Flüstern in stehenden Zügen - Schauspielhaus Graz
Kein Trickbetrug unter dieser Nummer
von Reinhard Kriechbaum
Graz, 19. Mai 2021. "Adam" heißt er natürlich nicht wirklich, der virtuelle spanische Amigo. Mit diesem Namen meldet er sich bloß unter der in einer Phishing-Mail angegebenen Telefonnummer. Der Bursche könnte zum Freund taugen. Man kann mit ihm sogar ein paar persönliche Worte reden. Übers Wetter. Oder über die nervige Weihnachtsbeleuchtung.
Kontaktaufnahme über Phishing-Mail
Aber "Adam" ist die Ausnahme, bleibt Episode für "C", den Protagonisten im neuen Bühnenstück des Grazer Autors Clemens J. Setz. Dieser "C", im tristen Alltag Computer-Reparateur, hat ein eigenartiges Hobby: Er steigt vermeintlich ein auf die Phishing-Mails, die sich im Mailfach häufen. Er ruft wirklich an, immer und immer wieder, tage- und nächtelang. Aber er denkt natürlich nicht daran, irgendwelche Kundennummern, Passwörter oder gar die Kontonummer herauszurücken. Er entwickelt eigenartigen Ehrgeiz, die Leute in den Callcentern in persönliche Gespräche zu verwickeln. Sie auszuhebeln aus den eingelernten Gesprächsroutinen.
Vielleicht ist es ja für "C" auch gar kein Hobby. Vielleicht ist es pure Besessenheit eines Robin Hood im Feldzug gegen Spam-Verursacher. Oder Bosheit den unbekannten Menschen gegenüber. Im Lauf der anderthalb Stunden kristallisiert sich immer deutlicher heraus – es ist Einsamkeit. Vielleicht sucht "C" wirklich nur jemanden zum Reden, weil da sonst keiner ist, im echten, kärglichen Leben. Das Reden klappt natürlich nicht. Meistens legen die Unbekannten am anderen Ende der Leitung auf, früher oder später. Der eingangs erwähnte "Adam" ist eine der wenigen Ausnahmen.
Mauerblümchen im Billig-Möbelhauskabuff
Der Stücktitel "Flüstern in stehenden Zügen"? Auch nur Episode in einem dieser vielen, vielen verqueren Telefonkontakte. Aber als Metapher nicht unpassend, weil "C" selbst ja auch leise, zurückhaltend wird, wenn quasi das Alltagsrauschen plötzlich weg ist. Wenn am anderen Ende der Leitung jemand ein wenig anders reagiert, als es das Geschäftsmodell vorsieht.
Ein Psychogramm also, wortreich entwickelt zwischen "C" und vielen Stimmen aus dem Off. Raphael Muff ist dieser Sportsfreund ohne Freunde, der sich so quirlig gibt und doch nur als Single den Ball päppelt oder sich Boxhandschuhe überstreift zum Telefon-Fight.
Wie Zootiere im Single-Haushalt
Regisseurin Anja Michaela Wohlfahrt und ihre Ausstatterin Teresa Joham haben drei Wohnzimmer auf die Kammerspiel-Fläche im Haus zwei des Grazer Schauspielhauses gestellt, Variationen derselben weißen Regalwand mit Schlaf-Schubfach aus dem Billig-Möbelhaus. Vor und mit der anderen lebt die „Kundin“ (Evamaria Salcher), auch so ein kontaktarmes Mauerblümchen. Im Wohnzimmer drei logiert der Musiker Grilli Pollheimer, der die Episoden mit Marimba und Elektronik ein wenig strukturiert. So werden wir von der Regie mit der Nase drauf gestoßen, dass die Vereinsamung von "C" kein Einzelfall ist in unserer Gesellschaft. In den immer gleichen Handlungen und Gesten wird deutlich, dass diese Single-Haushalten ein gewisses Zootier-Verhalten befördern.
Franz Solar macht die Telefonstimmen (allerlei Dialekte und fremdländischer, vor allem osteuropäischer Zungenschlag), und er hat einmal einen Soloauftritt als Callcenter-Boss. Da übt er mit dem Publikum ein paar Stehsätze ein. Nicht nötig, man verstünde die Problematik auch so.
Ach ja, wie geht die Sache aus? Die "Kundin" bringt "C" ihren Laptop vorbei. Und da öffnen sich – weitgehend wortlos – prompt zwei einsame Herzen. Private Begegnung (noch) nicht, aber ein echtes Telefongespräch mit jemandem, dessen Gesicht man schon mal gesehen hat. Das ist am Ende ja schon mal ein vielversprechender Anfang.
Flüstern in stehenden Zügen
von Clemens J. Setz
Regie: Anja Michaela Wohlfahrt, Bühne und Kostüme: Teresa Joham, Komposition und Live-Musik: Grilli Pollheimer, Dramaturgie: Daniel Grünauer.
Mit: Raphael Muff, Evamaria Salcher, Franz Solar
Premiere am 19. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
schauspielhaus-graz.buehnen-graz.com
"Klug eingefädelt" sei die Konstellation, die Clemems J. Setz in seine Textfasssung gebaut habe, findet Daniel Hadler in der Kleinen Zeitung (20. Mai 2021). "Die Melancholie ist immanent, jede Beziehung vage", schreibt der Rezensent zum Stück und findet dies in der Inszenierung wieder: Das Durchbrechen schematischer Beziehungen berühre anregend und "führe irgendwann zu Ansätzen realer Menschlichkeit". Wohlfahrts Inszenierung verzichte auf Umwege, konzentriere sich auf das Wesentliche. Die "Hochglanz-Hauptfigur" zeige die Schattenwelten des Realen auf. So ist der Rezensent insgesamt sehr zufrieden: Eine "erfreuliche Rückkehr auf die Bühne" sei dieser Abend, "mit mehr als verdientem Applaus".
Regisseurin Anja Michaela Wohlfahrt vertraue auf den Text, finden die Salzburger Nachrichten (20.5.2021). Sie verpacke ihn in "flotte Abläufe und intensive Momente". Dabei spiele die Musik eine zentrale Rolle. Raffael Muff als Hauptfigur lasse in seinem Spiel Komik ebenso wie tiefe Tragik aufblitzen. Schlussurteil der Kritik: Ein "packender, intelligenter Abend" sei diese Inszenierung.
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