"Leg dich hin!"

von Steffen Becker

Stuttgart, 10. Juli 2021. Freiheit hat als Buzzword Konjunktur. Der Malle-Urlaub, das Tempolimit, die Maskenpflicht – alles wird zur Freiheits-Frage hochgejazzt. Umso erfrischender, dass Roland Schimmelpfennig in seiner Überschreibung von Arthur Schnitzlers "Reigen" den Begriff weg von schiefen Vergleichen rein ins saftige Leben holt. Freiheit heißt hier, eine Prostituierten-Transe im Park zu vögeln oder ein Hotelzimmer zu verwüsten – und zwar so, dass es beim Hotelmanager Bewunderung auslöst ("Zerstörung und Freiheit. Es gibt keine Grenzen mehr. Wahnsinn. Wahrscheinlich haben sie auch in die Dusche gekackt"). In der Mehrzahl der 17 "Skizzen aus der Dunkelheit", die hier Premiere feiern, führt das Streben nach (sexueller) Befreiung aber nur zur Erkenntnis des eigenen Gefangen-Seins.

Vernetztes Konstrukt

Schimmelpfennig überträgt Schnitzlers "Reigen" in aktuelle Szenarien – und führt uns vor, wie viel sich seit der Reigen-Skandalpremiere 1920 verändert hat und wie viel auch wieder nicht. In der Prosa damals wie heute ist Sex ein Machtinstrument. Weil es hinter der körperlichen Begegnung um etwas anderes geht, befriedigt er nicht. Gleichzeitig haben sich die Machtverhältnisse zumindest verschoben.

SiebzehnSkizzen2 600 KatrinRibbeErektionsblockade? Katharina Hauter und Marco Massafra © Katrin Ribbe

Schimmelpfennig tastet sich dabei erst mal ran. Der bereits erwähnte Hotelmanager nutzt die Sauerei im Hotelzimmer, um das Zimmermädchen zu einer "Leg dich hin, ich befördere dich dich"-Nummer zu nötigen. Aber schon im nächsten Bild sieht man ihn in seiner "modern, aber nicht vollkommen geschmackssicher eingerichteten Privatwohnung". Er wurde gefeuert, muss umziehen – und ist zudem überfordert mit einem weiteren One-Night-Stand. Die beruflich erfolgreiche Frau, auf die er hier trifft, geht mit der Situation lockerer um, macht sich über ihn lustig und löst seine Erektionsblockade ausgerechnet mit einer Hotelzimmer-Fantasie.

Erst diese Herstellung klassischer Rollenbilder löst die Verunsicherung des Mannes im Angesicht einer (verheirateten) Frau, die ihren Freiheitsdrang offensiv auslebt (dominant und souverän: Katharina Hauter). Der Rückgriff auf eine vorhergehende Skizze macht aus dem linearen "Reigen" ein der Zeit angepasstes vernetztes Konstrukt. Die Szene, in der die One-Night-Stand-Frau von ihrem eifersüchtigen Ehemann konfrontiert wird, findet drei Mal statt – mit unterschiedlichem Ausgang und eingeschoben als Kommentar in andere "Skizzen". Welche Version ist Wunschtraum der Protagonisten, was gesellschaftliche Utopie, was Realität? Es bleibt jeweils der Fantasie des Publikums überlassen.

Sprechende Details

Dem Stück gibt das einen Zick-Zack-Rhythmus, der der Regie einiges abverlangt. Damit die Zuschauer bei all den wortwörtlichen Höhepunkten nicht erschöpft werden, reduziert Regisseurin Tina Lanik das Drumherum. Stefan Hageneiers (Dreh-)Bühne wird nie mit mehr als zwei, drei Requisiten bestückt. Teilweise ziehen sie sich mit wechselnder Funktion durch. In einer Skizze schlitzt eine junge Frau ihren Jahrmarktsteddy auf. Dessen Flausch wird im folgenden Bild dann zu Essensresten im verwüsteten Hotelzimmer. Am Ende gleiten die Schauspieler über einen Schmierfilm aus Teddy-Innereien, Kreide und Blumen. Auf dem Boden sind die verschiedenen Skizzen verschmolzen – als Sinnbild der in alle Szenen eingeschriebenen Aussage, dass Sex die Suche nach Freiheit durch Machtausübung ist. Als roter Faden dient der Bühne zudem ein goldener Vorhang.

siebzehn skizzen aus der dunkelheit 10 560 katrin ribbe uRollenbilder zwischen goldenen Vorhängen: Paula Skorupa © Katrin Ribbe

Bezeichnenderweise fehlt er in den Skizzen, die sich mit Figuren am Rande oder unteren Ende der Gesellschaft beschäftigen. Im bürgerlichen Milieu nimmt er als Symbol von Konventionen den Figuren den Raum weg. Regisseurin Lanik verwendet überhaupt viel Energie auf sprechende Details. Bei einer Filmparty werden die Deckenlichter zusätzlich golden angestrahlt, während gleichzeitig eine der Figuren vom Glamour des Showbiz träumt.

Zumindest teilweise findet sich diese Liebe zum Detail auch in der Figurenführung. Highlight des Abends ist Paula Skorupas Darstellung einer Jugendlichen, die sich erst mit dem gehörnten Ehemann der One-Night-Stand-Frau in Kokslinien wälzt. Dann verletzlich ihre Einsamkeit offenbart. Und in der nächsten Skizze beides kombiniert beim unbeholfen-durchgeknallten Anbandeln an einen Drehbuchautor, von dem sie sich einen Job erhofft.  Die Skizzen sind überspitzt, die Figuren reduziert. Aber Skorupa zeigt, dass man sie dennoch facettenreich und berührend spielen kann.

Überdrehte Satire

Das hätte man sich auch gewünscht, als sich die Inszenierung dem Schauspielbetrieb zuwendet. Der junge Drehbuchautor trifft auf eine ältere Schauspielerin (also Anfang 50). Diese benutzt ihn für ein Skript, das ihr einen Karriere-Boost sichern soll. Sie sagt dabei an aktuelle Debatten anschlussfähige Sätze wie "Du hast keine Ahnung, wie abgrundtief dumm manche Regisseure sind. Alles eitle Scheißer. Und alle wollen dich ficken. Alle. Wenn du jung bist. Und wenn du nicht mehr jung bist, geben sie dir keine Rollen mehr." Im Publikum beugt man sich gespannt nach vorne. Aber dann kommt nichts als eine überdrehte Satire. Der junge Autor und die alte Diva (Valentin Richter und Sylvana Krappatsch) hyperventilieren in grotesken Kostümen. Der schmierige Filmproduzent (Evgenia Dodina) spricht Akzent und hat Sex Bomb als Klingelton.

Das sorgt für Lacher. Aber auch für Zweifel, ob die Inszenierung damit den Pfad beschreitet, den Autor Schimmelpfennig im Begleitheft formuliert: "#Metoo war ein wichtiger Auslöser für das Stück (…) Vor allem hoffe ich, dass durch #Metoo (…) Missbrauch, Erpressung, Gewalt und Brüllerei und Übergriffigkeit endlich ein Ende finden in der Theater- und Filmwelt". Die Stuttgarter Skizzen aus der Dunkelheit wirken dagegen in ihrer grellen Ausleuchtung des Themas so, als wollte man es damit ironisch auf Distanz halten. Das mag nicht die Absicht gewesen sein, führt aber im Ergebnis zum Urteil: verpasste Chance.

 

Siebzehn Skizzen aus der Dunkelheit
nach Arthur Schnitzlers "Reigen" von Roland Schimmelpfennig
Uraufführung
Inszenierung: Tina Lanik, Bühne & Kostüme: Stefan Hageneier, Komposition: Cornelius Borgolte, Licht: Felix Dreyer, Dramaturgie: Carolin Losch.
Mit: Robert Rožić, Felix Strobel, Celina Rongen, Marco Massafra, Katharina Hauter, Matthias Leja, Paula Skorupa, Valentin Richter, Sylvana Krappatsch, Evgenia Dodina
Premiere am 10. Juli 2021
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause

www.schauspiel-stuttgart.de

 

Kritikenrundschau

Roland Schimmelpfennig hat sich nicht nur sieben Szenen mehr ausgedacht, sondern auch an den Figuren herumgebastelt, schreibt Grete Götze in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.7.2021). Die Dirne etwa sei zur Transfrau und Prostituierten geworden, das Stubenmädchen arbeite nun für eine Hotelkette und werde von ihrem Chef zum Sex genötigt. "Schimmelpfennigs Stück liest sich ein wenig zu theatermodisch. Fast schon brav thematisiert es den männlichen Machtmissbrauch im beruflichen Kontext." Doch Tina Lanik spinne aus dem Stoff mit guten Schauspielern und wenigen Requisiten eine dichte Aufführung, "die mehr durch ihre Bilder als durch die Sprache überzeugt". Auf einer leeren schwarzen Drehbühne werde der Sexualakt jeder Szene in Dunkelheit gehüllt. Fazit: "Wenn die Inszenierung davon erzählt, was schon Schnitzler am meisten interessiert hat, dann, aber eben nur dann schafft sie einige starke Momente."

Schimmelpfennig gelinge es in den meisten Szenen hervorragend zu zeigen, was heute als skandalös, zumindest schäbig empfunden werden kann. "Nämlich, dass jede Beziehung von Macht, Egoismus und – um es altmodisch mit Marx zu sagen – vom Warencharakter bestimmt wird", so Nicole Golombek in der Stuttgarter Zeitung (12.7.2021). "Sex gibt es nur im Tausch gegen etwas anderes. In Stimmung kommen sie zudem nur, wenn sie durch Filme oder Fantasien stimuliert werden." Am Schluss gebe es viel Pathos der Einsamkeit!, Sehnsucht nach dem anderen, "aber was fehlt ist der Schmerz".

"Schnitzlers dramaturgische Mechanik, das Reißverschluss-Prinzip, funktioniert auch hier virtuos – eine Figur wird immer in die nächste Szene weitergereicht, und manchmal leistet sich Schimmelpfennig ungeheuer wirksame Varianten und Reprisen", so Christian Gampert in der Badischen Zeitung (12.7.2021). Fazit: "So viel Zynismus, aber auch so viel Wahrheit war lange nicht mehr in Stuttgart." Das Ensemble zeige filigrane Charakterzeichnungen. "Tina Lanik hat das als postmodernen Totentanz inszeniert.

"Schimmelpfennigs Qualität ist es, vieles im Vagen zu belassen – und doch Abgründe auszuleuchten", schreibt Adrienne Braun in der Süddeutschen Zeitung (11.7.2021, 15:54 Uhr). Auch die Umsetzung des Textes gelinge exzellent, "die die Figuren nicht auserzählen will, sondern ihre profane Glückssuche in poetische Bilder taucht." Schauspielerisch sei der Abend stark - mit einem "Glanzstück" wie Marco Massafra, der hier als übergriffiger Hotelchef auftritt. "Macht und Missbrauch, Betrug und Berechnung" sieht der Rezensent gelungen als Themen auf die Bühne gebracht – "dabei lässt sich Schimmelpfennig aber nicht zu plakativen Rollenzuweisungen hinreißen".

Von den Archetypen löse sich Schimmelpfennig, so Björn Hayer im DLF Fazit (10.8.2021). Die Szene zwischen dem Zimmermädchen und dem Hotelmanager ist eine der stärksten des ohnehin fantastischen Abends. "Ein Thema mit siebzehn Variationen, das Stück sei stark und differenziert über Sexualität im Zeichen des Missbrauch, aber auch in den Zeiten der Spätmoderne und individualisierten Gesellschaft."

 

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