Grenzen sprengende Freundschaft

von Stephanie Drees



Berlin, 24. Mai 2021. Ein Boden voller weißer, schimmernder Laken, umrundet von Flokati-Teppich. Eine angedeutete Bettenlandschaft, vielleicht auch ein utopisches Wolkenkuckucksheim, in jedem Fall ein intimes Zwischenreich, eingetaucht mal in zartes, violettes Licht, mal in tiefes Meerwasserblau. Und daneben ein Sofa, das auf einem Podest steht. Auf ihm wird ein Mann zum Puma. Er kniet, drückt den Rücken durch, räkelt sich, steigt vom Podest, schleicht auf allen Vieren über den Boden, umkreist mit Körper und Blicken eine Frau, die auf dem Laken liegt. Bewegt sich langsam heran, fixiert sie, beißt ihr spielerisch in den Arm. Lucy Wilke wartet da, lässig, die goldenen Steine auf ihren Beinschienen funkeln. Zwei in schimmernden Shorts und weißen Unterhemden, glamouröse Turner*innen, die nach dem Training so auch im Berghain tanzen könnten, umkreisen sich da spielerisch mit Blicken.

Ihre Körperlichkeit unterscheidet sich auf den ersten Blick stark: Paweł Duduś und Lucy Wilke, deren Rollstuhl auch auf der Bühne ein Fortbewegungsmittel ist – mitunter für beide Bühnenpartner*innen. Da sind die Momente, in denen er ihr die Kleidung anzieht und sie in den Rollstuhl hebt, und die, in denen sie ihn mit ihrem Rollstuhl über den Boden zieht. Oder er einfach Beifahrer ist, hinter ihr stehend, während ihr Kopf an seinem Unterkörper lehnt. Lucy Wilke ist Schauspielerin und wurde mit spinaler Muskelatrophie geboren, Paweł Duduś kommt aus der Tanzszene, er identifiziert sich als queere Person. Ihre Innigkeit ist von faszinierender Kraft. Diese kleine, richtungsweisende Arbeit als Abschlusspunkt des diesjährigen Berliner Theatertreffens zu setzen, war eine kluge Entscheidung. Sie lotet auf atmosphärisch dichte Art eine Freundschaft aus.

Reflexionen von den Rändern des Betriebs-Spielfelds

"Scores that shaped our friendship" ist eine von drei Freie-Szene-Arbeiten der 10er-Auswahl, uraufgeführt an der freien Münchner Produktions- und Spielstätte Schwere Reiter. Die Arbeit von Lucy Wilke und Paweł Duduś ist eine mehr als bemerkenswerte Inszenierung dieser – so der selbstauferlegte Anspruch des Theatertreffens – Auswahl der bemerkenswertesten Inszenierungen des Pandemie-Theaterjahres. In ästhetischer Hinsicht war es, trotz der rein virtuellen Auswahl und Präsentation, ein starker Jahrgang, auch, weil sich ein geschärfter Sinn für künstlerische Experimente und Wagnisse ausmachen lässt. Und verstärkt nach dem geschaut wurde, was sich an den Rändern des Betriebs-Spielfeldes finden lässt, oder auch: Welche Arbeiten dieses mit den eigenen künstlerischen Mitteln reflektieren.


Scores1 600 MartinaMarini MisteriosoStellen Körpernormen auf den Kopf: Paweł Duduś und Lucy Wilke © Martina Marini Misterioso

So ganz genau weiß man als Zuschauerin von "Scores that shaped our friendship" mitunter nicht, wer hier wen wann dirigiert, animiert und verführt, es ist ein stetiges Wechselspiel, auch wenn diese Inszenierung eine ganz eigene Verbundenheit erzeugt. Eine, die in den Zwischenräumen der Beziehung von zwei Performer*innen flirrt, knistert und schwebt, die ihr Publikum teilhaben lässt an einer Choreografie der Berührungen. Vielleicht ist das Erstaunlichste an der kurzen, kompakten Arbeit, dass sie bei aller Intimität eine bestimmte Form von Zuschauer*innen-Inklusion herzustellen weiß, die über jedes Gefühl von Voyeurismus erhaben ist. Man schämt sich beim Zusehen nicht dafür, den beiden Performer*innen bei ihren Spielen, ihren Küssen, ihren kurzen, dialogischen Phantasiereisen zuzusehen.

In einer Szene sitzt Paweł Duduś auf dem Boden hinter seiner Spielpartnerin, seine Hände umgreifen ihren Körper, streifen darüber, sie beginnen sich in inniger Position zu wiegen, vor und zurück. Live spielt Bühnenmusikerin Kim Ramona Ranalter einen Klangteppich aus tiefen Atemzügen ein, nach einigen Sekunden legt sich ein schneller werdender Beat darunter, pocht. Die Stimme von Ranalter kommt hinzu und der Satz "I recall" läuft in einer Wiederholungsschleife. Es ist eine erotische Annäherung, eine Seite dieser Beziehung. "I recall" ist ein Titel der sieben Kapitel dieser Arbeit, sie strukturieren und kartographieren den Abend. Es geht um eine Grenzen sprengende Verbindung, um Körperlichkeit als Kommunikationsmittel, um radikale Präsenz und ausufernde Zärtlichkeit, um Tinder-Dates, Körpernormen- und normierungen. Denn diese "Scores", die auf spielerische Weise die Beziehung der beiden Performer*innen vermessen, stehen eben auch dafür, wie Körper in dieser Gesellschaft ver- und beurteilt werden.

Verschiebungen der Macht des Blickes


Schon immer ein zentrales Thema im Theater, spiegelte sie sich in diesem Jahr beim TT in besonderem Maße wider: Die Macht des Blickes. Und die Verschiebung dieser Macht.

Es war das zweite Jahr der von Festivalleiterin Yvonne Büdenhölzer 2019 eingeführten Frauenquote für den Anteil der Regieführenden. Wie im letzten Jahr schon wurde sie übererfüllt. Doch die Zahlen, sie sagen selbstredend nichts darüber aus, wie sich Geschlechterrollen und -stereotype in die Bühnenarbeiten einschreiben, wie sie dort verhandelt oder auch nicht verhandelt werden, wie emanzipatorische Bewegungen sich aufgreifen oder auch hinterfragen lassen. Und: sollte eine Auswahljury nicht frei von diesen Überlegungen nach rein künstlerischen Kriterien auswählen?

Da ist auch die Frage, ob sich strukturelle und ästhetische Debatten nicht mittlerweile zu stark vermischen. Ob ein Gesamturteil wie der Theaterwissenschaftlerinnen Jenny Schrödl und Katharina Rost, das Theatertreffen sei "diverser und mutiger" geworden, als Lob für die Kunst verstanden werden kann. Gleichzeitig zeigte der Vortrag der beiden eindrucksvoll: Dieses Jahr war auch das Jahr der Arbeiten, die Geschlechterfragen ihrerseits in den Fokus nahmen – von einer handlungsmächtigen Hauptfigur in Leonie Böhms Medea*-Überschreibung, deren wütende Verletzbarkeit hier tatsächlich neu geschrieben wird, über die Sechs-Stunden-Performance Name Her. Eine Suche nach den Frauen+  des Teams um Regisseurin Marie Schleef, das der Geschichtsschreibung über 100 Frauen präsentiert, deren Leistungen bisher kaum gewürdigt wurden – bis hin zu einer Arbeit wie "Scores that shaped our friendship", die eine Vision von gleichberechtigter Verbundenheit  auf die Bühne brachte.

Noch ein weiter Weg

Das Thema Macht durchzog auf allen Ebenen dieses Theatertreffen. Die üblichen Strukturdebatten waren dieses Jahr vielleicht gleichsam zentral und schwierig, stand das Festival doch nicht nur im Zeichen pandemischer Kunstproduktion und virtueller Möglichkeiten, sondern einer Häufung von Fällen an staatlichen Theatern, die sich allesamt um die Fallstricke von Führung drehen. So saß am Thementag Practice What You Preach eine merklich nachdenkliche Riege von Intendant*innen vor der Journalistin Susanne Burkhardt und der Freie-Szene-Vertreterin Janina Benduski.

tt21 PracticeWhatYouPreach Geschlechterdiagramm ScreenshotStephanieDreesTorten der Theater-Wahrheit, aus dem Talk "Practice What You Preach" beim Theatertreffen © Screenshot

"Die #MeToo-Debatte hat uns eiskalt erwischt", sagte Ulrich Khuon, Intendant am Deutschen Theater Berlin. So betroffen diese Betroffenheit macht – grade diese Debatte zeigt auf, dass vor den Theatern noch ein weiter Weg liegt. Es sei nur beispielhaft erwähnt: Fünf der acht Häuser der diesjährigen 10er-Auswahl haben derzeit einen Verhaltenskodex für alle Mitarbeiter*innen, durchschnittlich 38 Prozent der Regieführenden an den Theatern des diesjährigen TTs sind aktuell Frauen. Beide Werte zeigen, wie viel Luft nach oben ist – und wie nötig es bleibt, immer wieder auf diese Ungleichheit hinzuweisen. Und dann ist da noch die spannende Frage nach dem (Produktions-)Druck, den die Auswahl des Theatertreffens selbst auf die Theater ausübt – und damit bestehende Strukturprobleme mitunter verstärkt. Auch diese Machtfrage ließe sich in Zukunft noch genauer untersuchen.

 

Scores that shaped our friendship
Idee, Konzept: Lucy Wilke, Paweł Duduś, E-Komposition, Bühnenmusik: Kim Ramona Ranalter, Licht: Barbara Westernach, Bühne: Theresa Scheitzenhammer, Alexander Wilke, Outside Eye: Tamara Pietsch, David Bloom
Mit: Lucy Wilke, Paweł Duduś, Kim Ramona Ranalter
Premiere am 13. Februar 2020
Dauer: 1 Stunde

www.schwerereiter.de

 

Mehr zum Thema:

Theaterpodcast #34 "Reißt die Barrieren ein" mit Lucy Wilke und Paulina Wawerla.

Kommentare  
Scores that …, tt Berlin: fast zu klein
Der Kontrast zwischen den stampfenden, marschierenden, brüllenden Männern in Ulrich Rasches "Das große Heft" und diesem kleinen, intimen Pas de deux, die jeweils am Pfingstmontag 2019 bzw. 2021 zum Abschluss des Theatertreffens liefen, könnte kaum größer sein.

"Scores that shaped our friendship" beginnt sehr zurückgenommen, als Achtsamkeitsübung in Flokati-Plüsch-Wohlfühloase, wirkt über weite Strecken fast etwas zu klein für das Theatertreffen, hat aber seine starken Momente im Zusammenspiel von Wilke/Duduś.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/25/scores-that-shaped-our-friendship-theatertreffen-kritik/
Scores that..., tt Berlin: Geld + Räume
Lucy Wilke ("Scores that...") forderte im TAGESSPIEGEL fürs Theatertreffen mehr Diversität. Was ist gemeint? Mehr Tanz, mehr Frauen, mehr Behinderte?
Ich fordere: Mehr Genres! Ein Festival, das ja nicht SCHAUSPIEL-Treffen, sondern THEATERTREFFEN heißt, aber unzeitgemäß nur e i n Theatergenre präsentiert, eben Schauspiel, inzwischen gönnerhaft um Freie Szene erweitert, ist letztlich im 20. oder 19. Jh. stehen geblieben.
Da wird aus Wien mal wieder das Burgtheater geholt mit dem mittelmäßigen Stück einer RegisseurIN. Aha. Ein Stück des großartigen Puppenspielers Nikolaus Haban war noch nie auf dem Theatertreffen. Ist eben nur Kasperletheater - so denken Kulturpolitiker, die dem Berliner Puppenspiel immer wieder schamlos Geld und Räume wegnehmen. Und so denken auch die Theatertreffenmacher.
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