Ruf des schwarzen Goldes

von Jens Fischer 

Hannover, 5. Juni 2021. Einem Historienfilm scheinen sie entsprungen, perfekt bäuerlich-schäbig kostümierte Wesen des 19. Jahrhunderts, die in einen weiß-sterilen Laborkasten transferiert wurden, wo sie nun herumschlurfen, drauflosleiden, schwer malochen, aber auch matronig keifen, verstört schweigen oder machodumpf gockeln. Diese erste der fünf Szenen von Ella Hicksons "Öl der Erde", 2016 in London uraufgeführt, ist am Schauspiel Hannover bereit zur Streaming-Premiere.

Zum Verzweifeln kalt

Mit höchst eleganter Kameraführung gleitet das Live-Cam-Team durch die Bühnenaktionen und zoomt stichwortgenau auf die Gesichter der Figuren. Einen prima Video-Mitschnitt ergäbe das mit dazwischen geschnittenen Totalen. Die genießt das Premierenpublikum nun live auf der Bühne und gleichzeitig die Nahaufnahmen auf einer transparenten Leinwand davor. Das vermittelt sofort einen intensiven Eindruck von geistiger und körperlicher Enge. Verstärkend spielt Hajo Tuschy mit derart latenter Aggressivität, dass er zum Quell einer bedrückend angstgesättigten Atmosphäre wird. Ihr hilft eine dämmrig heruntergedimmte Illumination, die zum Verzweifeln kalt getönt ist. Eindrucksvoll bereitet die deutschsprachige Erstaufführung also den Start ins Zeitalter des schwarzen Goldes vor, das noch heute unser tägliches Leben durchdringt und zum Schmiermittel der globalisierten Ökonomie wurde.

Oel der Erde 2 560 KerstinSchomburg uAuf in die Petro-Moderne © Kerstin Schomburg

In Form von Kerosin bringt ein windiger Prometheus das Erdöl zu den Menschen, mit großem Theatereffekt gleißendes Licht ins triste Leben und loderndes Feuer in den Ofen. "Es spendet erheblich mehr Wärme als Walfettlampen oder Holz, es ist heißer als Kohle." Die traditionelle Agrargesellschaft bleibt skeptisch, aber die junge May fühlt sich erleuchtet. Sie scheint die Bedeutung der erblühenden Ölindustrie auch als Möglichkeit zu erkennen, das prekäre gegen ein selbstbestimmtes Dasein einzutauschen. Petro-Moderne und Emanzipation starten gemeinsam durch? Jedenfalls sind Mays Ehrgeiz und ihr Pioniergeist geweckt. Hochschwanger verlässt sie Mann und Großfamilie. Knapp 200 Jahre stromert sie mit ihrer per Anagramm Amy als dramatisches Alter Ego kenntlichen Tochter durch die Geschichte vom unaufhaltsamen Aufstieg zum allmählichen Fall der Herrschaft des fossilen Brennstoffs. Eine brav chronologische Erzählung.

Kopien der Macht

Schon in Szene 2, die 1908 in Teheran spielt, wirkt die Mutter karrieregetrieben, als sie im Dienst der gerade Ölförderrechte ergaunernden Briten einen eitlen Oberst für ihren gesellschaftlichen Aufstieg benutzt. 60 Jahre später ist May finanziell auf ihrem Höhepunkt, menschlich versnobt am Ende – als Geschäftsführerin eines internationalen Ölkonzerns nämlich mitten im gnadenlosen Wettstreit um die Ressourcen. Sie wird dabei nicht frei, sondern kopiert nur skrupellose Männermachtmonster – ein Musterbeispiel gescheiterter Emanzipation. Sehr geschickt spiegelt das Stück die private und politische Geschichte. Hickson konstruiert parallel die Koabhängigkeit von May und Amy sowie der Kolonisatoren und der Ölländer. May repräsentiert die imperialistischen Haltungen der westlichen Industrienationen – und eben Helikoptereltern, die ihre Kinder ständig kontrollieren und zu den vorformulierten Lebensentwürfen manipulieren. Beispielhaft deutlich wird das, als Libyen gegen die Rohstoffausbeutung von Mays Konzern revoltiert und gleichzeitig ihre Tochter eigene Lebensentwürfe entwickelt. Zur Disziplinierung weist May dem Gesandten Gaddafis ebenso die Tür wie Amys Freund. Anja Herden spielt furios mit der Risskante der May-Identität: neoliberal gierig und rücksichtslos ihre Interessen durchzusetzen – dabei die Unabhängigkeit mit Einsamkeit und Gefühlskälte zu bezahlen.

Oel der Erde 1 560 KerstinSchomburg uRisskante der Identität: Amy macht Ölkarriere © Kerstin Schomburg

Nicht verschwiegen werden soll der Regisseur des Abends: Armin Petras. "Öl der Erde" ist die erste Inszenierung, nachdem seine rassistischen Ausfälle gegen einen Düsseldorfer Schauspieler multimedial zur Diskussion über hierarchischen Strukturen genutzt wurden, die Diskriminierungen aller Art geradezu bedingen. Auch mit "Öl der Erde" ließe sich das prima thematisieren. Was Petras nicht tut. Er verschlimmbessert seinen angekratzten Ruf aber auch nicht mit plumpen Anti-Rassismus-Statements auf der Bühne. Beckmesserisch könnte man zwar fragen, warum der geldmächtige Kerosinbringer als böser Kapitalist von einem Darsteller gespielt wird, der nicht zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehört, man könnte aber auch gleich antworten: Weil er der Bote von Fortschritt und Zukunft ist. Petras macht letztlich weiter wie zuvor. Gerade die Darstellerinnen erblühen unter seiner Regie. Die Mutter-Tochter-Hassliebe steht im Fokus. Wobei die Szene für Szene neue Besetzung der Rollen der emotionalen Entwicklung dieser Beziehung etwas abträglich ist.

Entfremdung mit Umarmungssehnsucht

Drumherum arrangiert Petras ein paar performative Späßchen und stilisiert die Männerfiguren zumeist eindimensional lächerlich. Wenn nach der großartigen ersten Szene die Videoebene wegfällt, sinkt leider auch der Intensitätslevel der Produktion. Rühren wollend dann der Schluss. Der Blick zurück nach vorn endet im Jahr 2051, May und Amy leben verarmt wie zu Beginn, der letzte Tropfen Öl scheint gerade raffiniert, aber aus China wird schon ein neuer Energieträger angepriesen, für den der Mond ausgebeutet wird. Jetzt ist Amy begeistert und May warnend müde. Über die Moral von der Geschicht‘, wir lernen aus der Historie nicht, spielen Mutter-Tochter hinweg, indem sie ihre wachsende Entfremdung mit Umarmungssehnsucht kitten. Ein bisschen kitschig, aber sympathisch.

 

Öl der Erde
von Ella Hickson, deutsch von Lisa Wegener
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Armin Petras, Bühne: Julian Marbach, Kostüme: Patricia Talacko, Musik: Johannes Hofmann, Video: Rebecca Riedel, Dramaturgie: Johanna Vater.
Mit: Anja Herden, Irene Kugler, Kaspar Locher, Nicolas Matthews, Viktoria Miknevich, Alban Mondschein, Katherina Sattler, Hajo Tuschy.
Premiere am 5. Juni 2021
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater-hannover.de

Kritikenrundschau

Ronals Meyer-Arlt von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (7.6.2021) geht hart mit dem Stück ins Gericht: "Das Mutter-Tochter-Ding bleibt über die Jahre gleich – und gleich banal. May oder Amy sind langweilige, dünne Figuren, die einander ebenso wie dem Publikum nichts zu sagen haben und das auch noch in abgegriffenen Wendungen tun. Das Ganze hat den Charme und die Tiefe einer Telenovela." Die Chance, etwas Maßgebliches zur menschengemachten Klimakatastrophe zu sagen, verpasse die Autorin.

Als "wunderbar kaleidoskopisch" beschreibt Stefan Gohlisch von der Neuen Presse (7.6.2021) das Stück. "Ausstattung und Videos verorten die Akte so präzise wie verspielt in ihren Zeitaltern. Man könnte Stunden damit verbringen, die popkulturellen Referenzen zu entschlüsseln." Armin Petras betrachte dieses sehr britische Stück durch die Lupe des deutschen Verfremdungstheaters.

Über ein "unruhiges Historienlehrstück, das die einzelnen Epochen zwar aufwendig zeichnet, aber weder Spannung, Haltung oder gar Wut versprüht", schreibt Katrin Ullmann in der taz (25.6.2021). "Das Problem des Abends, und damit auch des Stücks: Er sucht 150 Jahre Erdöl-Geschichte zu erfassen und kann – natürlich – auf der Bühne nicht die erforderliche Komplexität herstellen. Trotz aller Spielfreude des Ensembles spürt man immer wieder eine Unentschlossenheit seitens der Regie zwischen dokumentarischer Verpflichtung und szenischer Behauptung. Da ist ein ständiges Suchen, zwischen Video und Spiel; ein Erzählstrang oder ein dramaturgischer Rhythmus entsteht nicht."

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