Bildungsgeschichte im Breitwandformat

von Michael Laages

Bad Hersfeld, 1. Juli 2021. Wie aus der Zeit gefallen muss auch schon der Film gewirkt haben: "Der Club der toten Dichter", diese amerikanische College- und Jungs-Geschichte, vorgestellt vom australischen Regisseur Peter Weir im Welt-Wende-Jahr 1989. Die Welt-Karriere des Schauspielers Robin Williams begann mit diesem Kino-Erfolg.

Das einzige allerdings, was in dieser damals drei Jahrzehnte, bis 1959, zurückweisenden Fabel ein bisschen nach Wende und Wechsel, Um- und Aufbruch schmeckte, war die Forderung, dass doch bitteschön auch Mädchen solch ein Drill- und Triez-Institut wie die Welton Academy besuchen dürfen sollten; der Frechste unter den neun Schülern, in deren Mitte die Geschichte spielt, postuliert die Ko-Edukation für diese vorsintflutliche Schule, eine Art Heimstatt schwarzer Männer- und Eliten-Pädagogik.

Lebt Eure Träume!

So sprengt ein Junge ungewollt (weil er über alle strengen Stränge schlägt) die kleine Gemeinschaft, die sich gerade gegründet und entwickelt hat als quasi innerschulische Untergrund-Opposition, inspiriert vom neuen Englischlehrer John Keating, der zuvor tatsächlich Mädchen unterrichtete und auch sonst ein Fremdkörper ist: weil er die Jungs in der Begegnung mit den Werken vieler toter Dichter aus früheren Jahrhunderten zur Bewusstwerdung ihrer Selbst (ver)führen will. Die eigenen Träume sollen sie leben, die eigenen Sehnsüchte entdecken sollen sie bei ihm.

In den hellsichtigsten Momenten der Geschichte (wenn sich etwa einer der jungen Männer auch diesem Aufbruch, dieser von Keating verordneten Moderne verweigert) blitzt die fundamentale Kraft auf, die im Film und nun auch Stück präsent ist: in der Beschwörung radikaler Individualität gegen jedes Dogma, auch das der "modernen" neuen Zeit.

club der toten dichter 1 560 gotzschubertcssennewald In den Fußstapfen von Robin Williams: Götz Schubert spielt den Lehrer John Keating © Steffen Sennewald

Das liest sich in der Beschreibung womöglich theoretischer, komplexer und reflektierter, als es in der Theaterfassung tatsächlich aussieht. Die Festspiele in Bad Hersfeld haben sich für die nachgeholte Jubiläumsausgabe zum 70jährigen Bestehen (das vorheriges Jahr zu feiern gewesen wäre, als die 1951 absichtsvoll als Gegenpol zum Festival in Salzburg gegründeten Festspiele allerdings pandemisch bedingt ausfielen) die Rechte für die deutsche Fassung gesichert, die Festspiel-Intendant Joern Hinkel jetzt zur Eröffnung inszeniert hat: als Uraufführung, deutschsprachig und erstmals in Europa. Ob andere Bühnen sich reißen werden um den Stoff? Zweifel sind erlaubt.

Mit Dichtung und Pistole

Denn wie so oft wirkt hier ein Filmstoff wie am Reißbrett entworfen: vordergründig, mit nur geringen Dosen jener Tiefe, die das Theater auszeichnet. Um den neuen Lehrer Keating (der in der eigenen Schülerzeit an eben dieser Welton Academy die "Dead Poets Society" betrieben hatte als literarisch-psychologisches Selbsterkundungsprojekt) gruppieren sich die Schüler schnell – sie sind ja ohnehin die schikanöse Gängelung durch die Eltern leid, die sich für "Elite" halten und das auch von den Söhnen verlangen; ein Vater schenkt dem Sohn gar die Militärpistole … grotesk. Worauf soll er denn damit schießen? Auf die Konkurrenten, um sich durchzusetzen? Auf sich selber, wenn er das nicht schafft?

Diesem potenziell mörderischen Erziehungsmodell stellt Keating Herzens- und Persönlichkeitsbildung gegenüber – die Kids sollen die Lust am neuen Blick auf Wirklichkeit erlernen, sie sollen auch selber dichten und die Gedichte laut vortragen, ohne Scheu und Scham; das ist (in der schönsten Szenen) wie Tore-Schießen beim Fußball.

club der toten dichter 3 560 c klefebvre Erkundungen der Poesie: Philipp Quell, Oscar Hoppe, Leonard Dick, Till Timmermann, Simon Stache, Nico Kleemann im "Club der toten Dichter" © Klaus Lefebvre

So fördert der pädagogische Neuerer natürlich auch all die Triebe, die die jungen Männer ohnehin plagen: in ersten Verliebtheiten und den damit verbundenen Hahnenkämpfen untereinander. Aber Keating eint die Jungen – als ihn disziplinarische Maßnahmen der Schulleitung treffen und er wieder gehen muss, formieren sie sich für ihn als eine Art neuer, selbstbewusster Generation, die die toten Dichter, deren Weisheit und Erbe verinnerlicht hat.

Emanzipationsgeschichte im Regen

Hinkel erzählt die Geschichte, wie sie in Schulmans Drehbuch steht; der musikalische Zeitgeist der späten 50er Jahre spielt eine beträchtliche Rolle, nicht nur, wenn die Radios röhren. Und schlankweg drängt die Inszenierung das Problem zur Seite, das sich auf der Bühne in Bad Hersfeld automatisch ergibt – immerzu werden wir mit Schulman in Zimmer geladen: in die Wohnzimmer der Jungs oder ins Klassenzimmer. Und wie geschickt der überaus erfahrene Bühnenbildner Jens Kilian diese Zimmer auch auf die Bühne der Stiftsruine zaubert und Räume etabliert – Breitwand bleibt Breitwand und wird kein Kammer- oder Zimmerspiel.

Intimität ist hier kaum herstellbar; dabei geht es unentwegt um intimste Herausforderungen. Das Problem bleibt und lässt die Aufführung länger und breiter erscheinen als sie eigentlich ist. Mit dem eher einfachen Zuschnitt von Schulmans Geschichte ist ohnehin fast immer nur Vordergrund herstellbar; Hinter- und Abgrund fast nie.

club der toten dichter 2 560 c klefebvre Mädchen als Projektionsfläche: Der "Club der toten Dichter" erzählt die Erweckungsgeschichte von College-Jungen © Klaus Lefebvre

Der Kampf des Ensembles um die Geschichte aber ist unbedingt bewundernswert an diesem Schmuddelwetter-Abend. Wir, das glücklich frierende Publikum, sitzen immerhin unter dem Dach, das über das alte Schiff der Klosterkirche gezogen werden kann; aber bis auf einen schmalen Rand an der Rampe werden alle Ebenen der Spielfläche deftig eingeregnet. Und ungeschützt bewegen sich Akteurinnen und Akteure durch das nasse Inferno; als nach gut einer Stunde Spielzeit der Regen nachlässt, dürfte kein Stück Stoff mehr trocken sein. Knochenarbeit ist das – und niemand lässt sich das anmerken.

Erste Garde an Schauspielern

Die neun jungen Männer und die wenigen Mädchen (die nichts von Belang zu spielen haben in diesem Stück, nur konturlose Objekte jungmännlicher Sehnsucht) bieten einen Kraftakt als Kern der Aufführung: Götz Schubert gibt dem Lehrer Keating feine und oft überraschende Färbungen – viel eindringlicher agiert der Schauspieler, der ja aus der feinen Berliner Maxim-Gorki-Schule der Vorwendezeit kommt, als er das in der derzeit sehr forcierten TV-Präsenz zeigen kann oder darf.

Hannes Hellmann (einst einer der wichtigsten Protagonisten von Roberto Ciulli und Dimiter Gotscheff) markiert daneben archaische Strenge als Direktor der Welton Academy. Von Peter Englert im Lehrkörper reicht das große Ensemble bis zu Hans-Jürgen Dietz, der (so rühmte Intendant Hinkel in der langen Stunde der Eröffnungsreden) tatsächlich schon vor 70 Jahren als Statist zum Festival gehörte. Vermutlich als Schüler, so wie jetzt die Jungs im "Club der toten Dichter" – Festspielgeschichte kann sehr eindrucksvoll sein, auch und gerade in Bad Hersfeld.



Der Club der toten Dichter
nach dem Drehbuch von Tom Schulman
Theaterfassung von Joern Hinkel und Tilmann Raabke
Regie: Joern Hinkel, Bühne: Jens Kilian, Kostüme: Kerstin Micheel, Musik: Jörg Gollasch, Lichtdesign: Ulrich Schneider, Sound-Design: Jörg Grünsfelder, Choreographie: Kristin Hell, Dramaturgie: Tilmann Raabke, Casting: Rebecca Wenzl.
Mit: Leonhard Dick, Peter Englert, Hannes Hellmann, Oscar Hoppe, Nico Kleemann, Manuel Nero, Philipp Quell, Steffen Recks, Stefan Reis, Götz Schubert, Simon Stache, Till Timmermann und vielen anderen sowie der Bad Hersfelder Statisterie
Premiere am 1. Juli 2021
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten

www.bad-hersfelder-festspiele.de

 

Kritikenrundschau

Von einer "gelungtenen Premiere" spricht Jörn Perske auf hessenschau.de (3.7.2021). Doch wer 30 Jahre nach dem Kino-Hit auf eine Modernisierung oder Neuinterpretation gehofft habe, wurde nicht bedient. "Überraschungseffekte waren Mangelware. Und so wurde es eine souveräne Erstaufführung, der aber Glanz fehlte, um sich auch noch in Jahren daran zu erinnern."

Joern Hinkels Inszenierung sei rechtebedingt nah am "Film anlehnt"; das "ist schön für jene, die den Film verehren, aber auch wenig originell für alle, die gern eigene Ideen von Künstlern auf der Bühne sehen", schreibt Christiane Lutz in der Süddeutschen Zeitung (2.7.2021). "Der Zauber der Geschichte aber liegt in ihrem romantischen, unverstellten Pathos, und das bringt Hinkel dann auch immerhin genauso originalgetreu auf die Bühne." Bei manchen Bedenken gegen den etwas "gehemmt" wirkenden Auftakt und imitatorische Momente in der Gestaltung der Hauptfigur, des Lehrers Keating, rechnet die Kritikerin die Stoffwahl dem Festival hoch an: "'Der Club der toten Dichter' ist vielleicht gerade jetzt ein Stück für die müde Jugend, weil es auffordert, das ganze Angebot des Lebens stürmisch aufzusaugen und den eigenen Platz in einer im Konformismus entschlummernden Gesellschaft zu suchen."

Eine "starke Premiereninszenierung", getragen von einem "durchweg starken und noch sehr jungen Ensemble, das mit viel Einsatz und auch kleinen Gesten, ungestüm und liebenswert, die ganz unterschiedlichen Charaktere in dieser Schulklasse zum Ausdruck bringt", hat Kai Struthoff von der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (3.7.2021) in Bad Hersfeld erlebt.

Götz Schubert gebe seiner Hauptrolle "seine eigene herb-nüchterne Note", schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (4.7.2021) und lobt außerdem das Bühnenbild: "Jens Kilian ist auch hier eine elegante, dazu praktikable Kulisse geglückt." Und die Organisation der Festspiele: "Strömender Regen am ersten, novembrigen Abend, die Brutalität des Freilichtgeschäfts - Teile der Bühne sind nicht überdacht - wurde mit Nonchalance und Selbstironie bewältigt."

"Die Hersfelder Bühnenbildner mussten die Stiftsruine gar nicht groß ausstaffieren, denn sie ähnelt in ihrem architektonischen Gepräge der konservativen Zwingburg, in der damals Robin Williams als Lehrer John Keating mit genialischen Tricks seinen verängstigten Zöglingen Selbsterkenntnis und Selbstvertrauen einflößt", schreibt Hans Riebsamen in der FAZ (4.7.2021). Götz Schubert kopiere den großen Robin Williams nicht, sondern finde einen eigenen Stil. "Schubert hält die ganze Inszenierung, die sich ohne inszenatorische Mätzchen eng am Film orientiert, scheinbar ganz lässig zusammen."

 

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