Das Leben geht weiter

von Jan Fischer

Hannover, 8. Juli 2021. Ziemlich selbstbewusst, anders lässt es sich nicht sagen, landete das Festival Theaterformen in diesem Jahr in Hannover. Oder besser gesagt: Mitten in einer verkehrspolitischen Debatte. Die erste Ausgabe des Festivals mit Anna Mülter als künstlerischer Leiterin in der Nachfolge von Martine Dennewald ließ die Raschplatzbrücke sperren, um dort ein "Stadtlabor" einzurichten. Die Brücke ist ein Nadelöhr in der Stadt – Hannovers CDU-Chef Maximilian Oppelt kritisierte die Sperrung, Hannovers Grüner Oberbürgermeister Belit Onay hielt dagegen, selbst die BILD sah sich bemüßigt, in großen Lettern zu fragen: "Muss das wirklich sein?". Kurz: Das Festival Theaterformen ist Stadtgespräch. Auch, wenn es nicht unbedingt ein Gespräch über Theater ist.

Eine Bühne fürs Altenheim

Bei der Eröffnung auf der Brücke surren dann Insektenklänge aus den Lautsprechern, "Sie haben einen Nerv getroffen", sagt Onay in seiner Rede, Anna Mülter dagegen hält sich eher zurück: "Das widerspricht aller Wahrscheinlichkeit", sagt sie, und meint: Straßensperrung. Die Theatergruppen, die es trotz Einreisebeschränkungen in die Stadt geschafft haben. Dass das Festival überhaupt live stattfinden kann. "Es geht mir", sagt sie auch, "um die Menschen."

Schnitt in den Theatersaal zur Eröffnungsinszenierung "Ich bin nicht tot" unter der Regie von Lola Arias in Kooperation mit dem Schauspiel Hannover: Eine dieser Menschen ist Monika Ganseforth. Die hat Erfahrung mit der gesperrten Raschplatzbrücke. Denn Ganseforth engagiert sich bei "Omas gegen Rechts" und war mit dabei, als im vergangenen Jahr eine Demonstration von Fridays for Future auf der damals ebenfalls gesperrten Straße stattfand. Sie ist eine der sechs Bewohner und Bewohnerinnen des Altenheims, das als sechs frontverglaste Kuben auf der Bühne aufgebaut ist.

ich bin nicht tot 1 560 c kerstin schomburgDie Protagonist:innen von "Ich bin nicht tot" © Kerstin Schomburg

Vorhängen rauschen von der Bühnendecke hinab, verdecken einige der Kuben, und die Menschen darin erzählen von sich, während auf den verdeckten Kuben Videos oder Fotos gezeigt werden: Da ist die ehemalige Fernsehjournalistin. Der bisexuelle Koch, der seine Leidenschaft für Kleider in High Heels erst mit 60 Jahren entdeckte. Die Belarussin, die es auf abenteuerlichen Wegen über Moskau nach Deutschland verschlug. Der im Seniorenbeirat der Stadt engagierte, vor Jahren aus Nigeria geflüchtete Versicherungsmakler. Der ehemalige Gewerkschaftsjournalist. Allen ist gemeinsam, dass sie am Ende ihres Lebensweges stehen – aber eben noch nicht am Ende ihres Lebens.

Prominente Besetzung

In "Ich bin nicht tot" erzählen sie davon – von Lebensformen außerhalb von Heimen, vom Sex im Alter, von Schönheit und körperlichem Verfall, von Flucht, Abenteuer, Liebe, von Sexismus und Rassismus. Kontrastiert wird das von den beiden Pflegekräfte Hassan und Judit, die sich um die Seniorentruppe kümmern – aber nur nach Zeitplan, ohne Menschlichkeit, nur, um die Grundbedürfnisse zu erfüllen.

ich bin nicht tot 2 560 c kerstin schomburg© Kerstin Schomburg

"Ich bin nicht tot" ist Dokumentartheater – alle spielen sich selbst. Allerdings nach sorgfältiger Vorauswahl: Die Fernsehjournalistin Hanna Legatis moderierte jahrelang ihre eigene Sendung im NDR, Monika Ganseforth war für die SPD im Bundestag aktiv, der Versicherungsmakler Abayomi Bankole ist nicht nur im Seniorenbeirat der Stadt, sondern auch Vorsitzender des Afrikanischen Dachverbands. In den Kuben sammelt sich also einiges an Prominenz.

Hier gibt's nur Schonkost

Es soll ums Altern gehen – darum, dass ein System, das Jugend, Schönheit und Leistung liebt, Menschen ab 65 aus dem Blickfeld verliert und isoliert. Es soll auch darum gehen, dass das Leben dann aber eben auch nicht vorbei ist. Das alte Menschen, wer hätte es gedacht, auch Menschen sind. Tatsächlich aber hakt die Inszenierung hier auch. So spannend die Lebensgeschichten der sechs auch sind: Es werden immer nur kleine Teile, kleine Geschichten, teilweise auch nur Andeutungen erzählt – obwohl hier sicherlich der ein oder andere Schatz verborgen läge.

Die Schilderung des Alterns bleibt mit ein paar Glattbügel-Videofiltern und Geschichten über sexuelle Abenteuer im Alter auch eher an der Oberfläche. Die Kritik am Pflegesystem erschöpft sich in der Auflistung der Zeit, welche die Krankenkasse für bestimmte Tätigkeiten der Pflegekräfte vorsieht. Letztendlich bietet "Ich bin tot" wenig Erkenntnisse, zu wenig an Geschichten, und bleibt dabei eher im Bereich der Schonkost, bis dann am Ende alle zu einer Bach-Arie mit dem Text "Ich freue mich auf meinen Tod" das Zeitliche segnen.

Das ist gleich doppelt – oder vielleicht sogar dreifach – schade. Denn einerseits wird "Ich bin nicht tot" nach dem Festival Theaterformen auch ins Repertoire des Schauspiel Hannover übernommen. Außerdem spricht die Inszenierung ja tatsächlich Themen an, über die sich zu sprechen lohnt: Diskriminierung und das Unsichtbarmachen des Alters in der Gesellschaft, der Zustand der auf Effizienz getrimmten Altenpflege. Als Eröffnungsinszenierung des Festivals Theaterformen, das sich so lautstark in der Stadt breitmachen möchte, ist "Ich bin nicht tot" eher eine Antiklimax – aber immerhin, auf der Raschplatzbrücke ist parallel die Elektroclash-Sängerin Peaches zu Gast. Die Lautstärke ist also einfach woanders.

Ich bin nicht tot
Regie: Lola Arias, Bühne: Lena Newton, Kostüme: Tutia Schaad, Musik: Polina Lapkovskaja, Musik/Tonassistenz: Lasse Altmark, Video: Mikko Gaestel.
Mit: Hassan Abdulmaula, Abayomi Bankole, Monika Ganseforth, Günter Greve, Inna Koch, Heinrich Kronlage, Hanna Legatis, Judit Marach.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten

www.theaterformen.de

 

Kritikenrundschau

In der Süddeutschen Zeitung (20.7.2021) zeigt Till Briegleb sich irritiert von der Toiletten-Ordnung des Theaterformen-Festivals, wo die Klos nicht mehr nach Geschlecht geordnet sind und in den Urinalen Pflanzen stehen. Die Eröffnungsproduktion des Festivals betrachtet Briegleb dennoch wohlwollend: "Lola Arias hat mit sechs Älteren aus Hannover und zwei Pflegekräften ein fideles Heim inszeniert. Ganz im Stile des Dokumentartheaters von Gruppen wie Rimini Protokoll sprechen Frauen und Männer über ihr Leben, Denken und Fühlen. (…) Ihre Geschichtsfäden verwebt Arias in einen dichten Erzählteppich, der keine Sekunde jene Peinlichkeit erzeugt, die Laien im Theater gelegentlich auslösen. (…) Dem Willen der neuen Leiterin Mülter, das Festival zu einer künstlerischen Informationsveranstaltung zu machen, genügt diese Produktion also in unverkrampfter Lebendigkeit, wenn auch inszenatorisch konventionell."

Thomas Kaestler schreibt in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung (10.7.2021): Als "rebellisch, ungehorsam, begehrlich" beschreibe Lola Arias die Menschen, die sie auf die Bühne bittet. Die Regisseurin habe sie und ihre Lebensgeschichten in Hannover gefunden. Monika Ganseforth war eine von zwei Frauen zwischen 400 Männern, als sie in Braunschweig Maschinenbau studierte, später war sie die erste Professorin an der Hochschule Hannover und Bundestagsabgeordnete, als der Frauenanteil dort noch 15 Prozent betrug. Günter Greve taste sich nach 40 Berufsjahren als Koch "an Bisexualität und das Tragen von Frauenkleidern heran". Es gehe um die "Vielschichtigkeit von Biografien" – und obwohl die auf der Bühne "üppig, abenteuerlich und schillernd" erschienen, werde klar: "Jede andere ist ebenso erzählenswert". Arias setze "ihre Schwerpunkte" auf Utopien. Sie konstruiere aus dem Nebeneinander ihrer faszinierenden Akteure ein Miteinander, mache sie zu Nachbarn in einem fiktiven Pflegeheim, ohne ihnen ihre Individualität zu rauben.

Jörg Worat schreibt in der Neuen Presse (10.7.2021): Mit sechs Seniorinnen zwischen 67 und 80 hat Lola Arias den Abend konzipiert. Der nicht um Themen wie Sex im Alter und Tod herumeieet, aber mehr als eine plakative Geste des Aufbegehrens biete. Es gebe Zwischentöne und Humor. Die Protagonistinnen säßen in transparenten, zellenartigen Kuben und erzählten von ihrem Leben. "Von den Eltern, von Partnerschaften, von Ängsten und Begehrlichkeiten, von Niederlagen und Erfolgen." Es gebe eine Diskussion über die gewünschte Wohnsituation – zusammenbleiben oder Mehrgenerationenhaus oder doch lieber Alleinsein? All das steuere in ein inszeniertes Stimmengewirr. Eine zusätzliche Ebene brächten die Pflegekräfte Abdulmaula und Marach mit der Schilderung ihrer Erfahrungen ins Spiel

In der Braunschweiger Zeitung (12.7.2021) schreibt Florian Arnold: Arias erzähle vom "gelebten Leben" und vor allem vom Leben im alter, dass in unserer Gesellschaft bewusst ausgeblendet werde, "weil es für unattraktiv, trist und unproduktiv erachtet" werde. Hanna Legatis etwa erzähle, ihre erfolgreiche Fernsehsendung sei allein aufgrund ihre Alters eingestellt worden. Das Substrat langer Gespräche mit den Protagonistinnen habe Arias zu einer Mischform aus Fakt und Fiktion verdichtet. Die Mitwirkenden sprächen offen über "persönliche Prägungen, Erfolge und Niederlagen" und über "Partnerschaft, Sex und Selbstbefriedigung im Alter", über die "Frage eines selbstbestimmten Todes". Monologe wechselten mit Dialogen, allerdings fehle der Fokus, ein Kernthema, stattdessen würden viele Themen angerissen. Die Darstellerinnen überzeugten durch ihren hohen "Grad an Authentizität".

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