Nur Eitelkeit auf Erden

von Kai Bremer

Köln, online 12. Juni 2021. Am Schauspielhaus Köln ging gestern Lucia Bihlers Inszenierung von Madame Nielsens "Der endlose Sommer" online. Der Abend wurde auf der Homepage als "visuelles Hörbuch" angekündigt, wodurch zwar irgendwie klar war, dass hier keine weitere brave Dramatisierung eines Romans zu erwarten war. Aber es stand doch die Frage im Raum, ob diese Bezeichnung einen programmatischen Kern hat.

Ein Sommer zwischen Lust und Tod

Der Roman erzählt von einem Jungen (Yuri Englert), der – wie es gleich zu Beginn und dann leitmotivisch wiederholt heißt – "vielleicht ein Mädchen ist, es aber noch nicht weiß". Diese Grundkonstellation wurde nach dem Erscheinen des Romans wiederholt auf die Biographie der Autorin bezogen. Der Junge verbringt den titelgebenden endlosen Sommer in Jütland in einer Art Kommune. Dort lebt er zusammen mit seiner Mutter (Melanie Kretschmann), ihrem deutlich jüngeren Liebhaber (Anton Weil) sowie dem "Mädchen" (Hannah Müller) und Lars (Nicolas Lehni), von dem immer wieder erzählt wird, wie gut er aussieht. Erzählt wird nicht nur von gegenseitigen Annäherungen und Enttäuschungen, sondern auch von Lars' HIV-Erkrankung und seinem Tod.

EndloserSommer Köln1 560 Schauspiel Köln u Die Erzählerin Madame Nielsen inmitten eines barocken Stilllebens © Schauspiel Köln

Die Emanzipationsgeschichte der Mutter vom Stiefvater, die das erste Drittel des Romans ausmacht, wurde fast ganz gestrichen. Zudem wurde die Haupthandlung recht brav chronologisch geordnet, so dass die zeitlichen Sprünge und Rückblicke, die wesentlich für den Roman sind, weitgehend fehlen. Dadurch ist die Handlung in Bihlers Inszenierung deutlich linearer strukturiert als ihre Vorlage. Dieser Eindruck wird noch dadurch unterstützt, dass mittels Fade-out-to-Black-Schnitten Handlungssprünge ausgesprochen konventionell visualisiert werden, während der Roman ohne Kapitelüberschriften auskommt und höchstens mal eine Leerzeile setzt, wenn die Handlung vor- oder zurückgreift.

Derart betrachtet, wäre die Inszenierung also besser als "Inhaltsangabe" denn als "Hörbuch" bezeichnet worden. Sollte sich gestern die/der eine oder andere Zuschauer*in tatsächlich ein höchstens moderat gekürztes Hörbuch erhofft haben, dürfte also die Enttäuschung nicht nur deswegen groß gewesen sein, weil schon nach 54 Minuten Schluss war.

Bilder voller Blumen und Obstberge

Wer Bihlers Inszenierungen kennt, dürfte freilich schon geahnt haben, dass das kleine Attribut "visuell" deutlich markiert, dass hier "Der endlose Sommer" eben nicht nur nacherzählt wird. Das ist von der ersten Szene an klar. Der Bildschirm ist zunächst dreigeteilt. Madame Nielsen sitzt in einem cremefarbenen, glänzenden Kleid im Halbprofil und beginnt die ersten Zeilen des Romans zu sprechen. Links und rechts gerahmt wird sie von gespiegelten rosa Lilien.

Diese Anordnung in Form eines Triptychons kündigt das Bildprogramm der gesamten Inszenierung programmatisch an. Bis zum Schluss wird Bihler anspielungsreich und opulent das Ineinander von Lust und Tod, das der Roman verhandelt, mittels einer Vielzahl von Tableaux vivants illustrieren (Szenenbild: Laura Kirst). Sie sind wie gewaltige Stillleben mit Blumen- und Obstbergen eingerichtet, manchmal auch wie Schattenspiele von Robert Wilson.

In Großaufnahmen beißen die Schauspieler*innen sinnlich in Äpfel, graben ihre Finger lustvoll in das Fleisch von Granatäpfeln und Passionsfrüchten oder zerdrücken eifersüchtig Orangen. Sie tragen dazu aufwendige, farbintensive Kostüme (Leonie Falke), die deutlich der Hippie-Ästhetik verpflichtet sind. Die Kombination aus Hemd und Weste, die Jens trägt, könnte auch in einem Gemälde Bruegels zu finden sein. Diese Assoziation verstärkt sich noch dadurch, dass in manchen Szenen nicht nur Obst, sondern auch Würste herumliegen – willkommen im Schlaraffenland.

EndloserSommer Köln2 560 Schauspiel Köln u Ein Netztheater-Triptychon: Madame Nielsen mit Yuri Englert (Mitte) © Schauspiel Köln

Bihlers barocke Bilder dienen aber nicht nur dazu, das In- und Nebeneinander von Erotik und Opulenz im endlosen Sommer zu inszenieren. Immer wieder übernimmt Madame Nielsen die Funktion der Erzählerin ihres eigenen Romans. Das bringt nicht nur das oben erwähnte Ineinander von Roman und Biographie der Künstlerin zum Ausdruck. Dadurch, dass Madame Nielsen bis auf die Knochen abgemagert ist, wirkt sie im Kontrast zum glatten, jugendlichen Äußeren der anderen Schauspieler*innen wie eine Personifikation des Todes. Umgeben von Opulenz und Erotik wird Madame Nielsen als ein lebendes Memento mori inszeniert, das das In- und Miteinander von Tod und Leben, von dem der Roman handelt, eindrucksvoll versinnbildlicht.

Das Leben ein Traum

Bihlers Bildsprache ist dabei besonders zwingend, weil auch "Der endlose Sommer" immer wieder auf das 17. Jahrhundert hinweist. So werden die Spuren einer Liebesnacht auf der Haut der Mutter mit der Malerei Caravaggios verglichen, auch auf den Jedermann wird angespielt.

Vor allem aber wird während des endlosen Sommers immer wieder gesagt, dass das Leben ein Traum sei. Mit der Reminiszenz auf Calderóns vielleicht wichtigstes Drama erinnert der Roman an die Scheinhaftigkeit wie die Theatralität der Welt, die nur der Tod endgültig zu durchbrechen vermag. Diese Sicht auf die Welt hat nicht nur Calderóns Stück gezeigt, ihr ist das ganze Zeitalter verpflichtet. Lucia Bihlers Tableaux vivants zeigen eindrucksvoll, wie facettenreich diese Weltsicht in Madame Nielsens Roman präsent ist.

 

Der endlose Sommer
von Madame Nielsen
Visuelles Hörbuch | Uraufführung
Regie & Videokonzept: Lucia Bihler; Szenenbild: Laura Kirst; Kamera, Schnitt, Videokonzept: Rosanna Graf; Kostüme: Leonie Falke; Soundtrack und Sound: Jacob Suske; Choreografie: Paulina Alpen, Mats Süthoff; Licht: Jürgen Kapitein, Tim Borner, Matthias Kohmann; Dramaturgie: Julian Pörksen, Sarah Lorenz
Mit: Yuri Englert, Melanie Kretschmann, Nicolas Lehni, Hannah Müller, Madame Nielsen, Anton Weil.
Premiere online am 12. Juni 2021
Dauer: 54 Minuten

www.schauspiel.koeln

 

 

Kritikenrundschau

Von einem einzigartigen surrealen Kunst-Stück spricht Daniela Abels in der Kölnischen Rundschau (15.6.2021). Der lakonische wie "rastlose Erzählstil" des Textes mit seinen Zeitsprüngen, Rückblicken und Einschüben werde von Autor und Performer Madame Nielsens im Wechsel mit den Schauspieler:innen gesprochen. Er sei entzerrt und in eine chronologische Form gebracht. Für den Text schaffe Lucia Bihler eine starke visuelle Ebene, auf der sich die Spieler zu Tableau Vivants zusammenfänden.

Es passiere nicht viel, "doch das Nicht-Geschehen ist herrlich", schreibt Christian Bos im Kölner Stadtanzeiger (14.6.2021). Was die Erzählung im Lauf der Zeit enthebe, verstecke sin nun in den Bildern. Yuri Englert, Melanie Kretschmann, Nicolas Lehni, Hannah Müller, Madame Nielsen, Anton Weil sprächen wie unter Narkose. Jacob Suskes Musik dazu sei "ein Trip ins Innere". Auch freut sich der Kritiker an holländischen Stilleben in der Neuinterpretation von Jeff Koons.

"Umwerfend " findet Stefan Keim diesen Theaterfilm in der Sendung "Fazit" von Deutschlandfunk Kultur (12.6.2021), der ihn in seiner eigenwilligen konsequenten Ästhetik an Werner Schroeter erinnert. Die Arbeit sein von einer "unverschämten Sinnlichkeit", deren kitschige Paanoramen" und "lebende Bilder" die ihn ebenso fasziniert wie begeistert haben. Insbesondere het Keim den Schauspieler Yuri Englert, die für Kamerea und Schnitt verantwortliche Rosana Graf und Madame Nielsen hervor.

 

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