Gorgeous!

von Dorothea Marcus

Düsseldorf, 29. Juni 2021. Natürlich ein White Cube. Wohin anders soll man auch ein Stück über Kunst setzen – das nicht von Yasmina Reza ist. Minutenlang verharren die fünf Performer still darin, bis sie sich krümmen, ihre Körper zu zittern beginnen, sie husten und auf den Boden fallen, als sei eine fremde Macht in sie gefahren. "I am the space within a space within a space" röhren Alloy Mental zu harten Techno-Bässen, während die Performer in Formationen auf und ab rasen, aneinander vorbei, nach vorne und hinten, sich nie berührend – eine kraftvolle, treibende und fließende Choreografie.

Ikonische Posen im Bedeutungswandel

Sie schieben weiße rechteckige Würfel in den Raum, machen sie zu Sockeln, stellen sich darauf in Posen, zapfen das kollektive Kunst-Gedächtnis an: Rodins "Denker", Michelangelos "David", Lenin mit siegreich-fürsorglich-bestimmend ausgestreckter Hand aus St. Petersburg, Christo Redentor mit ausgebreiteten Armen aus Rio, der Diskuswerfer von Myro. Einer kniet davor, ist es der "Große Kniende" von Balkenhol? Oder Willy Brandt? – vor dem Kind, das mit Napalm beschossen wird? Rhythmisch getaktet wechseln sie sich ab, fließen in die Posen und wieder hinaus.

Kunst 600 PetriTuhkanenPoser in Düsseldorf © Petri Tuhkanen

Mit hektischer Referenzsuche nach ikonografischen Menschheitsbildern kommt die Betrachterin hier aber trotzdem nicht weiter, die meisten Zuordnungen und Kontexte entgehen ihr wohl auch. Interessant ist vielmehr, wie die vermeintlich universalen Posen durch winzige Bildveränderungen und Kontextverschiebungen gestört werden können: einmal in die Unterhose gefasst und den Mund lasziv geöffnet, schon ergibt die pompöse Pose auf der Bühne eine pornografische Grenzüberschreitung. Mit heruntergezogener Feinripp-Unterhose und nacktem Hintern wird der "Denker" zum Toilettenbesuch, ein Handtuch am Arm macht den "David" zur Wellness-Geste, ein Coca-Cola-T-Shirt zur Werbetafel.

Auftritt: Der Kunstmarkt

Nach einer knappen Stunde erst setzt die Sprache ein:  Sie rufen sich Versteigerungswerte zu, von 17 auf 100 Millionen in Augenblicken, absurde Wertsteigerungen von Kunst – die von Aura, Distinktion, Privilegien, Sehnsüchten und Heiligkeits-Zuschreibungen erzählen. "I can't believe that people think art is not an asset. Art is an asset because you pay for it", ruft einer. Die Rolle der Kritik im elitären Business beschränkt sich auf Performer, die stolzierend im Raum "gorgeous" oder "this is shit" rufen, austauschbare Werturteile verkünden, nicht begründet, aber entscheidend.

Ist der weiße Kubus als Kunstort ein heiliger Raum, aufgebaut wie ein Tempel, die letzte Zuflucht des gottverlorenen Gegenwartsmenschen? Oder setzen sich im Kunst-Business die nackten Marktgesetze mit nur viel krasseren Methoden durch? Von der Rampe aus vertreten die fünf verschiedene Kunsttheorien: Sebastian Rudolph ganz links will mit Kunst "doch mal richtig in Kommunikation gehen", zum Beispiel über "Menschenrechte", während Kristof Van Boven ganz rechts das rein ästhetische Primat der "l'art pour l'art" hochhält und Rea Lest aus Bruce Naumanns "100 Live and Die" zitiert: "Eat and die. Sleep and die. Smell and die..." – am Ende ist alles irgendwie eins, ganz egal, die Kunstwelt ein aufgeblasener Tanz um Bedeutung und vermeintliche Weltrettung. Oder?  

Kunst als Macht

Wir erhaschen dann doch noch etwas von der großen metaphysischen, bewusstseinssprengenden Kraft der Kunst, als Kristof Van Boven allein auf der Bühne mit Mikro, wir sehen ihn nur von hinten, Pour faire le portrait d'un oiseau spricht von Jacques Prévert: "Wenn du einen Vogel malen willst, dann male einen Käfig mit offener Tür..." und vielleicht kommt der Genius, das Momentum, eines Tages in dich hinein, nach Jahren, vielleicht erwischst du es, das, wonach wir uns alle sehnen.

Ein kraftvoller Abend, dessen Potential sich im Kopf des Zuschauers entwickelt, vermutlich auch ohne bildungsbürgerlichen Referenzsysteme auskommt, und permanent die Ebenen wechselt, zwischen Erhabenheit und Dekonstruktion changiert. Für das spannende estnische Künstlerpaar Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo, die in Estland jahrelang die Gruppe NO99 leiteten (die sich nach 100 Arbeiten 2019 selbst auflöste) und in Tallinn zu den avanciertesten Gegenwartskünstlern gehören, ist es die erste Inszenierung nach der Pandemie.

Am Schluss sehen wir minutenlang die Schauspieler als Zeichen des abstrakten Bildhauers Anthony Caro in den Raum gebettet, Kommata, Ecken, Punkte, Bögen, keine Erklärungsversuche. Kunst als pure und ja, beglückende Beharrungskraft, eine Macht, die ohne Worte – und ohne digitale Hilfsmittel – auskommt.

Kunst
Ein Poem von Ene-Liis Semper und Tiit Ojasoo
Regie, Bühne, Kostüme: Ene-Liis Semper, Tiit Ojasoo, Lichtdesign, Bühne: Petri Tuhkanen, Musik: Jakob Juhkam, Dramaturgie, Produktion: Sandra Küpper.
Mit: Rea Lest, Sebastian Rudolph, Julian-Nico Tzschentke, Kristof Van Boven, André Willmund.
Eine Koproduktion mit dem Luzerner Theater
Deutschlandpremiere am 29. Juni 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.theaterderwelt.de

 

Kommentare  
Kunst, Theater der Welt: dünn + redundant
Eine recht dünne Performance. Der größte Teil besteht aus einem ironischen Re-Enactment ikonischer Kunstgeschichts-Posen von Rodins „Denker“ bis Michelangelos „David“: ständig sind die Spieler*innen damit beschäftigt, sich aus- und umzuziehen, auf das nächste Podest zu klettern und die nächste Pose einzunehmen. Das hat anfangs durchaus Witz, wird aber viel zu redundant und füllt den Abend nicht. Wie angeklebt wirken noch eine Persiflage auf die Kunstmarkt-Exzesse und Preisspiralen auf Auktionen und Kristof van Bovens stilles „Pour faire le portrait d’un oiseau“-Solo.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/07/01/kunst-theater-der-welt-performance-kritik/
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