Gemeinschaft ist möglich

von Simone Kaempf

Berlin, 24. Mai 2021. And the winner is? Den Werkauftrag des Stückemarkts hat am Ende dann doch nicht die große One-Woman-Show gewonnen, auch wenn es in der Luft lag. Mit "Midnight Movie" und "Nanjing" waren zwei besondere Ein-Personen-Stücke eingeladen. Und damit Monologe, deren Vorteil in den vergangenen Monaten auf der Hand lag: als risikoarme Konzentration auf den Einzelnen, der mit sich selbst im Mittelpunkt die Welt aufschließen kann.

Punktsieg gegen die Einzelstimme

Doch der Werkauftrag des diesjährigen Stückemarkts geht an das nordamerikanische Theatermacherinnen-Duo Ta-Nia (Nia Farrell und Talia Paulette Oliveras), die sich in der Einführung als Community-Builderinnen bezeichnten und das in ihrem Stück konsequent umsetzen. Für ihr "Dreams in Blk Major" wünschen sie sich fünf BPoC-Performerinnen auf die Bühne, die wie in der Art von Wood Allens "Midnight in Paris" in die 20er Jahre zurückswitchen und ein Theaterstück neu erzählen, das voll ist von Referenzen auf schwarze Künstler*innen, unterlegt von ihren eigenen Wünschen und Hoffnungen für ein solidarisches Miteinander. Am Ende also Punktsieg Gemeinschaft vor der Stimme der Einzelnen.

Das Duo Ta-Nia meint es ernst mit der Community: "This space is by, for, and about the self-identified Blk / African / Afro-diasporic community", so ein Regie-Hinweis am Anfang. In ihrer eigenen Inszenierung in New York City 2019 trennten sie ihr Publikum in Blk, African, Afro-Diasporic und alle anderen. In der Stückemarkt-Livelesung ohne Publikum, eingerichtet und inszeniert von Ernest Allan Hausmann und Katrice Dustin, fand die Trennung im Chat statt mit der Aufforderung allein an die PoC-Zuschauer*innen, ihre Wünsche an die Zukunft zu posten – gewöhnungsbedürftig ist das schon.

tt21 p stueckemarkt dreams in blk major bfs c eike walkenhorst 04 600 400Gewinner des Werkauftrags: "Dreams in Blk Major" von Ta-Nia © Eike Walkenhorst

Die fünf Stücktexte und Performances aus England und Nordamerika wurden bereits im vergangenen Jahr ausgewählt, der Stückemarkt fiel dann jedoch ersatzlos aus. Unter der neuen Stückemarkt-Leiterin Anna-Katharina Müller ist die Auswahl 2020 auch die Auswahl 2021. Deutschsprachige Arbeiten fehlen. Um die Irritation darüber nicht zu groß werden zu lassen, saßen die Autor*innen Antigone Akgün, Maxi Obexer, Paul Brodowsky und Max Czollek mit in den drei Gesprächsrunden. Insgesamt ein breit gehaltenes Programm, das als kompaktes Festival im Festival aber gut für sich stand, mit seiner Internationalität auch angenehm herausstach, und einem die derzeitige Welt etwas größer macht.

Bereicherung für viele Festivals

Die kanadische Arbeit "Aalaapi" nimmt einen voll und ganz mit in die Stimmung abgeschiedener Landschaften im arktischen Nordostkanada. Auf der Bühne ist ein Haus aufgebaut. Auf die Hauswände werden Schneestürme projiziert. Durch ein Küchenfenster schaut man ins gemütliche Innere, wo gar nicht viel geschieht: zwei Frauen bereiten Essen vor und trinken Tee. Die einstündige Bild-Ton-Collage ist dennoch assoziationsreich. Wind heult ums Haus, aus dem alten Küchenradio hört man immer wieder die Nachrichten und dazu erzählen weitere Erzähler-Stimmen vom Tonband über ihre Vorfahren, über ihr Aufwachsen und ihr Leben im Süden, in Montréal nämlich. Die kanadische Theatermacherin Laurence Dauphinais entwickelte die Idee, als Kanada sein 150-Jähriges Bestehen feierte, unabhängig davon, dass diese Jahreszahl für die indigenen First Nations keine Rolle spielt. Für das dokumentarische Ton-Material hat Dauphinais mit jungen Frauen gesprochen, die zwischen dem Norden und der Gegend um Montréal pendeln und das Beste aus beiden Welten kennen. "Aalaapi" ist eine eher leise, aber sehr stimmungsvolle Arbeit, die etliche internationale Festival bereichern könnte, wenn sie denn stattfänden.

tt21 p stueckemarkt 210518 bfs c eike walkenhorst 3 600 400 2Autor*innen des Stückemarkts im Gespräch © Eike Walkenhorst

In dem Solostück "Nanjing" verknüpft die britische Performerin Jude Christian das Massaker, das 1937 während des chinesisch-japanischen Kriegs stattfand, mit ihrer eigenen Herkunft. Im weiten Erzählbogen holt sie aus, erzählt von ihrer Familie, ein Drittel britisch, ein Drittel Isle of Man, ein Drittel chinesisch, und verbindet ihre Herkunfts-Erzählung nach und nach mit den Gräuel der japanischen Truppen in der chinesischen Stadt Nanjing, den Massen-Vergewaltigungen und vielen Ermordeten. Schätzungen nach starben 300.000 Menschen.

Blicke auf die Geschichte

Das Stück lässt bewusst offen, ob sich Christian über das Massaker ihrer chinesischen Herkunft bewusst wurde oder sie umgekehrt ihre Herkunft darauf stoßen ließ. Christian spielt ihr Stück auch selber, mit Fallschirmseide als Requisite, in die sich einmal wickelt wie eine japanischen Geisha und wenigen Steinen, die sie neben den leblosen Stoff legt. So erschafft ihre Performance ein Mahnmal für die Opfer, ohne falsches Pathos gespielt. Die Aufzeichnung, die gezeigt wurde, entstand vor zwei Wochen in London ohne Publikum. Die Diskussion mit den Zuschauer*innen, die Christian normalerweise mit den Zuschauer*innen führt, musste ausfallen beziehungsweise wurde in den digitalen Theatertreffen-Garten verlegt. Aber auch so ein besonderer Auftritt, der erzählt davon, wie sich der Blick auf Geschichte verändern kann.

Neben soviel starker Performance muss sich das Genre Szenische Lesung erst einmal behaupten. Regisseurin Charlotte Sprenger hatte mit "Coop" von Sam Max keinen leichten Job. Auf einer abgelegenen Farm spielt das Familien-Ausbruchs-Stück, im Mittelpunkt das Mädchen Avery, das sich der Autor als non-binär wünscht. Mit Oska Melina Borcherding gibt es in der live gestreamten Lesung eine starke Besetzung für die Rolle, und Borcherding legt viel Action in die Rolle. Aber Averys Nöte, die Enge und die Unmöglichkeit des Zusammenlebens, die verqueren täglichen Familien-Rituale bleiben eine papierene Behauptung. Auch der finale Befreiungsschlag mit Unterstützung des toten Onkels schafft mehr Fragezeichen – das Stück sackte ziemlich ab.

 tt21 p stueckemarkt coop bfs c eike walkenhorst 600 400Kein leichter Stand: Szenische Lesung von "Coop" von Sam Max © Eike Walkenhorst

Aus einer Lesung wurde dann aber doch ein kleines Theaterwunder: "Midnight Movie" von Eve Leigh entstand zwar auch weit vor der Pandemie, bringt aber in einem starken Monolog das Dilemma digitaler Co-Präsenz in all seinen Facetten zur Sprache. Die Ich-Erzählerin versucht nachts schlaflos vor dem Bildschirm der Realität zu entkommen und sich einen digitalen Körper zu erschaffen, erkennt aber sofort "diesen Körper am falschen Ort, der nicht für Körper geschaffen ist".

Irritation, Frustration, Empowerment

Die Schauspielerin und Tänzerin Kassandra Wedel performt den Text halb in Gebärden, halb gelesen. Die monologische Ansprache durch die Laptop-Kamera ist vertraut. Die anfangs fremden Gebärden der gehörlosen Schauspielerin sind getragen von der Energie, durch die Kamera zu einem durchzubrechen. Das ist in jeder Hinsicht soviel radikaler als in den anderen Lesungen, und offenbart doch ganz klassisch den Interpretationsraum des Texts.

Der Werkauftrag geht dennoch an Nia Farrell und Talia Paulette Oliveras. "Unfortunately we have to decide", sagte Intendantin Julia Wissert im Name des Ensemble des Dortmunder Schauspielhaus, das über die Vergabe entschieden hat. "Dreams in Blk Major" biete, so die Begründung, "Irritation, vielleicht Frustration, aber auch Empowerment als ersten Schritt zur Veränderung". Das Duo erhält den Auftrag, in Dortmund ein neues Stück zu realisieren. Man kann gespannt wirklich sein, was die beiden New Yorker Theater-Macherinnen in Dortmund erarbeiten werden.

 

Midnight Movie
von Eve Leigh, Übersetzung von Henning Bochert
Lesung Livestream aus den Münchner Kammerspielen
Szenische Einrichtung: Verena Regensburger, Dramaturgie: Gwendolin Lehnerer, Ausstattung: Anne Laure Jullian de la Fuente, Musik: Simon Popp, Dolmetscherin für Deutsche Gebärdensprache: Franziska Dommasch. Mit: Kassandra Wedel.

Aalaapi
von Laurence Dauphinais
Aufzeichnung aus dem Théâtre Gilles-Vigneault (Saint-Jérôme, Kanada)
Idee und Regie: Laurence Dauphinais, Idee: Marie-Laurence Rancourt, Radiodokumentation: Magnéto (Marie-Laurence Rancourt, Daniel Capeille), Bühne: Odile Gamache, Video: Guillaume Vallée. Mit: Nancy Saunders, Ulivia Uviluk.

Coop
von Sam Max in der Übersetzung von Robin Detje
Livestream aus dem Haus der Berliner Festspiele (Berlin)
Szenische Einrichtung: Charlotte Sprenger, Dramaturgie: Kundry Reif, Ausstattung: Anne Laure Jullian de la Fuente, Musik: Philipp Plessmann.
Mit: Johannes Benecke, Oska Melina Borcherding, Philipp Plessmann, Kara Schröder, Wolf-Dietrich Sprenger, Sabine Waibel.

Dreams in Blk Major
von Ta-Nia
Livestream aus dem Haus der Berliner Festspiele (Berlin)
Szenische Einrichtung: Ernest Allan Hausmann, Co-Regie: Katrice Dustin, Dramaturgie: Hannah Schünemann, Ausstattung: Anne Laure Jullian de la Fuente. Mit: Amina Eisner, Victoire Laly, Alina Sokhna M’Baye, Abak Safaei-Rad, Barbara Saltman.

Nanjing
von Jude Christian
Aufzeichnung aus dem The Yard Theatre (London)
Regie: Elayce Ismail, Filmemacher: Joshua Pharo, Komposition: Jasmin Kent Rodgman, Produktion: Tamara Moore. Mit: Jude Christian. 

https://digital.berlinerfestspiele.de/stueckemarkt

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