Die Sehnsüchte der Mondreisenden

von Grete Götze

Frankfurt, 4. Juli 2021. "Um was geht es denn?" "Sie meinen die Handlung? Das weiß ich noch nicht so genau." "Was soll das heißen? Sie wissen es noch nicht? Sie sind doch schon fertig." " Ja genau, das ist immer mein Problem. Ich schreibe und schreibe, und wenn ich fertig bin, merke ich, dass ich überhaupt nicht weiß, um was es geht." "Das ist schlecht, Boris, das ist sogar sehr schlecht." So beurteilt zumindest Kernphysikerin Sonja die literarischen Ergüsse von ihrem um Science-Fiction bemühten Raumfahrtkollegen Boris.

Sechs Astronaut*innen auf Wassersuche

Es wäre ja gelacht, wenn dieser Dialog im neuen Stück von Michel Decar nicht ironisch-selbstreferentiell wäre. Denn auch in "Die Reise nach Kallisto" geht es um alles irgendwie ein bisschen, um Liebe, Lebenssinn, russisch-amerikanische Konkurrenz, Zukunft, Fortschritt, engagierte Literatur, Bratkartoffeln. In 66 kurzen Szenen unterhalten sich sechs russische Besatzungsmitglieder eines Raumschiffs auf ihrer Reise zum Mond Kallisto über die großen und kleinen Dinge des Lebens. Wir befinden uns in der Zukunft, im 22. Jahrhundert, auf dem Mond soll Wasser gefunden werden.

Reise nach Kallisto1 600 Felix Gruenschloss uAndreas Vögler und Melanie Straub © Felix Grünschloss

In die Tiefe geht das ja nicht, denkt man sich zunächst beim Lesen, aber Regisseur Robert Gerloff, der 2017 schon Decars Stück "Philipp Lahm" am Residenztheater inszenierte, zeigt mit seinem kleinen feinen Theaterabend, dass Dialoge nicht immer lang sein müssen, um einen Punkt zu treffen und Inszenierungen nicht unbedingt irre originell, um gut zu sein. Das gilt auch für die Figuren, die teilweise Stereotype sind, aber funktionieren und von den Schauspielern unterschiedlich leidenschaftlich zum Leben erweckt werden (Decar hat dieses Jahr schon am Residenztheater mit "Rex Osterwald", dem Monolog eines rechten Populisten an seine potenziellen Wähler, genüsslich auf der Klaviatur der Stereotypen gespielt).

Träume von Bratkartoffeln und Wissenschaft

Melanie Straub pfeffert ihren Besatzungsmitgliedern als Physikerin Sonja so kurz und bissig die Sätze um die Ohren, dass nicht nur ihnen die Spucke wegbleibt. Sebastian Reiß überzeugt als zwar nicht sonderlich begabter, aber dafür umso selbstzufriedenerer Co-Pilot Boris, der Sonjas Beschimpfungen kurzerhand ins Positive umdeutet. Tanja Merlin Graf verleiht der verführerischen und ganz ihren Gefühlen verpflichteten Ingenieurin Natascha etwas völlig Entrücktes, sie sitzt so aufrecht-verträumt am Tisch, dass sie allein durch ihre Art die Pasta aufzuspießen alle Männer betört. Andreas Vögler als Astrobiologe verkörpert glaubwürdig den Normalbürger, der zwar durch die Galaxie fährt, aber eigentlich nur von einem glücklichen Leben und Bratkartoffeln träumt, "zusammen mit Schalotten und Pastinaken knusprig in der Pfanne gebraten". Nur Nils Kreutinger tut sich als ganz der Wissenschaft verfallener Chemiker Kolja schwer, seiner Figur etwas Persönliches zu verleihen, und auch Agnes Kammerer gewinnt als Pilotin Jelena keine klare Kontur.

Melancholischer Sound

Aber die Inszenierung nimmt sich die Zeit, etwas zu entwickeln aus dem, was sie hat. Der Abend beginnt, indem Chemiker Kolja ein Experiment mit Sonja macht: Er gibt vor, bis zwei zählen zu wollen, und zählt nach "eins" nicht weiter. 15 Minuten passiert fast nichts. Der Zuschauer blickt auf das Innere eines Raumschiffs, die anderen vier Schauspieler schweben immer wieder scheinbar schwerelos aus ihren Luken hervor. Es piept und surrt, Lichtkegel wandern schneller werdend über die Bühne, bevor die Figuren schließlich zu sprechen beginnen und sich das Tempo der Inszenierung erhöht. Meistens unterhalten sich zwei miteinander, ständig essen alle, auch mal ein Kaktus-Eis, beobachten vom Observatorium im ersten Stock aus die Sterne, oder sie liegen in ihren Betten und sprechen dort über das Leben und die Liebe.

Reise nach Kallisto2 600 Felix Gruenschloss uSchachspielende Astronautinnen: Melanie Straub, Tanja Merlin Graf © Felix Grünschloss

Über den Dialogen der Mondreisenden liegt ein melancholischer Sound, auch wenn sie bisweilen lustige Dinge besprechen, etwa ob Ilyas' tote Wellensittiche lieber ins All geschossen oder recycelt werden sollten. Aber so sinnlos die Reise am Ende faktisch ist, weil die Besatzungsmitglieder umdrehen, so viel Sinn ergibt sie für Natascha doch, wie sie der gleichgültigen Sonja erklärt: "Wir haben zusammen diese Reise gemacht. Wir sind Teile unseres Lebens. Genau in diesem Punkt der Zeit, in diesem Raum. Mehr kann man doch gar nicht erreichen." 

Die Reise nach Kallisto
von Michel Decar
Regie: Robert Gerloff, Bühne: Max Lindner, Kostüme: Johanna Hlawica, Musik: Cornelius Borgolte, Choreografie: Zoë Knights, Dramaturgie: Katja Herlemann.
Mit: Agnes Kammerer, Sebastian Reiß, Tanja Merlin Graf, Andreas Vögler, Melanie Straub, Nils Kreutinger.
Premiere am 4. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielfrankfurt.de


 

Kritikenrundschau

"Michel Decar hat eine Screwball-Komödie über den Sinn des Lebens geschrieben. Sein minimalistischer Text, seine exzentrischen Figuren, die skurrilen Gegensätze von Weltraum und Wellensittich, das Kontrollversagen der Crew und die Handlungshemmung der Kosmonautinnen und Kosmonauten: Alles das zeigt, dass selbst die größten Missionen am Allzumenschlichen scheitern." So berichtet Natascha Pflaumbaum für "Fazit" auf Deutschlandfunk Kultur (4.7.2021). "Grotesk" sei die Frankfurter Inszenierung; "Musik, Geräusche, Sprache, dazu die genauen Bewegungen der sechs Schauspielerinnen und Schauspieler machen aus Michel Decars Text eine äußerst kunstvolle und sehr unterhaltsame Bühnenkomposition."

In der Frankfurter Rundschau (5.7.2021) berichtet Sylvia Staude: Michel Decars Stück schildere "private Probleme und Bedürfnisse vor allem sexueller Natur, die mit den sechs Figuren durch den Weltraum reisen. Sie müssen notgedrungen zusammen leben und arbeiten, sie sind außerdem verflixt lang aufeinander angewiesen. Dafür geht’s allerdings recht friedlich zu." Regisseur Robert Gerloff habe das Werk in Frankfurt "einfallsreich und liebevoll in Szene gesetzt, er hat damit einem eher harmlosen Text aufgeholfen".

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