Normalität – Nein!

von Christian Rakow

Berlin, 8. Juni 2021. Und dann kommt Orit Nahmias. "Wie geht es Dir, Orit", fragt die Stimme aus dem Lautsprecher, die hier alle Spielerinnen wie am therapeutischen Gängelband durch den Abend führt. "Schlecht. Ich hab gerade meine Periode", antwortet Orit. Auf den Schlag ist es da, das Gorki-Heimatgefühl. Denn diese herrlich aufdringliche Privatheit kennt man von Orit Nahmias natürlich (vor allem von ihren Auftritten bei Yael Ronen).

Lost in Referenzen

Auch sonst sind in dieser mit biographischen Einlassungen gespickten Stückentwicklung die Wiedererkennungseffekte erwünscht: Vor Nahmias verfolgten wir schon Kate Strong, wie sie sich tänzerisch an ihre Anfänge im Ballerinenfach samt einschlägiger Panne erinnerte und anschließend gleich einer modernen Elektra eine garstige Muttermordszene imaginierte. Nach Nahmias stellt Çiğdem Teke sich als Schauspielerin und Mutter voller Selbstvorwürfe vor, die ob des Premierenstresses ihren Nachwuchs vernachlässigt. Leise klingt darin das Motiv der Kindesmörderin Medea an. Nahmias selbst prunkt noch mit Anspielungen auf Doris Days Songklassiker "Que Sera Sera" und einer trocken ausufernden Reimfrosch-Einlage. Das alles größtenteils auf Englisch. Kurzum: Wir stecken in einem Abend, der vor allem die Theaternerds und Kulturbetriebsoberauskenner adressiert.

It's going to get worsevon Ersan Mondtag & EnsembleREGIEErsan MondtagBÜHNENina PellerKOSTÜMETeresa VerghoLICHTDESIGNRainer CasperDRAMATURGIEAljoscha BegrichIn Gold-Lettern: ein Mittelfingergruß ans Hohenzollernschloss gegenüber dem Gorki Theater © Armin Smailovic

Über der Bühne (von Nina Peller) prangt in Anspielung auf die Kuppel des Berliner Stadtschlosses die Inschrift: "Knie nieder vor dem Herrn, Bitch." Was ein wenig das Theaterpatriarchat und seinen literarischen Kanon aufs Korn nimmt, in dem Frauenrollen traditionell kniefallartig flach daherkommen (wie uns später Melanie Jame Wolf – die sich als die Therapie-Stimme aus dem Lautsprecher entpuppt – erläutern wird). Anderseits ist's ein Mittelfingergruß hinüber zu ebendiesem Hohenzollernschloss, das im heutigen Stadtbild den abgetragenen "Palast der Republik" ersetzt – den Palast, der zu DDR-Zeiten Aufnahmeort der Varietésendung "Kessel Buntes" war. Und eine Art "Kessel Buntes“ soll dieser Gorki Theaterabend auch sein. Aber nicht naiv brodelnd, eher doch ausgekocht, abgebrüht.

Nüchterner Gulasch

Vielleicht ist es nur konsequent, dass man in diesen Tagen mit einer nüchternen Kulturbetriebsselbstbespiegelung rauskommt. Überall sprießen die Premieren. Und man wünscht sich, dass sie ein Zeichen sind, ein Türaufreißen, ein Durchatmen, ein Befreiungsschrei der Bühnenkunst. Aber vieles weht einen routineförmig an, auf den letzten Drücker vor die Sommerferien gequetscht. Langgeprobtes drängt aus den Vorratskammern, bevor alles verstopft. Die Terminkalender für Herbst sind längst voll. Die Karawanen wollen weiterziehen. In dieser Lage trifft eine rotzige Geste durchaus den Nerv, ein "Ich will nicht zurück zu dieser Normalität", ein "Es wird schlimmer, Leute – It's going to get worse".

Getting Worse 5 600 ArminSmailovic uÇiğdem Teke spielt (u.a.) Çiğdem Teke als Mutter in Premierenstress © Armin Smailovic
Ersan Mondtag, der gerade fünf Tage nach seiner jüngsten BE-Premiere diesen Gorki-Auftakt nach dem langen Corona-Lockdown als Regisseur und Mittexter verantwortet, sucht also die Verweigerungsgeste. Im Format einer Nummernrevue, die sich am Defekt, am Ausbleiben des Witzes, an der Ödnis des zwanghaften Weitermachens entflammen will. Aber doch nirgends auf Temperatur kommt. Es mangelt gravierend an Timing und Präzision. Die in losen Improvisationen geborenen Texte schleppen sich zu ihren Pointen. Das betont Unterspielte in den Auftritten wirkt nurmehr nachlässig. Wie Findlinge stehen die Szenen nebeneinander, als sei isoliert mit reisenden Gastkünstler*innen geprobt worden und nicht mit einem Ensemble. Statt "Kessel Buntes" also postdramatische Gulaschkanone.

It's going to get Claessens

Nach etwa sechzig Minuten betritt Benny Claessens die Bühne. Singend. Und ein singender Benny Claessens hat nun wirklich noch jeden Abend gerettet. Claessens, der hier PJ Harveys "To Bring You My Love" hinschmirgelt, der insiderisch rumätzt, der auch Piano spielt und sich dabei dauernd unterbricht, der eitel ist und bissig, der das Publikum attackiert, der keinen Genuss bieten will, der wieder singt, der auf den Theaterbetrieb scheißt, der eine Lanze bricht für die im "Spiegel" ob ihres Führungsstils angeprangerte Gorki-Intendantin Shermin Langhoff (eine rassistische Kampagne, die von den Gebaren weißer Männern ablenken soll, sagt Claessens), der stolziert, der die verspielten Flamingo-Kostüme (von Teresa Vergho) zur Schau trägt, der mit seinem Gewicht kokettiert und mit seinen zahlreichen Schauspielerpreisen, der wieder singt, der über eine Stunde lang alles tut, um den Titel des Abends "It's going to get worse" einzulösen, der alles schlimmer und schlimmer und fader und also – gemäß der höheren Logik schmerzhafter Kunst – um so viel besser zu machen sucht. Dieser Benny Claessens müsste es doch eigentlich rausreißen. Aber nein.

 

It’s going to get worse
von Ersan Mondtag und Ensemble
Regie: Ersan Mondtag, Bühne: Nina Peller, Kostüme: Teresa Vergho, Lichtdesign: Rainer Casper, Dramaturgie: Aljoscha Begrich, Inspizienz: Berit Lass.
Mit: Kate Strong, Orit Nahmias, Çiğdem Teke, Melanie Jame Wolf, Benny Claessens.
Premiere am 8. Juni 2021
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 

Kritikenrundschau

Für André Mumot in "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (8.6.2021) hat Ersan Mondtag die "Gorki-Dämmerung" inszeniert, eine Abrechnung mit Stoffen und Formen, die man im Gorki typischerweise serviert bekommt ("performative autobiographische Abende"). Das Gorki-typische "Wir erzählen was von uns" werde "persifliert und auch ad absurdum geführt". Der Kritiker hat das Gefühl, dass dieser Abend (insbesondere mit dem Claessens-Finale) als "Frontalangriff" gegen das Theater und sein Publikum, "einen wunden Punkt trifft".

Den Hauptpart des Abends übernehme "mit virtuoser Penetranz" Benny Claessens. "Bevor das Theater donnernd untergeht, zeigt uns die weinende, unter Schmerzen tanzende Kate Strong noch den Stinkefinger. Da haben wir zwar längst schon den Faden verloren, dürfen uns als Publikum aber schuldig oder sagen wir einmal mitverantwortlich und auf jeden Fall bestraft fühlen. Entsprechend konsterniert der Applaus", schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (9.6.2021).

Momentweise kippe die schrill-komische Performance in eine bedrückende Grundstimmung. "Melancholie breitet sich unter dem Abend aus aus wie ein dunkelblauer Teppich", schreibt Cora Knoblauch vom RBB (9.6.2021), die sich von Benny Claessen begeistert lässt. "Allein für seinen schrill-komischen Solo-Ritt lohnt sich der Abend im Gorki unbedingt."

Für Barbara Behrendt auf rbb|24 (9.6.2021) ist die "anti-politisch-korrekte Haltung" des Abends "in der überhitzten Debatte durchaus wichtig, und es ist erfrischend, wie sehr das Ensemble mit den Gorki-Gewohnheiten bricht. Große Kunst ist der Abend allerdings nicht. Dafür sind die einzelnen Szenen viel zu ausgewalzt und schlicht aneinandergereiht. Und man muss schon sehr fest im Diskurssattel sitzen, um überhaupt verstehen zu können, was hier ironisch verpackt kritisiert wird, und was eben nicht. Ein Abend ausschließlich für Insider."

Mit den Verweisen auf das Stadtschloss und den Palast der Republik am Beginn betreibe Mondtag einzig "Budenzauber, Effekthascherei, Fata Morgana", berichtet Ina Beyer im SRW 2 (9.6.2021) In den anschließenden Schauspiel-Monologen "reiht sich eine interne Anspielung an die andere, läuft der eine um den anderen Auftritt ins Leere". Es gehe "vage um sich verschlechternde Zustände: im Berufsleben, während der Pandemie, im Theater", wobei jeder Bericht "im Ungefähren verhallt".

"Bei Mondtag kreist das Theater effektbegeistert um sich selbst – Effekt im Sinne von Karl Kraus, also als Wirkung ohne Ursache", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (10.6.2021) über die beiden Juni-Premieren von Ersan Mondtag (hier der BE-Abend). Am Gorki sei ein "Lass-uns-mal-über-Theater-reden-Ensemble-Projekt" zu erleben und "Bewerbungsgespräch-Monologe" von Schauspieler*innen. "Nicht dass das alles unsympathisch wäre, es ist nur etwas ziellos und überflüssig." Beide Inszenierungen bewiesen für den Kritiker "neben ihrer offensiven Selbstverliebtheit das Komplettdesinteresse am Rest der Gesellschaft, der Außenwelt jenseits des Bühnenausgang".

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