach der Intendanzeröffnung am Schauspiel Dortmund der zweite Lockdown im November stattfand. Seitdem war das Schauspiel nicht mehr für analoges Publikum geöffnet. Größere innerbetriebliche Veranstaltungen wurden auch untersagt. Wir haben angefangen ohne einen richtigen Anfang. Viele der Fragen sind Fragen die wir selbst noch miteinander aushandeln müssen/wollen/dürfen.
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Am Anfang des jetzigen Schauspiel-Ensembles standen reihenweise Vorsprechen, für die wir uns jeweils mindestens eine Stunde Zeit genommen haben, um mit den Menschen ein Gespräch zu führen über ihre Erwartungen an einen Neustart und wie sie ihre Aufgabe in einem Ensemble der Zukunft sehen würden. Wir hatten alle eine Sehnsucht nach einem Ort, an dem wir gerne arbeiten wollen, der gleichzeitig versucht, nachhaltige Antworten auf die gesellschaftlichen Fragen zu finden, die uns vielleicht zuvor davon abgehalten haben, fest an einem Theater zu arbeiten. So hat sich eine Gruppe von Menschen gefunden, die sich in unterschiedlichen Graden mitverantwortlich für die Gestaltung der Arbeitsprozesse und künstlerischen Produkte fühlt. Wir entwickeln schrittweise Formen der Mitbestimmung und Einflussnahme. Wir versuchen, Prozesse transparenter zu gestalten und Verantwortung auf verschiedene Schultern zu verteilen. Meine Aufgabe als diejenige, die innerhalb der Struktur die machtvollste Position hat, verstehe ich als sinnvolle Nutzung dieser Macht, um die bestmöglichen Arbeitsbedingungen für meine Kolleg:innen herzustellen. Ich bin, sehr klassisch, die Intendantin. Wir haben uns für dieses Modell bewusst entschieden, weil wir wissen, dass wir gesellschaftlich nicht die gleichen Privilegien haben. Ich habe strukturell die mächtigste Position im Haus, meine Kolleg:innen haben jedoch (mehrheitlich) die gesellschaftliche Macht in ihre Körper eingeschrieben. Mit dieser intersektionalen Herausforderung versuchen wir, einen strukturellen Umgang zu finden. Wir finden Entscheidungen im Gespräch miteinander, mit den Kolleg:innen. Trotzdem gibt es manchmal den Moment, in dem ich die unangenehme Aufgabe habe, eine Entscheidung durchzusetzen, wider die Empfehlungen von Abteilungsleitenden oder den Wünschen des Ensembles. Wir suchen Möglichkeiten, wie es anders funktionieren kann, und sind noch lange nicht da, wo wir als Team sein wollen. In einem Jahr werden wir weiter sein und wissen mehr darüber, wie es nicht funktioniert. Dann fangen wir von vorne an.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Die Frage von Transformation war eine der Grundsäulen der Intendanz- Bewerbung. So haben wir uns von Anfang an Unterstützung durch eine Organisationsentwicklung geholt. Hierbei haben wir eine Agentur gesucht, die sowohl die Anforderungen und Arbeitswirklichkeiten der Kolleg:innen der Technik kennt, als auch offen ist für die Frage danach, wie eine utopische Organisation entwickelt werden kann. Es war uns wichtig, externe Partner für einen langfristigen Transformationsprozess zu haben, da wir Teil des Hauses und somit der zu verändernden Organisation sind. Damit dieser Prozess nachhaltig ist, haben wir uns kleinere Etappen gesetzt. Der erste gemeinsame Anfang wird eine Open Space Konferenz sein. In diesem Raum soll allen Mitarbeitenden die Möglichkeit gegeben werden, die Herausforderungen, die sie beobachten und erleben, in kollegialen Runden zu formulieren. Unser Wunsch war es von Anfang an, einen gemeinsamen Prozess zu schaffen, selbst wenn wir nicht alle dieselben Dinge als Probleme sehen.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
6000 Zeichen reichen nicht aus, um das alles aufzuschreiben. Wenn ich es versuchen müsste, kurz, würde ich sagen, dass eine der grundlegenden Herausforderungen in der ungleichen Vertragsstruktur liegt. Die Kolleg:innen der vier Arbeitsbereiche haben sehr unterschiedliche Arbeitnehmer:innen-Rechte, was Konsequenzen im alltäglichen Miteinander hat. Arbeitszeit wird verschieden vergütet. Verantwortungen sind auch durch Gewerkschaften scheinbar klar geklärt, zumindest für manche. Das führt zu einer Disbalance. Die künstlerischen Entwicklungen, die wir gerade erleben, bedeuten auch eine Verschiebung in der Frage der Verantwortlichkeiten. Wer ist für Streaming verantwortlich, die Videoabteilung oder die Technik? Was gilt als Produktion, wenn Spielende Stückverträge haben? Welche Abteilung ist für die Kommunikation zuständig, Marketing, Presse, Social Media? Für diese Herausforderungen müssen neue Strukturen und Prozesse entwickelt werden. Um das zu entwickeln, braucht es aber eine gemeinsame Sprache und ein echtes "Wir". Wie können wir ein "Wir" sein, wenn nicht alle arbeitsrechtlich gleichgestellt sind? Die derzeitige Situation macht das alte Arbeiten in Abteilungen hinfällig, da alle Abteilungen gemeinsam an einem Projekt arbeiten müssen. Das ist (noch) nicht gelernt. Um ein solches Arbeiten zu ermöglichen, braucht es klare Regeln, damit jede Person im Team weiß, was ihre Verantwortung ist. Diese neuen Regeln gibt es (noch) nicht. Unsere These jedoch, Theatermachen ist ein nie abgeschlossener Prozess von und mit Menschen mit verschiedensten Expertisen jedoch gleichwertiger Verantwortung. Also eigentlich das, was während jeder Vorstellung passiert: Klare Regeln, alle zusammen, aber alle denken und gestalten an der Vorstellung mit.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Mit Sicherheit.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Wir sind mitten in dem Prozess, ein Leitbild zu entwickeln. Die Frage nach der Sicherstellung, dass die Regeln umgesetzt werden, ist eines der größten Streitthemen. Wir sagen gerne Bescheid, wenn wir ein fertiges Leitbild haben.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Siehe Foto.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Wir sind mitten in der Entwicklung einer digitalen Strategie für das Theater Dortmund. Um die derzeitige Entwicklung zwischen Theater und Digitalität auch nachhaltig weiter zu entwickeln, haben wir uns entschlossen, auch nach Corona digitale/hybride Produktionen am Haus entwickeln zu lassen. Uns interessiert daran die Frage, wie wir mit digitalen Mitteln Formen entwickeln können, die den Dialog mit Bürger:innen der Stadt weiterbringen und Fragen des Menschsein ins Zentrum rücken.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Von welchem Demokratiebegriff gehen Sie aus, wenn Sie diese Frage stellen? Bevor es mehr Demokratie in den Theatern geben kann, muss vorher einmal klargestellt werden, dass es keine Demokratie in den Theatern gibt. Dass nicht alle Personen im Theater gleich sind und dass die Frage von Macht nicht (nur) an der Position, sondern auch an dem Körper hängt, mit dem mensch sich in den Institutionen bewegt. Wenn wir dann sagen, stimmt - wir müssen uns erstmal einigen, dass wir Theater in einer begrenzt demokratischen Gesellschaft sind, was bedeutet, dass wir bestimmte Ausschlusskriterien reproduzieren, ohne dass wir das wissen, dagegen müssen wir gezielt anarbeiten, dann würde ich auch sagen: Es braucht viel, viel mehr Demokratie.
Julia Wissert wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Nach dem Abitur studierte sie an der University of Surrey in London und am Mozarteum Salzburg. Ihre Bühnenarbeiten bewegen sich an den Grenzen von Musiktheater, Theater, Performance und Audio-Installationen. Wissert arbeitet seit 2015 als freie Regisseurin. Sie inszenierte neben vielen anderen Häusern am Maxim Gorki Theater, am Nationaltheater Brno, am Staatstheater Oldenburg und am Schauspielhaus Bochum. Für ihre Arbeiten wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Seit der Spielzeit 2020/21 ist sie Intendantin des Schauspiel Dortmund.
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Schauspielhaus Graz – Iris Laufenberg
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Es erscheint mir ehrlicher, meinen eigenen Anspruch an mich selbst zu formulieren, als den eigenen Führungsstil zu beurteilen: Fremd- und Selbstwahrnehmung sind nie deckungsgleich, können es auch nicht sein, da der Führungsstil einer Person von sehr vielen, individuell verschiedenen Menschen auch unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird. Ich strebe einen kooperativen, transparenten Führungsstil mit größtmöglichem Handlungsspielraum meiner Mitarbeiter*innen in hoher Eigenverantwortung an, die ihre Expertise in unterschiedlichen Bereichen mir und dem Unternehmen bereitstellen. (Ich spreche bewusst von "Unternehmen" oder auch "Betrieb", weil ein Stadttheater eben nicht "bloß" Theater ist.) Um diesem Anspruch so weit wie möglich gerecht werden zu können, erachte ich es für wichtig, auf der Leitungsebene gemeinsame – ambitionierte, aber auch im Rahmen der Ressourcen realistische – Ziele zu erarbeiten und zu formulieren. Diese strategischen Ziele wiederum müssen in regelmäßigen und definierten Abständen evaluiert, notfalls modifiziert, ergänzt oder gar abgeändert werden. Dank einer mittlerweile fast 20-jährigen professionellen externen Coaching-Begleitung habe ich mit diesem strategisch-inhaltlichen Ansatz gute Erfahrungen gemacht. Als Führungsperson braucht es zudem Mut zur Verantwortung, immer wieder Neugierde und zweifelsohne auch immer wieder Erfolge und Bestätigung von außen und innen.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Change-Management fußt auf einer Bündelung von Maßnahmen und braucht Vorbereitung: Die Bereitschaft der Mitarbeiter*innen, Veränderungen nicht nur zu akzeptieren, sondern auch aktiv mitzugestalten steigt meiner Meinung nach durch umfassende und frühzeitige Information und Einbindung der Mitarbeitenden in diese Prozesse (auch jener Personen, die nicht unmittelbar davon betroffen scheinen). Seit Beginn der Saison 2020.2021 verfolgt das Schauspielhaus Graz entschieden die Ziele der Nachhaltigkeit in Anlehnung an den UN-Aktionsplan "Agenda 2030". In diesem Sinne startete ein Pilotprojekt mit dem Arbeitstitel "Das Grüne Theater": In Zusammenarbeit mit externen Expert*innen und mit dem verantwortlichen Bundesministerium wird das Theater auf technologischer, organisatorischer und künstlerischer Ebene und die Theaterarbeit hinsichtlich einer ökonomischen, ökologischen und soziokulturellen Nachhaltigkeit untersucht und es werden daraus ableitend Ziele, Strategien, und Maßnahmen formuliert. Dieser Prozess wird transparent gestaltet – nach innen wie nach außen. Des Weiteren habe ich sehr gute Erfahrungen dahingehend gemacht, nicht den Anspruch zu stellen, alles aus dem Betrieb heraus leisten, erlernen und umsetzen zu müssen, sondern die Expertise innerhalb des Betriebes mit der von außen zu verbinden.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Verständnis für die unterschiedlichen Arbeitssituationen der im Betrieb arbeitenden Personen erachte ich als einen Schlüssel: Offenheit und ehrliches Interesse an den jeweiligen Abteilungen und deren Unterstützung – nach außen wie nach innen – muss immer wieder in den Fokus auf der Leitungsebene rücken; das ist ein ständiger Prozess. Das vielleicht noch Schwierigere ist eine gut funktionierende Kommunikation mit all seinen Wegen (zu etablieren).
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Meiner Ansicht nach sind Theaterintendant*innen im besten Fall Kunstermöglicher*innen. Wenn eine Person viele "Hüte" aufhat, kulminieren sehr viele verschiedene Interessen in ihr. Steile Hierarchien begünstigen den Missbrauch von Macht – flache Hierarchien schließen ihn aber nicht aus. Machtmissbrauch einzig als Zeichen einer Schieflage im strukturellen Bereich zu sehen scheint mir zu oberflächlich und zu kurzsichtig. In allen Bereichen ist es wichtig, einen transparenten Umgang mit Machtverhältnissen und Positionen zu kultivieren und zu pflegen, um keine meist unan- und ausgesprochenen Abhängigkeiten entstehen zu lassen. Hierzu bedarf es der Aufmerksamkeit und Sensibilisierung aller Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen. Daran arbeiten wir.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Ja, einen solchen haben wir im Februar 2018 für uns erarbeitet. Die #MeToo-Bewegung hat uns veranlasst, sichtbar mit diesem Thema umzugehen und wir haben, damit verbunden, auch eine Vertrauensstelle mit zwei Personen installiert. Das Statement "NEIN zu Diskriminierungen, Belästigungen sowie sexuellen Belästigungen und Mobbing und JA zu einem wertschätzenden Umgang im Schauspielhaus Graz", wird allen neuen Verträgen beigelegt. Außerdem ist dieser Kodex, der weiterhin untersucht, diskutiert und bei Bedarf erweitert wird, im Haus öffentlich ausgehängt, für alle Mitarbeiter*innen im internen Bereich der Website abrufbar und ein Mal pro Spielzeit wird dieser, mit dem Angebot, sich an die jeweiligen Personen richten zu können, mit dem Gehaltszettel verschickt.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
"Sitz der Macht" – bedeutet in struktureller und organisatorischer Hinsicht Sitz der "endgültigen" Verantwortung für die künstlerische Ausstrahlung, das Klima am Haus, für das Erreichen des Kulturauftrages, als Geschäftsführende Intendantin für die Finanzen und die Auslastung sowie die international erwünschte Reputation des Theaters. Dies gilt für die Zeit meiner Intendanz und auch ein wenig darüber hinaus, da ich Projekte (u.a. "Das Grüne Theater") initiiere, die weiter in der Zukunft wirken und sichtbar bleiben. Ich wünsche mir jedoch, dass sich im Prinzip alle Mitarbeitenden für den Betrieb und das Theater verantwortlich fühlen, und ermutige und erwarte auch, dass sie diese in ihren Bereichen übernehmen. Auch im Publikum sitzt eine Macht: Ohne dieses sind wir nicht nur "leer", sondern auch bedeutungslos.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Ja, ich glaube, dass das Theater der Zukunft ohne eine Strategie zur Digitalisierung, parallel zum "Kerngeschäft", nicht mehr auskommen wird. Gemeinsam mit meinem Team experimentiere ich im Bereich VR-Brillen, mit diversen filmischen Projekten, Kurzformaten und wir suchen nach neuen Wegen der Distribution. Wir sind ganz am Anfang oder schon mittendrin. Da sind noch viel Gestaltungsspielräume und Lust auf Neues.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Demokratie braucht Diskussionsräume und mindestens eine Debattenkultur, am besten ganz viele, die sich bereichern und befruchten. Davon kann es in einem lebendigen Kunstbetrieb nie genug geben. Dafür benötigt es ein ehrliches und aufrichtiges Miteinander, das von verschiedensten Stimmen und Geschichten gestaltet werden darf. Überhaupt gilt es immer wieder Vertrauen zu gewinnen. Das bekommt niemand einfach so geschenkt. Leitungspersonen tragen hier die Verantwortung für einen lebendigen, künstlerischen Betrieb. Wir haben nicht nur die Vorbildfunktion auf der Bühne, wo wir mit hohem künstlerischen Risiko unsere Gesellschaft kritisch und lustvoll hinterfragen (müssen), sondern dürfen auch hinter den Kulissen nicht hinter diesen Anspruch zurücktreten.
Iris Laufenberg studierte "Drama, Theater und Medien" in Gießen. Nach Stationen in Bonn und Bremen sowie als Leiterin des Festivals Theatertreffen der Berliner Festspiele und als Schauspieldirektorin in Bern wirkt sie seit der Saison 2015.2016 als Geschäftsführende Intendantin am Schauspielhaus Graz. In Graz legt sie den Fokus verstärkt auf Neue Dramatik, u. a. durch das von ihr mitgegründete jährlich stattfindende internationale Dramatiker|innenfestival Graz, und verfolgt die Ausweitung des Stadttheaterbegriffs über inhaltliche und geografische Grenzen.
Zum Inhaltsverzeichnis mit der Übersicht über alle zehn Fragebögen
Ernst Deutsch Theater Hamburg – Isabella Vértes-Schütter
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Mein Führungsstil ist kooperativ, die Mitgestaltung aller Mitarbeitenden ist mir wichtig. Wesentlich für das Miteinander ist eine klare, von allen verbindlich akzeptierte Struktur und Kommunikation. Die Mitarbeitenden sind in die Entscheidungsprozesse eingebunden und handeln in ihrem Aufgabenfeld weitestgehend eigenverantwortlich. Die Ziele werden gemeinsam definiert und sind für alle transparent, die Prozesse werden kontinuierlich evaluiert und weiterentwickelt.
Dazu gehört eine positive Fehlerkultur, die es allen ermöglicht, selbstbewusst darüber zu sprechen, was gut oder nicht gut gelaufen ist. Eine große Rolle spielt die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Betriebsrat.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Für Veränderungen versuche ich mit Geschäftsführung und Betriebsrat einen gemeinsamen Prozess aufzusetzen, der die Expertise und Ideen aller Mitarbeitenden integriert. Hierfür nutzen wir gerne das Format des moderierten Workshops. Wir haben dabei sehr gute Erfahrungen damit gemacht, die gesamte Belegschaft einzuladen. Aber auch bei Fragestellungen, die einzelne Abteilungen betreffen, hat sich das Workshop-Format bewährt. Sehr hilfreich finde ich außerdem, zu unterschiedlichen Themen Expert*innen von außen einzuladen, die mit dem Team zusammenarbeiten.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
In den verschiedenen Bereichen des Theaters kommen Menschen mit sehr unterschiedlichen Biografien und Erfahrungen zusammen. Die Motivationen der einzelnen sind sehr unterschiedlich und die Perspektiven, aus denen sie die Theaterarbeit wahrnehmen, können sehr verschieden sein. Jeder Blickwinkel hat seine Berechtigung und nur ein gutes Zusammenspiel aller Kräfte führt zu einem guten kreativen Prozess. Hierfür ist es wichtig, dass alle Bereiche mit Respekt und Verständnis für die jeweils anderen Perspektiven miteinander umgehen, kein Bereich sollte den anderen dominieren. Wir versuchen, die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Bereichen zu stärken und gut zu organisieren. Je mehr die Bereiche voneinander wissen und sich über die Abläufe austauschen, desto besser kann die Arbeit ineinandergreifen. Am Theater ist jeder auf jeden angewiesen und jeder verdient die größtmögliche Wertschätzung.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Das Ausmaß an Grenzverletzungen verbaler, psychischer, körperlicher und sexualisierter Art, das in den letzten Jahren öffentlich geworden ist, ist erschreckend. Die Strukturen müssen sich hier grundlegend verändern, denn grenzüberschreitendes Verhalten ist an Theatern weiterhin präsent. Es ist gut, dass es seit 2018 die überbetriebliche Vertrauensstelle Themis gibt, die mit an einem Kulturwandel arbeitet. Die Unsicherheit im Umgang mit Grenzverletzungen im Kulturbetrieb ist groß, es bestehen Ängste, sich zu wehren, als "schwierig" stigmatisiert zu werden, und viele befürchten Nachteile für ihre berufliche Zukunft. Deshalb braucht es flächendeckend Sensibilisierungs- und Präventionsmaßnahmen. Am Ernst Deutsch Theater sind wir mit der Teilnahme am Projekt [in:szene] und dem Vorgängerprogramm "Orte der Vielfalt" mit externen Berater*innen aus der machtkritischen Bildungsarbeit in einen intensiven Prozess der Bestandsanalyse und Sensibilisierung eingestiegen. Die Arbeit am Selbstverständnis des Hauses in Bezug auf Diversität, Diskriminierung und Rassismus sehen wir als Chance, nachhaltige Veränderungen zu realisieren. Wir haben einen Runden Tisch zum Thema "Vielfalt" etabliert, bei dem alle Bereiche des Theaters regelmäßig im Austausch sind, Fort- und Weiterbildung wird kontinuierlich angeboten.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Ein Kodex für den Umgang miteinander ist noch nicht erarbeitet worden. Bislang gibt es ein Leitbild, das veröffentlicht ist: "Als Theater sind wir ein Forum für gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Mit unserem Programm laden wir unser Publikum dazu ein, über den Theaterbesuch hinaus aktuelle Diskussionen zu reflektieren und weiter zu entwickeln. Wir sind eine Bühne für Nachwuchskünstler*innen und schaffen dadurch Zukunftsimpulse. Wir setzen uns für eine bunte Gesellschaft, freie Kunst und freies Denken ein. Wir solidarisieren uns mit allen Menschen, die durch rechte Ideologien in ihrem Tun und Sein eingeschränkt werden. Wir beziehen Stellung gegen Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung. Wir stehen für Toleranz, Vielfalt und Respekt."
Wo ist in Ihrer Institution 'der Sitz der Macht'? Und wer sitzt dort?
Die Gesamtverantwortung für die Geschicke des Ernst Deutsch Theaters trägt die Geschäftsführung, aber die Macht sind wir alle! Das Bild zeigt einen Großteil des Ernst-Deutsch-Theater-Teams, Anlass war die Spielzeiteröffnung 19/20, die unter dem Motto "Vielfalt" stand.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen im Haus?
Wir haben 2016 eine digitale Agenda aufgelegt, die zunächst die interne Kommunikation in den Blick genommen hat. Es wurde sichergestellt, dass in allen Abteilungen PC-Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und alle wichtigen betriebsinternen Informationen im Intranet aktuell und lückenlos weitergegeben werden können. Inzwischen sind auch die Arbeitsplätze im Home-Office angeschlossen. Strukturell ist deutlich geworden, dass die digitalen Kommunikationsmöglichkeiten allen Mitarbeitenden mehr Teilhabe an den Gestaltungsprozessen ermöglichen. Im Bühnenbereich stellen die einzelnen Abteilungen Stück für Stück auf digitale Übertragungswege und Netzwerke um, die sich zukünftig auch verknüpfen lassen. In der Tontechnik wird ein Dante Netzwerk aufgebaut, das ermöglicht, Quellen-, Steuer- und Abspielgeräte an jedem Anschlusspunkt im Haus aufzubauen und zu vernetzen. Für die Videotechnik wird die Übertragung über Netzwerkprotokolle ausgebaut. Strukturell führen die Veränderungen in den bühnenbetriebstechnischen Abteilungen zu einer erhöhten Flexibilität. Bestehende Kabelwege können parallel genutzt werden und Aufbaumöglichkeiten sind variabler und schneller veränderbar bei gleichzeitig höherer Qualität. Mit der Schließung der Theater aufgrund der Corona-Pandemie haben wir begonnen, eine Digitale Bühne zu gestalten. Hierfür wurden zunächst Investitionen getätigt, um eine qualitativ hochwertige Streaming-Qualität anbieten zu können. Das Programmangebot des Theaters ist seit Monaten (Stand März 2021) ausschließlich digital, die Kommunikation mit dem Publikum läuft über die Homepage und die sozialen Medien sowie unterschiedliche Streaming-Plattformen. Es ist noch zu früh, um zu bewerten, was für strukturelle Veränderungen sich für die Zukunft des Theaters daraus entwickeln werden.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Wir leben in einer demokratischen Gesellschaft, die wir verteidigen und verbessern wollen. Wenn wir unsere Theater als Orte in der Gesellschaft begreifen, die im gesellschaftlichen Diskurs über unser Zusammenleben eine wichtige Rolle spielen, ist das nur glaubwürdig, wenn die Strukturen im Theaterbetrieb demokratisch sind. Alle Probleme, die wir in der Gesellschaft haben, haben wir auch in der Theaterlandschaft. Es gibt strukturellen Rassismus, frauenfeindliche Strukturen und soziale Ausgrenzungen, und um diese Themen müssen wir uns kümmern. Tatsächlich gibt es im Theaterbetrieb heute noch viel Despotismus, es gibt immer noch den Mythos "Demokratie hat in der Kunst nichts zu suchen". Dieser Mythos, künstlerische Prozesse seien nicht demokratisch, hält sich hartnäckig und dem müssen wir vehement entgegentreten.
Isabella Vértes-Schütter absolvierte ein Medizinstudium und eine Schauspielausbildung. Sie spielte an diversen Hamburger Theatern. Seit dem Tod ihres Mannes Friedrich Schütter im Jahr 1995 ist sie Intendantin des Ernst Deutsch Theaters. Isabella Vértes-Schütter erhielt das Bundesverdienstkreuz, den Patriziatspreis der Hamburger Oberalten, wurde 2001 als "Hamburgerin des Jahres" und 2017 als "Hanseatin des Jahres" ausgezeichnet. Über ihr berufliches Engagement hinaus nimmt sie diverse ehrenamtliche Aufgaben wahr, u.a. im Vorstand des Kulturforum Hamburg, als Vorstandsvorsitzende des Bertini-Preis e.V. und als Vorstandsvorsitzende der Stiftung Kinder-Hospiz Sternenbrücke. Seit 2011 ist sie Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft und seit 2013 kulturpolitische Sprecherin der SPD-Bürgerschaftsfraktion.
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Burgfestspiele Mayen – Daniel Ris
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Ein ethischer Führungsstil liegt mir auch durch meine eigene Theatersozialisation als Schauspieler und Regisseur besonders am Herzen. Bereits vor vielen Jahren habe ich außerdem wissenschaftlich zur Unternehmensethik für Kulturbetriebe gearbeitet, bin Gründungsmitglied und Vorstand von "art but fair" und systemischer Berater; das Thema begleitet mich also schon lange. Inzwischen bin ich selbst Intendant und bemühe mich, diesen Ansprüchen gerecht zu werden. Denn die Ideale, die auf der Bühne proklamiert werden, müssen auch im Betrieb als Werthaltungen das Handeln leiten. Die Leitungsaufgabe verstehe ich insofern als die eines Teamchefs. Das gemeinschaftliche Arbeiten steht im Zentrum. Mit allen Mitarbeitenden strebe ich eine gestärkte Partizipation an – auch, um die Kompetenzen jedes einzelnen Mitarbeitenden optimal nutzen zu können. Keiner weiß so viel wie alle! Das Argument zählt mehr als die Hierarchie. Außerdem ist mir die Transparenz von Entscheidungsprozessen wichtig: Wenn alle wissen, wie die Entscheidung entsteht und warum das Haus in bestimmter Form mit ihr umgeht, dann führt das zu einer stärkeren Identifikation mit der eigenen Arbeit und dem Theater als Ganzem.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Die erste große Veränderung entsteht in allen Häusern bereits mit jedem Intendanz-Wechsel. Insofern beginnt jede Leitungstätigkeit sofort mit der großen Herausforderung des Change Managements, das leider oft von personellen Fragen und der neuen künstlerischen Positionierung aus dem Fokus gedrängt wird. Auch durch meine Beratertätigkeit ist mir in der Theorie Vieles bewusst und klar. Trotzdem muss ich sagen, dass mir einige Prozesse im konkreten Fall selbst nicht so gelungen sind, wie ich es mir gewünscht habe. Gutes Change Management braucht besonders klare und überzeugende Vorgaben der Leitungsebene. Zudem ist in Veränderungsprozessen Kommunikation noch wichtiger als sonst. Schon im alltäglichen Betrieb mit seinem üblicherweise extrem hohen Ergebnisdruck kommt sie leider oft zu kurz. Eine intensivierte Kommunikation ist aber besonders wichtig für einen verantwortungsvollen Umgang mit Ängsten und Widerständen, die in Veränderungsprozessen häufig entstehen. Zu Beginn der Arbeit einer neuen Leitung kann eine "Open-Space-Konferenz" mit dem gesamten Haus ein starkes Signal für das gemeinsame Arbeiten sein. Das Format ermöglicht allen Mitarbeitenden einen Tag der tatsächlich hierarchiefreien Kommunikation.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Die vier Begriffe würde ich anders zueinander in Beziehung setzen. Das Miteinander der Beteiligten aus den sehr verschiedenen Bereichen Kunst, Technik und Verwaltung kann durch wertschätzende Kommunikation nachhaltig gestärkt werden. Aber wie kann man das konkret befördern? Es gibt gezielte Maßnahmen, die in den Häusern noch zu wenig Anwendung finden. Beispielweise kann ein gemeinschaftlich formuliertes Leitbild, wie ich es als Berater am Theater Erlangen entwickelt habe, der Beginn einer intensiveren Kommunikation sein. Zum ersten Mal haben wir dort an einem Theater in Deutschland mit allen Mitarbeitenden aus allen Bereichen den Diskurs darüber geführt, was für ein Theater das Haus sein und werden will. Das war ein tolles Erlebnis! Das Entscheidende ist dabei nicht die abschließend veröffentlichte Formulierung, sondern der Prozess der Verständigung über gemeinsame Werte und Ziele. Die Kommunikationsfähigkeit kann darüber hinaus auch durch andere Fortbildungen und Trainings mit Teams und Einzelpersonen verbessert werden. Die Theater haben hier noch großes Entwicklungspotential.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Ja. Aber die Organisationsstrukturen sind nur ein Aspekt. Theaterleitende sind strukturell tatsächlich oft immer noch Alleinherrschende im System. Durch diese Macht entsteht eine extrem hohe individualethische Verantwortung, die von den Personen selbst eher selten so wahrgenommen wird. Es tragen also auch die öffentlichen Auftraggeber sehr wohl Verantwortung für die Gestaltung der Strukturen der Häuser und für die Auswahl der Führungsverantwortlichen. Insofern sind die Träger meines Erachtens aufgerufen, die Perspektiven für unsere Kulturbetriebe neu zu gestalten. Dabei geht es tatsächlich auch um Werte. Ihre glaubhafte Vermittlung macht die Existenzberechtigung unserer öffentlich-rechtlichen Kulturbetriebe aus. Auch die bestehende hierarchische Struktur kann ethisch verantwortlicher gelebt werden, als es vielerorts der Fall ist. Sich zu verantworten heißt auch im Wortsinn "Antwort zu geben". Es darf für Theaterleitende künftig eben nicht mehr genügen, nur künstlerische und strategische Antworten parat zu haben.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Ja, wir haben ein Leitbild. Es wurde zu Beginn meiner Intendanz im Team gemeinsam entwickelt. Als Saisonbetrieb müssen wir in jedem Sommer neu darauf achten, dass wir alle gemeinsam einen guten Umgang miteinander pflegen. An einem festen Haus habe ich sehr gute Erfahrung damit gemacht, das Leitbild regelmäßig zu überprüfen. Wir haben beispielsweise in Erlangen mit allen Mitarbeitenden untersucht, welche Punkte des Leitbilds bereits gut umgesetzt werden, wo noch Verbesserungen notwendig sind und wie diese umgesetzt werden könnten. Es ist auch durchaus möglich, dass nach einem "Realitäts-Check" einzelne Formulierungen eines Leitbildes wieder verändert werden müssen. Entscheidend ist auch hier der dynamische Prozess.
Auf diesem Bild sitze ich in unserem Zuschauerraum. Für eine Interpretation stehe ich jederzeit gern zur Verfügung.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Die Burgfestspiele sind als Freilichtbühne ein Saisonbetrieb. Wir bedienen uns der gängigen digitalen Kanäle für die Kommunikation mit dem Publikum. Eine digitale Strategie im Sinne der Erfindung neuer Kunstformen gibt es bei uns aber noch nicht.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Das ist eine interessante Art der Fragestellung, denn sie impliziert, dass es sich dabei um eine schwierige Herausforderung handelt. Noch heute wird das Scheitern des Frankfurter Mitbestimmungsmodells in den siebziger Jahren gern als Beweis bemüht, wenn es darum geht, mit einem bedauernden Seufzer die Unmöglichkeit von Reformen für unsere Theaterbetriebe zu konstatieren. Mir scheint das auch Ausdruck einer überholten Grundhaltung zum kreativen Prozess zu sein: Der einsame Genius führt seine Jünger mit harter Hand durch einen Prozess des individuellen Leidens bis zum künstlerischen Triumph. Selbst wenn dem so wäre – was ist die Botschaft? Der gute Zweck heiligt die schlechten Mittel? Kann das eine Werthaltung sein, für die Theater einen öffentlichen Auftrag verdienen? Wenn wir diese Haltung endlich aufgeben, können wir uns auf den Weg der Demokratisierung machen. Es ist dringend notwendig.
Daniel Ris ist Schauspieler, Regisseur, Autor, Berater und seit 2016 Intendant der Burgfestspiele Mayen. Nach Abschluss des Schauspielstudiums in Bochum 1990 und verschiedenen Fest-Engagements begann er im Engagement in Konstanz auch zu inszenieren. 2011 schloss er mit Auszeichnung als Executive Master in Arts Administration an der Universität Zürich ab. Er ist Gründungsmitglied und Vorstand von "art but fair". 2015 folgte die Weiterbildung Systemisches Coaching der Fachhochschule Potsdam. Als Berater ist er u.a. für das Kulturreferat München, die Münchner Kammerspiele, das Theater Erlangen, das Oldenburgische Staatstheater, das Thalia Theater Hamburg und die Stage Entertainment GmbH tätig.
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Theater Plauen-Zwickau – Roland May
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Theater ist Laboratorium sozialer Phantasie und Repertoirebetrieb in einem. Dabei geht es um größtmögliche Freisetzung von Kreativität und Phantasie bei allen Beteiligten und die Organisation eines anspruchsvollen und differenzierten Produktionsbetriebes. Wichtig sind Freundlichkeit, Diskussionskultur, Subsidiarität, verlässliche strukturelle Abläufe, Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, Informationsmanagement nach innen und außen. Ich setze auf Teamarbeit. In regelmäßigen, zeitlich definierten Leitungs- und weiteren Runden werden die definierten Themen abgearbeitet und es findet ein produktiver Austausch sparten-, abteilungsübergreifend statt, der jedem die Versicherung gibt, dass seine Stimme auch für alle Bereiche des Theaters wichtig ist, wenngleich die Entscheidungen letztlich von den dazu vertraglich verpflichteten Personen getroffen werden.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Wenn klar ist, um welche Veränderungen es geht: Evaluation von notwendigen Abläufen, Planung von Verantwortlichkeiten und Fristen; Monitoring des Ablaufs, kritische Diskussion zwecks Verbesserung, Zwischenauswertungen und ggf. Anpassung und Veränderung von Abläufen. Wichtig sind uns die Beschreibungen und die Kritik an unserer Arbeit, die dann auch zu Veränderungen führen kann. Gremien hierfür sind: Zuschauerkonferenzen, die Fördervereine, der Aufsichtsrat, soziale Medien und der direkte persönliche Kontakt mit den Besucherinnen und Besuchern im Umfeld von Veranstaltungen und bei öffentlichen Premierenfeiern.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Ziel ist das Ermöglichen von Produktionsabläufen mit dem Ziel von Aufführungen und einhergehender sozialer Kommunikation. Dabei sollte jedem einzelnen Mitarbeitenden seine Einzigartigkeit und Wichtigkeit im Ablauf gespiegelt werden. Strukturierte frühzeitige Informationen und der gegenseitige Austausch sind dabei ebenso elementar wie die Beschäftigung mit ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten und Spezifika von Abteilungen und Sparten. Die Sparten- und Abteilungsleiter sind eingeschworen auf die Freisetzung von Kreativität, auf Fördern und Fordern. Unser gemeinsames Ziel ist ein hochqualitatives künstlerisches Angebot für alle Bevölkerungsteile der Regionen unter besonderer Fokussierung auf die Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Was ich in der ganzen Diskussion vermisse: Auch zeitlich befristete künstlerische Verträge kommen zustande auf der Grundlage gegenseitiger Verabredungen. Je konkreter ich als Vertragspartner meine Vertragsinhalte in den Vertrag implementiere, desto mehr entsteht Berechenbarkeit für den Vertragsverlauf. Eigene ethische Normen und die Gesetzgebung geben das Grundgerüst für die immer neuen Begegnungen im Arbeitsprozess. Für die künstlerische Arbeit braucht es einen gegenseitigen Vertrauensvorschuss. Hier gibt es aber eine besondere Fürsorgepflicht der künstlerischen Leiterinnen und Leiter für den äußerst sensiblen Kommunikationsprozess, der auf den Proben stattfindet, und der sich durch seine auch teils persönlichen, intimen Implikationen grundlegend unterscheidet von Arbeitsabläufen in Wirtschaft, Handel und Behörden. Zu diesen Themen beobachte ich seit einigen Jahren einen sehr differenzierten Diskussionsprozess in der Öffentlichkeit, der zu wichtigen neuen Sichtweisen und Erkenntnissen führt, aber auch zu groben Vereinfachungen bis zur Unsachlichkeit.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Grundsätzlich versuchen wir mit der Leitung des Theaters ein Vertrauensverhältnis zu vermitteln. Alle Beschwerden und Anfragen werden sehr ernst genommen und intensiv bearbeitet. Wir arbeiten eng mit dem Betriebsrat zusammen, der einen hohen Stellenwert am Theater genießt. Der wertebasierte Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins von 2018 wurde der Belegschaft zur Kenntnis gegeben. Generell regelt das Grundgesetz der Bundesrepublik das Zusammenleben in unserem Land und damit auch das Zusammenleben an unserem Theater. Die neuerliche Beschäftigung mit dem Themenkomplex dieser Umfrage hat auch einen neuen Diskussionsprozess in der Leitungsebene des Theaters ausgelöst, inwiefern auch nach den aktuellen Entwicklungen an anderen Theatern hier weiterer Handlungsbedarf entsteht.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Das Theater hat eine Geschäftsführerin und einen künstlerischen Leiter mit der Bezeichnung Generalintendant. Das GmbH-Gesetz, die Inhalte des Gesellschaftsvertrages und die Dienstverträge dieser beiden strukturieren die Leitungskompetenzen für die oberste Führung des Theaters. Macht hat jedoch letztlich jeder Beschäftigte auf der Grundlage seines Vertrages.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Die digitale Arbeit seit der Corona- Pandemie hat alle Sparten erfasst und ist über die vergangenen Monate deutlich intensiviert worden. Hier bringen sich nicht nur die Künstlerinnen und Künstler ein, sondern auch, mit eigenen künstlerischen Wortmeldungen, alle Bereiche des Theaters. Homeoffice und Digitalkonferenzen prägen unseren Alltag. Die Konferenzen laufen durch die notwendige Sitzungsführung stringenter und zielführender ab, sparen aber leider die nonverbale Kommunikation aus. Bei einem Theater mit zwei Städten bieten die digitalen Möglichkeiten insgesamt einen großen Effizienzgewinn. Das Theater sendet darüber hinaus auf vielen Kanälen der sozialen Medien.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Der Bund, die Länder, die Städte betreiben in unserem Land Theater und Orchester auf demokratischer Grundlage. Theaterleiterinnen und Theaterleiter werden befristet berufen, die Mitbestimmung ist im Betriebsverfassungsgesetz geregelt. Die tariflichen Verabredungen zur Arbeit von Spartensprechern werden immer differenzierter. Künstlerische Prozesse in die Sphäre demokratischer Mehrheitsfindung zu verlagern ist lebensfremd. Künstlerische Arbeit impliziert subjektive Setzungen, die im kollektiven Schaffensprozess im besten Fall eine Transformation zu einem einzigartigen Kunstwerk erfahren.
Roland May absolvierte eine Schauspielausbildung an der Theaterhochschule in Leipzig und das Studio im damaligen Karl-Marx-Stadt. Anschließend war er am Theater in Erfurt und am Staatsschauspiel Dresden engagiert. Seit 1988 arbeitete er als freischaffender Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner sowie Schauspieler in Berlin, Leipzig, Dresden, Frankfurt/Oder, Würzburg, Rostock, Meiningen und Greifswald. Von 1991 bis 1993 war er als Schauspieldirektor am Vogtlandtheater Plauen engagiert. Neben der Theaterarbeit spielte Roland May in zahlreichen Film- und Fernsehproduktionen. Von 2001 bis 2009 war er Intendant und Geschäftsführer des Gerhart-Hauptmann-Theaters Zittau. Seine Inszenierungen wurden in den letzten Jahren in zahlreichen Umfragen für Preise nominiert. Seit der Spielzeit 2009/10 ist Roland May Generalintendant und Schauspieldirektor am Theater Plauen-Zwickau.
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Landestheater Schwaben – Kathrin Mädler
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Alle Mitarbeiter*innen am Theater sind Idealist*innen, sie bringen ihre Kreativität und ihre Leidenschaft ein. Sie müssen nicht vom Sinn unserer Arbeit überzeugt werden, höchstens von der gemeinsamen Laufrichtung. Einen offenen, angstfreien und inspirierenden Raum zu schaffen, in dem es möglich ist, Mut zu fassen, verrückte Dinge zu tun, sich mit der eigenen Empfindsamkeit auszuprobieren – das ist die Aufgabe der Theaterleitung. Wir arbeiten mit starken, eigenwilligen Persönlichkeiten, die eben diese Persönlichkeit in der Arbeit dauernd anzapfen und zur Disposition stellen müssen. Jede Produktion schafft neue Konstellationen von Zusammenarbeit, beginnt an einem Nullpunkt und erfordert, aus dem Nichts große Schaffenskraft und Vision zu entwickeln. Dieser Prozess braucht so viel Freiheit und Ermutigung wie möglich und so viel verlässliche Struktur wie gerade nötig. Theater ist eine Gemeinschaftskunst, die nur in einem kooperativen Miteinander die Chance hat zu entstehen und zu blühen.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Als offenen Prozess des Staunens, Erschreckens, Entdeckens und Lernens. Manchmal kollektiv, manchmal von einer Person angeführt, manchmal hinterherstolpernd und manchmal selbstbewusst innovativ. In jedem Fall im Bewusstsein, dass der Prozess nie abgeschlossen ist. Durch unser Wissen um die Fragilität, die Komplexität und das Überraschungsmoment des künstlerischen Prozesses sind wir am Theater ganz gut aufgestellt, was Sensibilität, Flexibilität und Risikobereitschaft in Veränderungsprozessen angeht. Und wir haben Freude am Plötzlichen, Unerwarteten.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Das Schönste am Organismus Theater ist ja die Vielfalt der Gewerke, Abteilungen, Menschen, die alle mit ihrer spezifischen Expertise, mit ihren unterschiedlichen Blickwinkeln und Haltungen, mit ihren ästhetischen und praktischen Vorstellungen am Gemeinschaftsprojekt Inszenierung zusammenwirken, um leuchtende Kunst zu schaffen. Und das Mittel, sie zusammenzubringen, ist die Kommunikation. Wenn sie geprägt ist von Respekt vor dem unterschiedlichen Können, vor der hohen Emotionalität unserer gemeinsamen Suche und vor der Möglichkeit des Scheiterns aller Beteiligten – dann hat man eine gute Chance auf einen aufregenden und häufig beglückenden Prozess.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Jede Form von Verletzung, von Machtmissbrauch, von Manipulation, die im sensiblen Prozess Theater passiert, ist für ihn existentiell schädigend und zutiefst enttäuschend – weil es im Kern der Theaterkunst um Empathie, Sehnsucht und Utopie geht. Traurig, wenn wir da so radikal scheitern. Es ist eine sehr gute Entwicklung, dass dieses Scheitern in der letzten Zeit deutlich benannt und zunehmend bearbeitet wird – wenn auch noch nicht genug. Zu häufig wird Verantwortung immer noch als Macht genutzt. Je diverser die Aufstellung der Teams an Theatern ist, desto größer die Chance, dass Positionen in Frage gestellt, dass Strukturen sich verändern und Prozesse neu gedacht werden. Eine Tatsache lässt sich nicht aus der Welt schaffen: Gute Führung bleibt immer auch eine Frage souveräner Persönlichkeiten.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Wir haben in einem gemeinsamen Prozess mit allen Mitarbeiter*innen des Hauses den wertebasierten Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins für unser Haus interpretiert, diskutiert und ergänzt und so einen eigenen, von allen unterzeichneten Wertekodex erarbeitet, der für uns und alle Gäste gilt. Durch die gemeinsame Erarbeitung gibt es eine hohe Identifikation mit dem Kodex und die Selbstverantwortung, ihn umzusetzen. Zwei gewählte Vertrauenspersonen sind Ansprechpartner*innen für Vorfälle im Haus, und wir versuchen, in unser zahlenmäßig kleinen Belegschaft (55) ein sehr enges Kommunikationsnetz über Jour Fixes, Vollversammlungen, Mitarbeiter*innentage zu pflegen, das eine Atmosphäre von Offenheit und Vertrauen schafft.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Der Sitz der Macht ist die leere Bühne, die mit herausragender Kunst zu füllen ist. Ihr ordnen wir uns alle (hoffentlich meist freudvoll) unter. Diese Macht hat uns zusammengeführt, lässt uns manchmal leiden und verlangt uns viel ab. Aber wenn wir uns ihr möglichst gleichberechtigt unterordnen, erzeugt sie ziemlich viel Energie und produktive Kraft. Und eine große Freude, sich ihrer Unplanbarkeit, dem überraschenden Moment im Entstehungsprozess komplett zu unterwerfen. Die Theaterleitung muss dann manchmal letzteren organisieren.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Wir arbeiten dran, zum Beispiel haben wir seit dem letzten Jahr WLAN in der Theaterwohnung. Nein, im Ernst: Als extrem kleines Haus mit extrem begrenzten Mitteln sind wir noch weit entfernt von einer digitalen Strategie. In der Erleichterung des operativen Geschäftes, gerade bei der geringen Personaldichte, bräuchten wir hier dringend noch zusätzliche Power, die wir uns von der nun erhaltenen DIVE IN Förderung erhoffen. Im Künstlerischen bietet das Digitale Möglichkeiten und Herausforderungen, die wir sehr langsam beginnen zu entdecken.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Definitiv mehr Demokratie als Diktatur. Der Entstehung des Theaters gemeinsam mit der Demokratie sind wir nach wie vor verpflichtet. Aber die Polis Theater benötigt auch sehr viele mündige Bürger*innen, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und konstruktiv für die Zukunft zu denken und sich selbst komplett an die Sache zu verschenken. Ich halte die Theater immer noch für die freiesten und offensten Räume unserer Gesellschaft, in denen sehr viel Selbstverwirklichung, Verrücktheit, Eigensinn und wildes Denken möglich ist – vor, auf und hinter der Bühne.
Kathrin Mädler ist seit 2016 Intendantin des Landestheaters Schwaben in Memmingen. Sie studierte Dramaturgie, Theaterwissenschaft und Komparatistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Bayerischen Theaterakademie August Everding sowie in Cincinnati, Ohio. Sie war Regieassistentin am Staatstheater Karlsruhe und am Burgtheater Wien. Im Anschluss an das Dramaturgie-Diplom 2002 folgten ein einjähriger Forschungsaufenthalt an der University of California Irvine und die Promotion “Broken Men – Sentimentale Melodramen der Männlichkeit” (Schüren, 2008). An der LMU München bildete sie sich 2015 im Theater- und Musikmanagement weiter. Von 2005 bis 2012 war Kathrin Mädler Schauspieldramaturgin und Regisseurin am Staatstheater Nürnberg, 2012 bis 2016 war sie als leitende Schauspieldramaturgin und Regisseurin am Theater Münster tätig.
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Zimmertheater Tübingen - Dieter Ripberger und Peer Mia Ripberger
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Für unsere Arbeit haben wir ein Ideal formuliert, dem wir uns immer weiter zu nähern versuchen – in dem Wissen, dass wir es nie ganz erreichen werden. Dieses Ideal lässt sich wahrscheinlich am besten mit dem Begriff "post-genial" zusammenfassen. Wir legen ihn sämtlichen Bereichen des Theaters zugrunde: Sei es in den künstlerischen Produktionen, den Kommunikationsvorgängen nach außen wie nach innen, der Kulturvermittlung – und vor allem in der Führung des Hauses. Was verbirgt sich hinter diesem Begriff? Auf den Führungsstil bezogen bedeutet er: Ich halte mich nicht für so genial, dass ich immer die beste Lösung für alles habe, im Gegenteil. In unserer Lesart steht er außerdem für die Notwendigkeit von größtmöglicher Transparenz, Dialogbereitschaft, wechselseitigen Feedbackprozessen und Fehlerkultur auf allen Ebenen. Das setzt einen ehrlichen, achtsamen, verständnisvollen und empathischen Umgang miteinander voraus. Daraus folgt wiederum die Eigenverantwortlichkeit und das Selbstvertrauen der Kolleg*innen.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Wenn man Veränderung als potentiell bedrohlich beschreibt, ist sie es auch. Veränderung ist unser Programm – und eine Haltungsfrage, dadurch nutzen wir alle ihre Potentiale positiv. Wir betreiben die strukturelle Abschaffung des Normalfalls, womit nicht gemeint ist, dass Routinen, Abläufe und Prozesse passé sind. Gerade im Gegenteil: Um dauerhaft auf Veränderung und Innovation eingestellt zu sein, braucht es ein Höchstmaß an Strukturen, die diese Offenheit rahmen. Nur im intensiven Dialog, durch interne Aushandlung in regelmäßigen Vollversammlungen, Gremien und Arbeitsgruppen, aber auch durch öffentliche Aushandlung wird Veränderung im Dialog mit allen Akteur*innen gestaltbar. Ganz konkret wird das auch in unserer Programmatik lebendig, die den Diskurs in und mit der Öffentlichkeit in laufenden künstlerischen Produktionsprozessen als zentrale Säule des künstlerischen Programms begreift.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Erwartungen, Notwendigkeiten und Bedarfe unterscheiden sich hier natürlicherweise – der Theaterorganismus lebt in ständigen Zielkonflikten. Es geht daher immer darum, Kompromisse zu finden, bzw. das Theater als Aushandlungsort zu betrachten. Hier hilft das Prinzip der Post-Genialität und gelebter, respektvoller Umgang mit allen Mitarbeitenden. Dazu gehört die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, zur Antizipation, zum Interesse an den Arbeitsfeldern der Kolleg*innen. So können Nähe und Zugewandtheit entstehen, die die Grundlage für Flexibilität und Kompromisse schaffen. Höchste Professionalität, Standardisierung des Standardisierbaren und klare Struktur von Kommunikations- und Arbeitsabläufen sind Basis für die Bewältigung von Unvorhersehbarkeiten und Krisen. Unser Anspruch ist, dass wir diese Disziplin vorleben, und dies mit Freundlichkeit und Fehlertoleranz verbinden.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
Ja und nein. Es wäre völlig verkürzt, diese Vorfälle als menschliche Einzelabgründe zu beschreiben. Aus ihnen jedoch die notwenige Abschaffung von Leitungspositionen zu folgern, wäre ebenso verkürzt. Die Frage sollte sein: Wie lassen sich Machtgefüge so strukturieren, dass die Gelegenheit zu und die systemische Toleranz von Missbrauch nicht gegeben sind? Hier steht eine tiefgreifende Umstrukturierung des landläufigen Theaterverständnisses an: Weg vom Personenkult um pseudo-geniale Individuen. Ganz deutlich: Machtmissbrauch ist nicht zu tolerieren. Auch zeitgemäße Führung und Formen der geteilten Leitungsaufgaben, z.B. in Direktorien, basieren auf Macht – da muss man sich nichts vormachen. Den Missbrauch deutlich zu markieren und Checks and Balances im Betrieb zu etablieren, ist daher eine notwendige, aber nicht hinreichende Strategie. Standard sollte künftig sein, dass Leitungen – in welcher Form auch immer – ihre Führungskompetenz durch Erwerb entsprechender Zertifikate und die Bereitschaft zu Supervision und Weiterbildung nachweisen und schulen. Dass dies bislang zu wenig der Fall und für Besetzungsverfahren ein nachrangiges Kriterium zu sein scheint, ist Mitauslöser der Misere. Die Schieflage lässt sich aber so allein noch nicht bewältigen: Einhergehend mit der post-genialen Leitung müssen auch das Selbstverständnis der Ensembles, der Gewerke und der Stakeholder in Bewegung geraten. Mehr Dialog und Teilhabe bedeuten mehr Verantwortung, mehr Teamfähigkeit und weniger Genie und Eitelkeit bis weit ins künstlerische Schaffen und die Programmatik hinein.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Es gilt bei uns der Verhaltenskodex des Deutschen Bühnenvereins. Darüberhinaus hat sich eine Arbeitsgruppe gegründet, die diesen Kodex permanent auf die Besonderheiten des Zimmertheaters überprüft und ggf. verändert. Die Ergebnisse werden dann in der Vollversammlung diskutiert. Ansonsten gilt die Maxime: Verhalte dich so, dass auch der / die Kolleg*in nach dir die Kaffeemaschine so vorfindet, dass der Milch- und Wassertank gefüllt sind und die Tropfschale geleert ist.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Das Foto entstand am Ende unserer ersten Spielzeit. Es war die letzte Woche vor der Sommerpause. Wir haben besprochen, wer sich in der Aufräumwoche worum kümmert: Drei Tage lang haben wir gemeinschaftlich unser Theater gehegt und gepflegt, die Gästezimmer und Bühnen überprüft, die Gemeinschaftsküchen inventarisiert. Der eine Co-Intendant sitzt, hört zu und denkt; der andere Co-Intendant kniet und schreibt auf. Dem Dramaturgen fällt ein: "Wir müssen die neuen Matratzen in den renovierten Gästezimmern einmal pro Spielzeit wenden, damit die möglichst lange halten." (Und entwickelt hurtig und gut schwäbisch ein System für das systematisch dokumentierte Quer- und Längsdrehen in den acht Gästezimmern.)
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
Wir integrieren die Potentiale der Digitalität ins Analoge. Wenn wir mit VR arbeiten, dann beispielsweise so, dass das Publikum leiblich kopräsent im szenografisch gestalteten Raum ist und eine VR-Brille aufhat. Die Isolation resp. den Transfer von Theater ins rein Digitale beobachten wir mit Neugierde und einer gehörigen Portion Skepsis.
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Wir wollen uns ja nicht gleich zu einem Staat erklären… Da sich jedes Theater – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – in einem demokratisch organisierten Staat befindet: Viel! Nach wie vor ist es so, dass weite Teile der Bevölkerung die öffentliche Förderung von Kultureinrichtungen befürworten, selbst wenn sie die Angebote gar nicht wahrnehmen. Insofern ist die Staatsform Demokratie gut für die Kultur. Wir sollten aber an den langsam verwitternden Fundamenten dieses Rechtfertigungskonsens' arbeiten und nach Dialog- und Anschlussfähigkeit unserer künstlerischen Arbeit für möglichst weite Teile des gesellschaftlichen Selbstverständigungsgesprächs streben. Das heißt nicht Marktgängigkeit – aber das heißt: raus aus der Selbstzufriedenheit. Und das erreichen wir nur durch ein durch und durch post-geniales Theaterverständnis. Für die Mitbestimmung innerhalb des Hauses als "System miteinander kommunizierender Röhren" kann es funktionierende Wege schaffen, ohne dass der künstlerische Anspruch auf der Strecke bleibt. In unseren Stückentwicklungsprozessen und den damit einhergehenden wöchentlichen Diskursveranstaltungen entstehen die einzelnen Produktionen und der Spielplan als Ganzes im Dialog mit allen Beteiligten und der Öffentlichkeit – ganz organisch.
Peer Mia Ripberger ist Co-Intendant*in des Tübinger Zimmertheaters. Nach dem Studium in Hildesheim und Zürich "Inszenierung der Künste und der Medien" mit den Fächern Theater, Literatur, Philosophie und Kulturpolitik beginnt bereits während des Studiums die künstlerische Tätigkeit. Engagements als Regisseur*in und Autor*in führen zu Arbeiten an Theatern u.a. in Augsburg, Trier, Hamburg und Göttingen. Peer Mia Ripberger war Mitglied der künstlerischen Leitung der Theaterwerkstatt Pilkentafel in Flensburg und übt zudem verschiedene Jury-Tätigkeiten aus, unter anderem für den Fonds Darstellende Künste. Die Intendanz wurde kürzlich bis 2024 verlängert.
Dieter Ripberger ist Co-Intendant des Tübinger Zimmertheaters. Er studierte Philosophie, Musik und Kulturmanagement an der Universität Hildesheim und ist Absolvent des Executive Master in Arts Administration der Universität Zürich. Er arbeitete als Referent des Intendanten, Betriebsdirektor, Dramaturg und Projektleiter am Theater Konstanz, Theater Lindau, Thalia Theater Hamburg und für die ZEIT-Stiftung. Zuletzt war er als Referent für Kulturpolitik im Deutschen Bundestag beschäftigt. Er ist Mitgründer des dt.-schweizerischen brainpools für Kulturberatung modul33. Die Intendanz wurde kürzlich bis 2024 verlängert.
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Schauspielhaus Zürich – Benjamin von Blomberg, Katinka Deecke, Nicolas Stemann
Wie führen Sie Ihr Haus? Beschreiben Sie kurz Ihren Führungsstil und die Werte, die ihm zugrunde liegen.
Wir arbeiten daran, den klassischen hierarchischen Strukturen im Theaterbetrieb einen an Kollektiv, Teilhabe und Transparenz orientierten Arbeitsstil entgegenzusetzen. Weg vom autoritären hin zu einem sozialen Umgang mit ausdrücklichem Interesse an der Expertise des*r Einzelnen. Hierfür ist es wichtig, dass sich die Mitarbeitenden auf allen Ebenen ermutigt fühlen, sich einzubringen. Wir orientierten uns an Erfahrungen im künstlerischen Arbeiten: das Kollektive des künstlerischen Prozesses, der im Idealfall dadurch produktiv wird, dass verschiedene Expertisen zusammenkommen, sich ergänzen, durchdringen, befruchten – diese Synergie wird unterbunden, wenn ein Regie/Führungs-Stil zu autoritär ist und zu viel Unterordnung verlangt. Wir möchten diese Erfahrungen auch auf den ungleich komplexeren, größeren, diverseren Rahmen der Institution übertragen. Das ist ein langfristiger Prozess, der sich noch am Anfang befindet. Was wir anstreben, ist eine Führungskultur, in der Entscheidungen nicht nur allein von oben getroffen werden. Und wenn, dann im Abgleich mit den Expertisen und Einschätzungen der Beteiligten. Der Betrieb soll in der Lage sein, immer wieder auch dezentral gesteuert zu werden. Es soll nicht nur eine Linie geben, sondern eine Vielfalt von Meinungen, Temperamenten und Haltungen. Entsprechend erwarten wir vom Einzelnen kein Sich-Unterordnen unter das eine Ziel, sondern ein Sich-Einbringen in organische Prozesse – was auch Widerspruch und Verbesserungsvorschläge beinhalten kann. Das macht die Dinge komplizierter, aber langfristig, so unsere Überzeugung, wird sich das auszahlen.
Wie gestalten Sie an Ihrem Haus Veränderung?
Die Veränderung beginnt damit, dass wir nicht ein Intendant sind, sondern zwei. Wir arbeiten nicht mit einem oder zwei Hausregisseur*innen, sondern mit acht, die vor Ort ansässig sind, was eine ganz andere Einbindung in die Gestaltung der Institution ermöglicht als der normale Betrieb mit Gastregisseur*innen.
Konkrete Maßnahmen darüber hinaus:
- Seit Beginn der Intendanz arbeiten Mitarbeitende aus verschiedenen Abteilungen in Arbeitsgruppen zu Nachhaltigkeit, Probenzeiten, Race/Class/Gender, Label/Wegweiser, Kinder&Theater sowie Touring/Gastspiele.
- Das zentrale Leitungsgremium des Schauspielhaus Zürich ist das Direktorium, zusammengesetzt aus 11 Leitungspersonen der verschiedenen Bereiche (Intendanz, Theaterpädagogik, ÖA, KBB, Dramaturgie, Fundraising, Technik und Verwaltung).
- Die Direktoriumssitzung ist für zwei Beisitzer*innen geöffnet, die sich einbringen sollen. Anmelden kann sich jede*r aus dem Betrieb.
- Für betriebsinterne Konflikte und Beschwerden in Hinblick auf Diskriminierung, Mobbing und Ähnliches haben wir eine externe Agentur als Ansprechpartnerin eingesetzt.
- Während der Pandemie haben wir die Mitarbeiter*innen-Umfrage als neues Instrument der Beteiligung etabliert.
- In der Spielzeit 2020/21 haben wir auf Direktoriumsebene mit antirassistischer Arbeit begonnen, die nun auf Ensemble und Regie und dann auf weitere Abteilungen des Hauses ausgeweitet wird.
- Ab der Spielzeit 2021/22 werden Hospitant*innen bezahlt.
Was sind die Herausforderungen in der Zusammenarbeit zwischen den vier zentralen Bereichen eines Theaters – Kunst, Technik, Verwaltung und Kommunikation – und wie begegnen Sie ihnen?
Es gibt einen regelmässig tagenden Think Tank "Philosophie des Produzierens", dem die beiden Intendanten, die Disponentin, der Betriebsdirektor, der Verwaltungsdirektor, die leitende Dramaturgin und der Technische Direktor angehören. Widersprüche in der Zusammenarbeit von Kunst, Technik und Verwaltung werden hier besprochen. Folgende Massnahmen wurden bereits umgesetzt:
- Verlängerung der Probenzeit auf 9 Wochen
- Erhöhung Schliesstage/Produktion von 3 auf 4
- Darsteller*innen machen max. 3 Produktionen/Spielzeit
- Assistent*innen haben samstags frei (bis zu den Bühnenproben)
- 1 Arbeitstag/Woche probenfrei
- Gespräche mit der Beleuchtung über Verträge, um unklare Positionen zwischen Kunst+Technik zu sortieren.
- Jede Inszenierung wird initiiert durch 2 Sitzungen: Eine direkt nach der Stofffindung zur Abstimmung über die Prämissen der Arbeit, die zweite zur Terminierung der Bauprobe & zur Entscheidung über Touring-Kategorie
- Produktionsleiter*innen begleiten organisatorisch anspruchsvolle Projekte
- Neue Assistent*innenposition "Flexi" für die Ausstattung
Weitere Massnahmen:
- Neuordnung des Fundus nach postkolonialen Kriterien
- Für jede Produktion gibt es eine "Triangel" aus Dramaturg*in, Theaterpädagog*in und Audience Developer*in für spezifische Kommunikationsformate
- Dramaturgie, ÖA und Theaterpädagogik wurden zur Abteilung "Dramaturgie und Kommunikation" zusammengelegt
Ein wichtiger Schritt ist auch, dass wir Darsteller*innen nicht "besetzen", sondern Zusammenarbeiten vorgeschlagen werden, die auch abgelehnt werden können.
In den letzten Jahren werden Fälle von Machtmissbrauch an Theatern verstärkt diskutiert. Sind sie Zeichen einer strukturellen Schieflage?
An verschiedenen Stellen wurde bereits analysiert, warum Theater mit ihrer Mischung aus intimer künstlerischer Zusammenarbeit und einem gleichzeitigen Abhängigkeitsverhältnis bei prekärem Arbeitsmarkt Felder sind, die Machtmissbrauch begünstigen. Dieser ist meist ein blinder Fleck, der von "genialer Kunst, die eben Opfer fordert" oder ähnlichen Konstrukten kaschiert wird. Kurz: Ja, es handelt sich hier auch um ein strukturelles Problem, dessen Bekämpfung zwar im Benennen und Verhindern der Fehlleistung Einzelner ihren Anfang hat, jedoch gewiss nicht ihr Ende. Ein Ziel sollte sein, die Räume, in denen Kunst entstehen kann, zu erhalten, auch in ihrer Irrationalität, Hitze, Intimität. Hierfür ist jedoch ein Klima von Angstlosigkeit und Vertrauen Prämisse und das Benennen und Bekämpfen solcher Missstände unbedingte Voraussetzung.
Gibt es an Ihrem Haus einen Kodex für den Umgang miteinander? Wie stellen Sie sicher, dass (diese) Regeln befolgt werden?
Unsere Vision des kollektiven Gestaltens dieser Institution führte zu der Entscheidung, einen solchen Kodex nicht a priori – und damit wieder nur von oben – zu formulieren, sondern in und mit der Institution und den Menschen, die sie ausmachen. Dies (und die Beanspruchung durch die Corona-Pandemie des letzten Jahres) haben dazu geführt, dass ein solcher Kodex bislang nicht ausformuliert vorliegt. In einigen Monaten sind wir weiter.
Wo ist in Ihrer Institution ‘der Sitz der Macht’? Und wer sitzt dort?
Siehe Zeichnung von Nicolas Stemann.
Wie sieht Ihre digitale Strategie aus? Verändert sie die Strukturen am Haus?
(Kommentar Nicolas Stemann: Haben wir eine digitale Strategie? Ich bin immer froh, wenn das WLAN im Intendanz-Zimmer funktioniert…)
Wir versuchen eine Balance zwischen der Liebe von Theaterschaffenden zum Analogen und den Möglichkeiten des Digitalen zu finden. Wir arbeiten z.B. am Einsatz der Kommunikationsplattform Slack im gesamten Betrieb und planen ein Infrastruktur-Investitionsprojekt zum dauerhaften Einbau einer hochwertigen Streaming-Technologie (über die Corona-Zeit hinaus).
Wie viel Demokratie verträgt der Theaterbetrieb?
Zunächst: Kunst ist nicht demokratisch. Künstlerische Prozesse und überraschende künstlerische Ergebnisse lassen sich nicht in Form von Abstimmungen erreichen. Dennoch, so unsere Erfahrung, ist es im Sinne eines solchen Ergebnisses, wenn jede*r der daran Beteiligten die Möglichkeit hatte, sich einzubringen und niemand sich übergangen oder zu etwas gezwungen fühlt. Wenn das "Wir", das auf der Bühne behauptet wird, tatsächlich die Chance bekam, eines zu sein. Theater ist zwar nicht wirklich demokratisch – aber kollektiv, d.h. es beruht im Idealfall auf tiefer Freiheit und Freiwilligkeit. Ähnliches gilt für den Betrieb. Im Sinne der Verlässlich- und Planbarkeit braucht es Strukturen und die sind meist hierarchisch. Man kann nicht in jedem Detail alle nach ihrer Meinung oder Zustimmung fragen. Dennoch ist es nicht nur im Sinn eines menschlichen Umgangs, sondern auch im Sinne einer für das Theater immanenten Aura wichtig, hier möglichst jede*n mitzunehmen – die Optionen zu eröffnen, die es für den*die Einzelne*n gibt, "Nein" zu sagen. Diese Prozesse zu koordinieren und zu moderieren, ist anspruchsvoll. Dennoch ist es das, was ein Theater ausmacht, das nicht weiter eine himmelschreiende Diskrepanz zwischen Inhalt und Form hinnehmen will. Denn zu "Form" zählt im 21. Jahrhundert auch jene hinter den Kulissen, die "Form der Produktion".
Katinka Deecke (geb. 1980 in Hamburg) studierte nach einer Tanzausbildung Französische Literatur in Paris und Theaterwissenschaften in Frankfurt. Bevor sie 2012 als Operndramaturgin ans Theater Bremen von Michael Börgerding ging, war sie Produktionsleiterin des internationalen Kunstprojektes 80*81 von Georg Diez und Christopher Roth in Berlin. 2015 ging sie als Dramaturgin mit Benjamin von Blomberg an die Münchner Kammerspiele und war 2018 in derselben Funktion bei der ersten Ruhrtriennale von Stefanie Carp beteiligt. Seit 2019 ist sie Leitende Dramaturgin am Schauspielhaus Zürich.
Benjamin von Blomberg (geb. 1978) studierte historische Musikwissenschaften, Germanistik und Betriebswirtschaftslehre in Hamburg und war zu Studienzeiten Mitbegründer der freien Operngruppe evviva la diva. Als Dramaturg am Schauspiel war er erstmals am Thalia Theater Hamburg tätig, 2012 ging er zusammen mit dem Intendanten Michael Börgerding als Chefdramaturg und Leiter der Sparte Schauspiel ans Theater Bremen, 2015 dann als Chefdramaturg an die Münchner Kammerspiele. Seit 2019 leitet Benjamin von Blomberg als Co-Intendant das Schauspielhaus Zürich gemeinsam mit Nicolas Stemann.
Nicolas Stemann, geboren 1968 in Hamburg, ist Regisseur, ein Tätigkeitsfeld, das für ihn auch Schreiben, Komponieren sowie Auftritte als Musiker und Performer umfasst. Er studierte erst Philosophie und schliesslich Regie in Hamburg und Wien. Vielfache Auszeichnungen, Arbeiten für Theater und Festivals im In- und Ausland. Seit 2019 lebt er in Zürich, wo er seit der Spielzeit 2019/20 als Co-Intendant das Schauspielhaus Zürich gemeinsam mit Benjamin von Blomberg leitet.
Zum Inhaltsverzeichnis mit der Übersicht über alle zehn Fragebögen
Kooperation
Die Fragebögen entstammen dem Band
Theater und Macht – Beobachtungen am Übergang
Herausgegeben von der Heinrich Böll Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit Weltuebergang.net unter redaktioneller Leitung von Sophie Diesselhorst, Christiane Hütter, Elena Philipp und Christian Römer. Berlin 2021.
Hier finden Sie das pdf des Bandes und können ein kostenloses Printexemplar bestellen.
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Mein Tip: den Fragebogen in abgeänderter Form so nochmal an die Beschäftigten der jeweiligen Theater schicken, um die Aussagen in der Fremdwahrnehmung zu überprüfen. Dann würde die gut gemeinte Aktion Sinn machen, liebe Nachtkritik.
Aber im Vorfeld verhindern kann man das nie mit hundertprozentiger Sicherheit, genauso, wie man das Risiko von Straftaten zwar minimieren, aber nie gänzlich verhindern kann. Außer Sie wissen von einer Minority Report Software für den Theaterbetrieb, die man bestenfalls gleich in Theasoft einbinden kann? Das wär doch mal was.