Wenn der Nazi-Nachbar grüßt

von Dorothea Marcus

Köln, 18. Juni 2021. Vögel zwitschern, Grashalme wogen, Flugzeuge donnern. Ein lauschiger Sommerabend ist es da im Carlsgarten des Schauspiel Köln ausgebrochen, dort, wo Intendant Stefan Bachmann ein Urban Gardening-Projekt vor die alte Interims-Fabrikhalle Carlswerk bauen ließ (denn das Schauspielhaus am Offenbachplatz bleibt auf unbestimmte Zeit wegen skandalöser Renovierungsarbeiten geschlossen).

Im "Museum der Migration"

Oben auf dem Hügel vor der Container "Grotte" hat Bühnenbildner Christian Beck einen weißgedeckten Tisch gebaut, rote Gartenstühle in die zauberhafte Blumenwiese gepflanzt. Unten sitzen die Zuschauer, langgezogen aufgestuhlt, erstmals im Outdoor-Theater. Selbst das Programmheft ist aus Samenpapier zum Selbsteinpflanzen.
3 560 opferfestPuppenspiel unter freiem Himmel: Magda Lena Schlott, Anna Menzel und Yuri Englert © Thomas Aurin
Puppen thronen oben auf der blühenden Pracht, "Ali", "Esra" und "Laiss", in lässiger Adidas-Kluft oder Latzhose. Eine von ihnen ist ein Alter Ego, vielleicht des Autors Ibrahim Amir, mit Laptop. Er nimmt uns mit in ein "Museum der Migration", und vielleicht auch in Teile seiner Familiengeschichte in mehreren Vergangenheitsschichten.

Gartenfest bei der muslimischen Familie

Zuerst kommt es allerdings eher daher wie ein Wikipedia-Theater, das die Grundbegriffe des Islam erklärt. Wann ist Flisch hallal, ist Beschneidung eine religiöse, kulturelle oder gesundheitliche Frage, was ein Opferfest? Transportiert wird das über Walid, den jüngsten Sohn der Familie, Alexander Angeletta, mager und leidenschaftlich, mit zartlila gefärbten Haaren und irgendwie nach Militär aussehenden Stiefeln, der seine Nase stets in den Koran steckt und dem Vater vorwirft, den Widder zum Opferfest nicht selbst zu schlachten. Der, gespielt von Benjamin Höppner als bärtigen Brummbär, ist eigentlich Kommunist und schwer genervt von so viel zur Schau getragener Religiosität, steigt aber dennoch vorher zur religiösen Reinigung in den dampfenden Eisnebel-Whirlpool.

2 560 opferfest Gartenkolonie mit Abgründen: Janek Maudrich, Alexander Angeletta, Yuri Englert, Lola Klamroth, Thomas Müller, Benjamin Höppner, Kristin Steffen © Thomas Aurin

Zum größten islamischen Fest hat sich die Familie im Garten "unter dem Marillenbaum" auf dem blühenden Hügel eingefunden, Amir lässt Konflikte von drei Generationen Einwanderungsgeschichte aufeinander prallen: mit Bruder Hasan, der als Puppe sein Riesenbaby "Mohammed" im Kinderwagen mitgebracht hat, und den Eltern Rashid und Sara – Lola Klamroth in blauschimmerndem Kleid ist die entspannteste und toleranteste Sympathiefigur des Abends. Sie warten auf Schwester Ranya und ihren neuen Freund Max, von dem Rashid mindestens erwartet, dass er bei ihm um die Hand seiner Tochter anhält.

Und dann gibt es da auch noch den anderen "Bio-Österreicher", den Nachbarn (Yuri Englert), Uniform-Narr und Fahnenfreak. Mit grüner Gärtnerhose, rosa Schweinchen-Hausschuhen gießt er von Ferne die Hochbeete, um schließlich dann auch mal vorbeizukommen. Regisseur Moritz Sostmann hat ihn als einzigen mit Gummi-Maske ausstaffiert: er ist der Prototyp des Neu- und Altrechten und doch so leutselig tolerant gegenüber der Nachbarsfamilie, bei der das Leben tobt. Auch in seine Vergangenheit taucht der Autor hinab, wenn er aus Soldatenbriefen zitieren lässt: "Liebste Greta, liege hier im Schützengraben".

Echte Menschen schauen vorbei

Nicht gerade leicht sind solche Einschübe einzuordnen, etwas mühsam und nicht ganz einfach nachzuvollziehen beginnt dieser Abend, der doch eigentlich eine Komödie sein will. Toll sind von Anfang an allerdings die Überschneidungen der Realität, die der Regisseur eingebaut hat: da der Carlsgarten in der Kölner Flugschneise liegt, lässt Sostmann Flugzeuglärm vom Band die Szenen trennen, aber oft kommt eben auch ein echtes Flugzeug lärmend am Himmel vorbei, von Amir dann lässig improvisiert als "Migranten, die mit Ryan Air nach Mallorca fliegen", beschimpft.

1 560 opferfest Magda Lena Magda Lena Schlott mit Mohammend im Kinderwagen © Thomas Aurin

Ein besonders verrückter Einbruch des Realen geschieht, als tatsächlich ein echter Nachbar aus der angrenzenden, migrantisch geprägten Keupstraße mit Wasserflasche vorbeischlurft und den laut gebrüllten Streit zwischen Schauspielervater und -sohn schlichten will – und von Höppner und Angeletta live ins Spiel mit einbezogen wird, ein grandioser Moment von souveräner Schauspieler-Abgezocktheit.

Mir san mit'm Radl da

Danach kommt der Abend sichtlich in Fahrt. Lieblich lächelnd kommt Tochter Ranya (Kristin Steffen) mit ihrem neuen Freund Max (Janek Maurich) vorbeigeradelt und denkt nicht im Traum daran, ihren Freund zu heiraten. Max, ganz smart aufstrebender Wissenschaftler, schreibt eine Dissertation über "Migration und Schmerzempfinden", die "Summatisierung" von Traumata über Migrationsgenerationen – rollt aber röchelnd vom Hügel, als ihm Ranya spontan eine Schwangerschaft gesteht.

Opferfest4 560 Thomas Aurin uSpieler inmitten des Urban-Gardening-Projekts: Thomas Müller © Thomas Aurin

Da ist die Stimmung schon ziemlich durch die Decke gegangen, es rotiert der grillende Vater mit Axt über die Bühne, hantiert Amir mit Pistole, hat Ranya gerade die bevorstehende Scheidung des Bruders ausgeplaudert. Das ist zuweilen, bei der Hitze, trotz Mikroports etwas bemüht über die große Bespieldistanz gebrüllt. Die Eskalation wirkt aufgesetzt. Und doch entsteht immer wieder Komik aus verblüffenden Erkenntnis-Momenten. Wenn etwa der österreichische Nachbar offenbart, dass sein Vater auch einst nach Damaskus gezogen ist – es aus seiner Perspektive niemals "migriert" hieße – und dieser sich ganz am Schluss als flüchtender SS-Mann entpuppt. Oder wenn Max, der "dahergelaufene Mitteleuropäer", die Hosen herunterlässt und sich plötzlich doch als zu Forschungszwecken beschnittener Moslem outet.

Schön ist auch, wie der Autor Amir, als Syrer selbst nach Österreich gekommen, als Puppe über allem thront, manchmal geradezu in Yoga-Pose schwebt und auf poetische Weise seine Erzählperspektive reflektiert, die Seltsamkeit, in einer anderen Sprache zu schreiben, die emotionalen Widersprüche eines Lebens in neuer Heimat, zwischen emotionaler Bewahrung von Tradition, Lebensträumen eines Ehepaares und innerem Aufstiegs-Zwang. Neu ist das alles gewiss nicht, aber man sieht dieser Familie aus Puppen und Schauspielern gerne zu, weil sie unter den komödiantischen Zuspitzungen so real und lebendig rüberkommt.



Das Opferfest
von Ibrahim Amir
Uraufführung
Regie: Moritz Sostmann, Bühne: Christian Beck, Kostüm: Elke von Sivers, Lise Kruse, Puppen: Hagen Tilp, Licht: Jürgen Kapitein, Dramaturgie: Stawrula Panagiotaki.
Mit: Benjamin Höppner, Lola Klamroth, Thomas Müller, Alexander Angeletta, Kristin Steffen, Janek Maudrich, Yuri Englert. Puppenspiel: Magda Lena Schlott und Anna Menzel.
Premiere am 18. Juni 2021
Spieldauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.schauspiel.koeln

 

Kritikenrundschau

An diesem Abend prallten Gegensätze aufeinander, die aber nicht abschließend ausgehandelt würdem. "Weil man mit ihnen leben muss. Und kann", schreibt Axel Hill von der Kölnischen Rundschau (21.6.2021), den der boulevardeske Familien-Part des Stücks zum Lachen brachte.

Christian Bos vom Kölner Stadt-Anzeiger (21.6.2021) zeigt sich enttäuscht vom neuen Stück des geschätzten Autors. "In 'Opferfest' will Amir nun leider gar nichts gelingen: Zu brav repetieren die Figuren die Fakten islamischer Religionsausübung, zu starr fallen die Stereotypen aus." Niemand mache hier eine Entwicklung durch. Die Meta-Ebene mit den Puppen bremse das eh schon mühsame Fortschreiten der Handlung zusätzlich aus, das finale Eskalieren der Familie wirke unverdient.

 

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