Endlich wieder Bleifuß

von Katrin Ullmann

Berlin, 26. Mai 2021. Schnelle Frauen, schöne Autos und immer – für die Freundin des Rennfahrers – ein schwarzes Kleid im Gepäck. Denn "irgendein Begräbnis gab es immer irgendwo". Das wusste nicht nur Niki Lauda. Ausreichend Formel-1-Atmosphäre kommt an diesem Abend im DT schon auf. Spätestens in der Szene, in der die Texte der fünf Darsteller*innen von knatternden Motoren und kreischenden Bremsgeräuschen übertönt werden. Sie aber sprechen weiter und immer lauter drauflos, geben fachsimpelnd inhaltsleere Interviews zu Langstrecken, schnellen Linkskurven, ausreichend Hubraum und der perfekten Boxenstrategie. Natürlich rasen und sprechen sie durch den Text. Unbeirrt und ungerührt. Schließlich ist das eines der vertrautesten und charakteristischsten Grundspielprinzipien von René Pollesch.

Hochschalten und weiter

Sie, das sind Christine Groß, Astrid Meyerfeldt, Jeremy Mockridge Katrin Wichmann und vor allem Sophie Rois. Sie sind Rennfahrerinnen, und stecken auch mal in – vermutlich sogar feuerfesten – Overalls (Kostüme: Tabea Braun). Die Hände tief in den Taschen, die Hüfte lässig vorgeschoben verhandeln sie Rennsport, Fahrbahnbeschaffenheiten und die optimale Brems-Performance. Zwischendurch ruft eine*r: "Aber sie hat doch nicht mal einen Führerschein" und "Keiner bewegt sich über die Bühne ohne Regieanweisungen!"

Goodyear2 560 Arno Declair uChristine Groß, Astrid Meyerfedt, Katrin Wichmann, Sophie Rois, Jeremy Mockridge in "Goodyear" © Arno DeclairFeuerfest gewandet: 

Dann wird schnell eine Filmklappe geschlagen und Jeremy Mockridge, der mitten in den Motorsportdiskurs hin Nick Lowes Liedtext über das Schicksal des Stummfilmstars Mary Provost aufsagen will, wird schulterzuckend ignoriert. Weiter im Text. Der ja nie aufgehört hat. Denn dieser Abend ist ein Pollesch-Abend, uraufgeführt im Rahmen der Wieder-Aufnahme des Berliner Pilotprojekts Testing. Es ist ein Pollesch-Text, in dem so wunderbar großartige Sätze fallen wie "Geschwindigkeit hab ich im Gesicht!" oder "Eine Geste ist schöner als ein Satz".

Damenpumps als Rennauto

Es ist ein Abend, an dem die Schauspieler*innen, die wenn sie keine Rennfahrer*innen spielen, meistens Schauspieler*innen spielen. Und sich dabei selbst befragend und nur vermeintlich ernsthaft auf die Suche nach ihrer Figur machen. Und die, wenn sie dann drin sind in ihrer Figur, zumindest "mit einem Fuß in der Figur", plötzlich da gar nicht mehr rauskommen.

Goodyear3 560 Arno Declair uRennfahrer-, Tempomacher*innen: René Polleschs "Goodyear" © Arno DeclairSchauspieler-, 

Es ist ein Abend, an dem sie zweifeln, sich sinnfreie Serienplots ausdenken, über Kopulation, Kaufhausdetektive und die Inkonsistenz des anderen diskutieren, an dem sie herrlich ironisch Schauspieler- und Regieklischees am Filmset abbilden. Ein Abend, in dem sie mit einem Klappstuhl einen kleinen Slapstick hinlegen, im wie Lavasand glitzerndern Bühnenbildboden zu verschwinden versuchen und in dem ein riesiger, ferngesteuerter Damenpumps zum Rennauto wird (Bühnenbild: Barbara Steiner). Da wird Viscontis "Bellissima" zitiert und auch mal Westernmusik eingespielt, da wird sich lauthals in Selbstzweifeln gesuhlt, über Star-Allüren gespöttelt, nur ein wenig gebrüllt und auch ein bisschen geraucht.

Gegen alle Zuschreibungen

Sicherlich ist "Goodyear" unterhaltsam, komisch, nebenbei voll kluger Gedanken, Anti-Gender-Zuschreibungen und voll zynischer Kommentare auf die Schauspielbranche. Der Abend bleibt aber so eng am Rennfahrer- und Schauspieler*innen-Thema, dass kaum Kontext aufgemacht wird, nicht mal zum Re-Starten, Gasgeben und Wieder-Öffnen der Theater. 

Im energetischen Zentrum steht ganz klar Sophie Rois. Souverän spaziert sie sich und ihre Stimme von mädchenhaft leicht über dreckig, kieksend zu rotzig-österreichisch. Um Rois scheint die Inszenierung zu kreisen, Katrin Wichmann holt bald cheerleadernd auf. Doch insgesamt – trotz Benzinkanister und manch brennender Kräuterzigarette – schlägt er keine Funken. "Was ist denn hier los?", heißt es einmal, wenn alle mal kurz auf die Hinterbühne rennen. "Hier ist gar nichts mehr los!", hallt es von dort zurück. Letzteres auf die Inszenierung zu übertragen, wäre ungerecht. Aber dass "Goodyear" ein Pollesch-Abend ist, der – wie so oft gesehen und gern gefeiert – mühelos in den fünften Gang und auf Vollgas hochschaltet, wäre auch gelogen. Dieser wirkt eher wie Hockenheimring mit angezogener Handbremse. Ohne Massencrash, Flugeinlagen oder Explosionen an der Leitplanke.

Goodyear
von René Pollesch
Regie: René Pollesch, Bühne: Barbara Steiner, Kostüme: Tabea Braun, Licht: Cornelia Gloth
Dramaturgie: Bernd Isele.
Mit: Christine Groß, Astrid Meyerfeldt, Jeremy Mockridge, Sophie Rois, Katrin Wichmann.
Premiere am 26. Mai 2021
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"'Goodyear' ist vielleicht nicht der grandioseste der über zweihundert Pollesch-Abende, die schon das Licht der Welt erblickt haben. Aber er ist gerade in seiner selbstreflektierenden Suche bestens geeignet für den Wiedereinstieg in die Kulturtechnik des Theaters", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (27.5.2021). "Die Grundfragen des Spielens, die der Abend stellt, sind die Grundfragen menschlichen Miteinanders. Und es ist erst einmal verdammt lustig, wenn man sie sich so stellt, als wären sie ganz neu."

"Polleschs Antwort auf das XXL-Format seiner Themen besteht schon immer, aber an diesem Abend besonders auffällig, in einem Anti-Thesen-Sprechtheater, das lieber mit den Sätzen und Gedanken jongliert, als irgendwie recht haben zu wollen oder die Zuschauer mit Ansprüchen auf Deutungshoheit oder Überwältigungseffekten zu belästigen", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (27.5.2021). "Christine Groß, Astrid Meyerfeldt, Jeremy Mockridge, Sophie Rois und die umwerfende Katrin Wichmann sind offenkundig ohne größere Blessuren der theaterlosen Lockdown-Langeweile entkommen und in ihrer Spielfreude hellwach, aber Antworten auf all die eher angespielten als sauber durchdeklinierten Fragestellungen sollte man von ihnen besser nicht erwarten."

"'Goodyear' ist ein extrem leichtfüßiger Abend. Keiner, der wie die beiden Vorgänger-Polleschs im DT mit Brechts (Lehrstück-)Theorie über grundsätzliche Darstellungsmodi und vergangene Revolutionen nachdenkt, sondern eher eine Gute-Laune-Offensive, die die Rückkehr auf die Bühne an und für sich feiert", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (27.5.2021).

"Auch nach dem ersten Lockdown hatte das DT mit Pollesch die Saison eröffnet – das Palaver über Post-Revolution und Banküberfälle wirkte damals allerdings, als habe man den Abend wie eine verstaubte Schneekugel nach Jahren aus dem Regal geholt", erinnert sich Barbara Behrendt in der taz (27.5.2021). "Diesmal hat Pollesch, ganz ohne Referenz auf die Pandemie, ein kleines, schönes Stück zur Stunde entworfen."

"Der für Polleschs Stücke typische atemlose Mäanderdiskurs umfasst die Möglichkeiten respektive Unmöglichkeiten von sexuellen Beziehungen, Mutmaßungen über Erfolg und Misserfolg oder potentielle Gründe, warum jemand Künstler werden will. Das wird alles kurz und fröhlich aufgeworfen, rasch abgeklopft und sauber abserviert" schreibt Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (27.5.2021). "Die knappen Szenen greifen wie geschmiert ineinander, der Ton ist unbeschwert. "Goodyear" ist eine so beherzte wie beseelte Fingerübung für die Geschmeidigkeit der Glieder und die Geläufigkeit der Sinne."

Kommentare  
Goodyear, Berlin: Sketch-Revue
„Goodyear“ wirkt wie eine beliebig aneinandergereihte Sketch-Revue. Thematisch kreist der 75 Minuten kurze, fast komplett im schmalen Programmheft abgedruckte Abend um die Formel 1.

Während die Vorgaben des Hygienekonzepts aus Klaus Lederers Pilotprojekt vom Deutschen Theater minutiös eingehalten werden und die DT-Maschinerie beim aufwändigen Kontroll- und Einlass-Prozess wie geschmiert läuft, ist das Bühnengeschehen nach acht harten Lockdown-Monaten eine Enttäuschung.

Es wirkt so, als sei das Team vom unerwartet schnellen Ende des Lockdowns überrascht worden, das im April noch in weiter Ferne schien. Allzu schnell rasten Pollesch und seine Crew aus der Proben-Box mit quietschenden Reifen auf die Bühne.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/05/27/goodyear-rene-pollesch-deutsches-theater-berlin-kritik/
Goodyear, Berlin: Diskursgewitter
(...)Und stets geht es um die Rollen, von denen wir wissen, dass wir sie spielen, und von denen wir es nicht ahnen. „Jede sexuelle Aktivität ist für beide undurchschaubar“, heißt es einmal, nur nicht für die imaginierte Zuschauer*in. Das Zwischenmenschliche, das Intime, auch das ist Performance, man kennt den Gedanken bei Pollesch. Nur fehlt diesmal die Zutat, die seinen Abenden zuweilen ihre losen Enden verpassen: die Liebe, das nicht weg zu Diskutierende. Es bleibt diemal abwesend, die Schleifen schließen sich und führen so bruchlos in einander wie eine Rennstrecke. Das, was übrig bleibt ist an diesem Abend der Tod. Oder erwäre es, wenn er sich nicht im Diskursgewitter als rhetorische Geste auflöste. Da wird die Geschichte einer Rennfahrer-Witwe erzählt, die nonchalant berichtete, dass sie immer schwarze Kleider kaufte, da sie wusste, sie würde einmal eines brauchen. Man müsse schon leben wolle, heißt es gegen Ende, aber in einer Gleichgültigkeit gegenüber Leben und Tod. Keine Fragen offen.

Und damit müht sich der Abend, funkelt Polleschs Theater doch meist in der Unschärfe, in der Unsicherheit zwischen den Gedankenschichten. Von denen gibt es diesmal nur wenig. Es ist nach langer Stille auch ein Abend der Selbstvergewisserung, des sich selbst Einredens noch da zu sein und vielleicht sogar relevant. So wie die Darsteller*innen-Darsteller*innen Schwierigkeiten haben, in ihre Rollen zu kommen und sie wieder zu verlassen, taumelt auch das Stück hinein in einen verlernten Neuanfang. Ein blinkender Riesenschuh wird zum Symbol des immer mit einem Fuß in der Rolle sein Müssens. Doch er feht rennwagen-gleich über die Bühne, ziellos, kaum zu kontrollierend. Ein hübsches Bild, das nichts bedeutet. Und darin liegt vielleicht der Freiheitsmoment dieses Abends: in den viel zu seltenen und kurzen Momenten des nichts Aussagenwollens. Leben und Tod sind für diesen Neuanfang womöglich zu schwere Gewichte, das pure, lustvolle Spiel der furchtlosen Fünf – neben den genannten Christine Gross, Astrid Meyerfeldt und Katrin Wichmann – insbesondere die so lang vermissten hochkomischen Ausbrüche von Sophie Rois mehr als genug. Auch dieses Theater muss erst wieder zu sich finden. „Ich komme mir vor wie in einem Porno, in dem der Klempner wirklich nur die Spüle macht“, heißt es einmal. Das trifft den Abend ganz gut. Und das ist auch durchaus in Ordnung.

Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2021/05/27/ein-porno-in-dem-der-klempner-wirklich-nur-die-spule-macht/
Goodyear, Berlin: meist kurzweilig
Ich werde vermutlich kein Pollesch-Fan mehr, und ich fürchte, der müßte man schon sein. Was Konrad Kögler hier schreibt, passt.
Immerhin war es kurz und meist auch kurzweilig. Es gibt wenige gute Momente, die etwas länger nachhallen, also war es kein verlorener Abend. Und natürlich muß jetzt auch nicht plötzlich, nur weil Theater wieder geht, etwas Besonderes entstehen oder gezeigt werden; nur weil die Infrastruktur und die Mittel da sind, mehr als ein nur halb gezündetes Tischfeuerwerk den Kindergeburtstag bereichern. Wäre aber irgendwie schön gewesen.
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