Wehrhafte Werftarbeiter

von Gerhard Preußer

Koblenz, 2. Juni 2021. Endlich ist das große Ding vom Stapel gelassen. Aber wie! "The Last Ship", das autobiografische Musical des Pop-Musikers Sting von 2014, war international nicht besonders erfolgreich. Nun ist es in Deutschland ins Wasser gelassen worden – nach längerer Zeit im Trockendock.

Premiere mit Hindernissen

Eigentlich sollte es im Sommer 2020 in Stralsund beim Theater Vorpommern seine deutsche Erstaufführung haben. Ein Musical über eine Werftstilllegung in einer Stadt, deren Werft seit Jahren ums Überleben kämpft, wäre passend gewesen. Wegen der Pandemie musste das erst verschoben, dann aufgegeben werden. So kam das Stadttheater Koblenz zur Ehre der Erstaufführung, die sollte im November 2020 sein. Auch daraus wurde nichts. Und nun war es so weit: Endlich wieder analoges Präsenztheater und endlich eine Premiere. Aber am Tag wird der Hauptdarsteller krank. So genießen wir die Freuden des analogen Theaters: Ersatztenor singt aus dem Orchestergraben, Regieassistentin markiert auf der Bühne, Regisseur spricht aus dem Off. Drei Anwesende für einen Abwesenden. Alles in Realpräsenz simuliert. Niemand ist zugeschaltet. Wie schade, wie schön.

Last Ship 560 2 SebastianHaake Ensemble c matthias baus uDie Werft kämpft ums Überleben: Das Koblenzer Ensemble auf der Bühne von Bodo Demelius © Matthias Baus

Gegenüber den üblichen Disney-Musicals hat "The Last Ship" den Vorteil des Realitätsbezugs und der Verankerung in Stings Biographie. Zwar folgt die Handlung dem Schema: sozialrelevantes Milieu, Liebesgeschichte, Schlussappell, aber Sting und seinen Buchautoren gelingt es, so viele Realitätspartikel einzubauen, dass das dramaturgische Muster auch gefüllt wird.

Gordon Sumner, alias Sting, verließ mit 18 Jahren Wallsend, die Stadt am River Tyne bei Newcastle in Nord-England, die vom Schiffbau und Bergbau lebte. Die Flucht aus dem Herkunftsmilieu und die Rückkehr nach Jahren ist das eine Thema. Das andere ist der Kampf der Werftarbeiter um ihre Werft. Auch das war die Wirklichkeit in Wallsend. Erst 2009 wird eine der größten britischen Werften, Swan Hunter, dort geschlossen.

Reise in die Vergangenheit der Arbeiterklasse

Diese Wirklichkeit will die Inszenierung von Markus Dietze durch einen bühnenfüllenden LED-Screen ins Koblenzer Theater holen. Darauf sieht man dokumentarisches Filmmaterial, Bilder aus Wallsend, aus dem England der 60er Jahre: Immer wieder ragen riesige Schiffsrümpfe über schäbige kleine Werftarbeiterhäuschen. Immer wieder rauscht ein monströser Stahlkoloss feierlich ins Wasser. Manchmal kann man auch die glorreiche britische Schiffsmalerei bestaunen: Seestücke aus allen Jahrhunderten.

Last Ship 280 WolframBoelzle RaphaelaCrossey c matthias baus uWolfram Boelzle und Raphaela Crossey als Jackie und Peggy White © Matthias Baus

Davor aber spielt sich die Geschichte ab: Der junge Gideon (wie Stings Alter Ego hier genannt ist) verlässt die Stadt, weil er nicht werden will wie sein Vater, geht zur See, ohne zu wissen, dass er bei seiner Freundin Meg ein Kind hinterlassen hat. Bei seiner Rückkehr nach 17 Jahren findet er eine Tochter vor, die, genau wie er damals, nur weg will und in einer Rock-Band spielt. Doch er bleibt da und schließt sich nun dem Kampf der Werftarbeiter gegen die Stilllegung an: sie streiken nicht, sondern bauen weiter. Gideon versöhnt sich nicht nur mit Meg und Tochter, sondern wird Steuermann auf dem Schiff "Utopia", in dem die Arbeiter sich ihre Arbeit angeeignet haben.

Kein Jukebox-Musical

Das Theater Koblenz hat als Drei-Sparten Theater, wie viele mittlere Stadttheater, Erfahrung mit Musicals. Monika Maria Staszak beherrscht das "belting" perfekt in Megs Song "If you ever see me talking to a sailor". Ein deutlicher Gegensatz zu dem sanften lyrischen Tenor des aus Mainz schnell herbeigeholten Steven Ebel, der den Part des Gideon singen musste. Im analogen Theater muss man die Sache passend machen. Das Englisch der Songtexte hat in Koblenz natürlich nicht den originalen Newcastle-Geordie-Sound, beim Begräbnis des Vorarbeiters Jackie werden die Northumbrian Smallpipes nur durch Keyboardsounds ersetzt. Gespielt wird die neueste Fassung, die von 2019, in der die Figur des Priesters und die meisten religiösen Bezüge gestrichen wurden und Meg nun eine Tochter hat statt einen Sohn. Das ist kein Jukebox-Musical, in dem nur bekannte Songs in die Handlung eingestreut sind. Man muss den deutschen Übertiteln folgen, um die emotionalen Beweggründe der Figuren zu verstehen. Aber auch so, durch alle Hindernisse hindurch, wird man in Stings Sound-Wolke und Stings Geschichte hineingesogen.

Last Ship 560 1 MonikaMariaStaszak EstherHilsemer c matthias baus uMonika Maria Staszak als Meg Dawson und Esther Hilsemer als Ellen Dawson © Matthias Baus

Am Schluss wird noch einmal der Widerspruch deutlich, in dem sich solches realhistorisches und zugleich utopisches Theater befindet. Auf dem Bildschirm sieht man Bilder von 1971, als die Arbeiter der von der Schließung bedrohten Upper Clyde Shipbuilding-Werft bei Glasgow ein "Work-in" veranstalteten und in eigener Regie weiterarbeiteten. Dank der allgemeinen Sympathie und Unterstützung von vielen Seiten waren sie erfolgreich. Das war Stings Vorbild für den Schluss seines Musicals (tatsächlich wurde das letzte, halbfertige Schiff in Wallsend nicht fertiggebaut, sondern nach Glasgow geschleppt). Heute bleibt davon nur ein moralischer Appell: "Überall weigern sich die Menschen, die Welt so hinzunehmen, wie sie ihnen vorgesetzt wird. Wir sind die Helden in unseren Geschichten." Und hinten leuchten Bergarbeiter und Schiffbauer in einem Kirchenfenster: Man versteht die musikalische Predigt.

 

The Last Ship
Buch von John Logan und Brian Yorkey
Musik und Liedtexte von Sting
Deutsch von Wolfgang Adenberg
Musikalische Leitung: Karsten Huschke, Inszenierung: Markus Dietze, Bühnenbild: Bodo Demelius, Kostüme: Bernhard Hülfenhaus, Choreografie: Catharina Lühr, Video: Georg Lendorff, Dramaturgie: Juliane Wulfgramm.
Mit: Esther Hilsemer, Wolfram Boelzle, Marcel Hoffmann (bei der Premiere vertreten durch Steven Ebel, Britta Bischof und Markus Dietze), Raphaela Crossey, Monika Maria Staszak, David Prosenc, Cynthia Thurat, Jona Mues, Christof Maria Kaiser, Sebastian Haake, Anne Catherine Wagner, Dirk Eicher, Paul Mannebach, Lena Fuhrmann, Michael Hamlett, Reinhard Riecke, Clara Jörgens.
Premiere am 2. Juni 2021
Dauer: 3 Stunden, eine Pause

www.theater-koblenz.de

 


Kritikenrundschau

Von einem aufwendigen, musikalisch berührenden Abend mit einprägsamen Bildern spricht Claus Ambrosius in der Rhein-Zeitung (6.6.2021). Wesentlich lebt die Inszenierung von Markus Dietze aus Sicht des Kritikers von Bodo Demelius' Industrie-Stil-Bühnenbild, den Videoprojektionen von Georg Lendorff (die noch "ein paar Schichten" dazupackten) und der beachtlichen Gesamtleistung des Ensembles. "The Last Ship" sei hochemotional und spare "weder an Liebe, Trauer, Widerstand, Unterdrückung" noch an weiteren dramatischen Ingredienzen.

"Klare Abläufe und Figurenerfindungen ohne Kitsch, handwerklich perfekt inszeniert und eingeübt, authentisch und leidenschaftlich ausagiert. Ein kleines, so altmodisches wie zukunftsträchtiges Theaterfest", hat Andreas Falentin von der Deutschen Bühne online (3.6.2021) in Koblenz erlebt.

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