Kolumne Als ob! – Michael Wolf über Kunst, die zum Verwaltungsakt wird
Gleichung ohne Unbekannte
von Michael Wolf
1. Juni 2021. "Wieder mal ein Mann!", schreibt Sabine im Kommentarthread unter der Meldung über den Gewinn des Hans-Gratzer-Stipendiums. Ein Offener Brief beklagt das Fehlen schwarzer Autoren auf der Longlist des Leipziger Buchpreises. Für den renommierten Turner-Preis sind in diesem Jahr ausschließlich Kollektive nominiert. Die Kulturstiftung des Bundes hat die Klimabilanz von Kulturinstitutionen berechnen lassen. Gut möglich, dass Förderungen in Zukunft an die Einhaltung von Emissionsgrenzen gebunden werden.
Was vereint diese Fälle? In ihnen formuliert sich zunächst ein Kunstverständnis, das sich für Produktionsverhältnisse statt für Inhalte interessiert. Nicht das Werk, sondern seine Urheber sind von Bedeutung und die Art und Weise, wie diese gearbeitet haben. Außerdem orientiert sich auch diese Beurteilung nicht an qualitativen Maßstäben. Stattdessen werden einzelne Merkmale (Geschlecht, Anzahl der Beteiligten, Hautfarbe, Klimabilanz) als Faktoren eingeführt oder sogar absolut gesetzt. Es geht also um Datensätze, ums Zählen. Kritik und Mangement von Kunst und Kultur verabschieden sich zunehmend von qualitativen zugunster quantifizierbarer Verfahren.
Gütesiegel und Quantitätskontrolle
Ganz neu ist das freilich nicht, es gab zum Beispiel bis vor kurzem ganz selbstverständlich eine sehr hohe Männer-Quote. Neu indes ist der Wunsch nach einer bewussten, kühlen Berechenbarkeit der Güte von Kunst. Zahlen dienen hier, Schulnoten nicht unähnlich, zur Überprüfung.
Künstlerische Entscheidungen nehmen so immer öfter den Status adminstrativer Probleme an, ihre Kritik die einer Quantitätskontrolle. Man muss sich dabei freilich auf wenige Kriterien beschränken, sonst wird die Gleichung zu kompliziert.
Ökologie sticht Diversität
Als die Künstlerin Noëmi Lakmaier, die einen Rollstuhl benutzt, im Berliner HAU zehn Stunden an 20.000 Luftballons in der Luft schweben wollte, zog sie einen Shitstorm auf sich. Der Grund: die Verwendung des Heliums, man rechnete ihr den Einfluss ihrer Performance auf die Erderwärmung vor. Das Kriterium Ökologie stach hier das der Diversität aus. Der ästhetische Wert der Performance schien ohnehin nicht zu interessieren.
Geht es am Ende gar nicht mehr um Kunst? Ein wachsender Teil des Kulturbetriebs und des Publikums scheint bei seinen Urteilen und Entscheidungen jedenfalls von ästhetischen Erwägungen Abstand zu nehmen. Warum? Womöglich weil ihnen Kunst ohnehin nie ganz geheuer war. Aus guten Gründen, denn unser immer noch stark von der Romantik geprägtes Kunstverständnis zeichnet sich durch Individualität, Entfesselung und Unnützlichkeit aus, mithin: durch Unberechenbarkeit. Kunst ist vieldeutig und potenziell asozial. Wobei, vielleicht ist sie das die längste Zeit gewesen.
Je besser sich künstlerische Entscheidungen und ihre Bewertung in Tabellen darstellen lassen, umso unnötiger werden Inhalte und Wirkungen. Das erleichtert allen Beteiligten die Sache natürlich erheblich, allerdings stellt sich auch die Frage, wie lange es gut gehen kann. Denn Kunst, die sich an Zahlen bemisst, droht sich selbst wegzukürzen, um die Rechnung zu vereinfachen.
Michael Wolf, Jahrgang 1988, ist Redakteur bei nachtkritik.de. Er mag Theater am liebsten, wenn es schön ist. Es muss nicht auch noch wahr und gut sein.
Zuletzt schrieb Michael Wolf über das Vokabular der Corona-Krise.
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Theatermacherstruktur ist also Straßenverkehrsordnung und Theatermachen Fahrspass und Autodesign? - Hm.- Hab ich bisher gar nicht so gesehen! Aber jetzt, wo Sie das sagen, weiß ich endlich, was mich am Theater vor Corona schon so lange gestört hat: Die Macher verwechseln sich so gerne mit Technik-Freaks und Kunst mit Design!