Vom Theater im Netz zum Netztheater

von Christian Rakow

Berlin, Juli 2021. Die Entwicklungsgeschichte des Theaters im "Theater im Netz" reicht bis in die 1990er Jahre zurück. Theoretisch wie praktisch: Mit Pionierstudien wie Brenda Laurels "Computers as Theatres" wurden Konstruktionsprinzipien der Darstellenden Künste für den Bau von Computer-Interfaces und für die Kommunikationsmodelle der aufkommenden Netzkultur fruchtbar gemacht. Performance-Projekte wie "Hamlet X" von Herbert Fritsch experimentierten mit Interaktivität und digitaler Vernetztheit in der theatralen Kommunikation (Slevogt 2001).

Anfänge

Ab den Nuller Jahren formierte sich insbesondere in der Freien Szene eine breite Bewegung von Performancekunst und Kunst im öffentlichen Raum, die auf Vermischung (Hybridität) von digitaler und analoger Darstellungskunst abzielt (Hütter 2020). Im Game Theater entstand eine Kunstform, die sich Darstellungsprinzipien von Computerspielen für das analoge Bühnengeschehen zueigen macht (Rakow 2012). Einen einschlägigen Überblick über vielfältigen Formen des "Theaters im Netz" bietet der Medienwissenschaftler Ulf Otto in seiner Studie Internetauftritte – Eine Theatergeschichte der neuen Medien (Bielefeld: transcript 2013).

Mit der von nachtkritik.de und der Heinrich Böll Stiftung gemeinsam veranstalteten alljährlichen Konferenz "Theater und Netz" erfolgt seit 2013 eine Bündelung und kontinuierliche Beobachtung des Gegenstandsbereichs. In den Diskussionszusammenhängen dieser Konferenz traten bereits frühzeitig die Initiator:innen der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität in Erscheinung (Slevogt 2018). Die Akademie macht seit ihrer Gründung 2019 die Diskurse und Praxis der Digitalisierung für die Bühnenkunst fruchtbar und baut sukzessive ein Netzwerk gleichgesinnter Partner auf.

Links:

– Hütter 2020 = Christiane Hütter: Spiel mit Realitäten: Aus der Geschichte hybrider Kunstproduktionen, in: Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Hrsg. Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net, Berlin 2020

– Rakow 2012 = Christian Rakow: Die Ritter der Interaktivität. Computerspiele und Theater – Wie die neue Medienkunst die Bühnenwirklichkeit verändert, nachtkritik.de Berlin 2012.

– Christian Rakow: Es macht mir nichts aus. Ulf Otto – Internetauftritte. Eine Theatergeschichte der neuen Medien, nachtkritik.de Berlin 2013 (Buchrezension)

– Slevogt 2001 = Esther Slevogt: Könnte Lara Croft die Ophelia spielen? Theater und Internet - Eine Expedition in die Tiefen des www auf der Suche nach dem Theater

– Slevogt 2018 = Esther Slevogt: Auch Coding kann Kunst sein. Akademie für das Theater der Zukunft – Kay Voges und Alexander Kerlin über ihre Pläne für eine Akademie für Theater und Digitalität, nachtkritik.de, Berlin 2018 (Interview)

Theater und Netz. Dokumentationen der Konferenz "Theater und Netz" 2013 bis 2019

Corona als Beschleuniger des Theaters im Netz

In der Notlage der Corona-Pandemie ab März 2020 und unter dem Druck von monatelangen Spielstätten-Schließungen haben sich die Aktivitäten des "Theaters im Netz" schlagartig erweitert. Theater wurden zu Streaminganbietern, die Aufführungsmitschnitte aus dem eigenen Dokumentationsarchiv für ein breites Publikum zur Verfügung stellten. Homepages der Häuser entwickelten sich zu Mediatheken, professionelle Streaming-Plattformen schossen aus dem Boden oder erweiterten ihr zuvor erst in Ansätzen vorhandenes Angebot (nachtkritikstream, spectyou, dringeblieben.de). Zugleich wurde an vielen Stadttheatern, in freien Gruppen und in spontan gebildeten Künstler:innenteams mit originären Auftrittsmöglichkeiten des Theaters auf der digitalen Bühne experimentiert. Es entstand ein Schub an "Netztheater", in dem darstellendes Spiel speziell für die Onlineausstrahlung produziert wird.

Letztere Differenzierung wurde frühzeitig in den Debatten herausgearbeitet und hat sich als zentral erwiesen: "Theater im Netz" bezeichnet in einem weiten Sinne jedwede Repräsentation von analoger Bühnenkunst im digitalen Raum und also auch das "bloße" Streaming von Aufführungsmitschnitten, die ursprünglich an den Häusern zu Dokumentations- und Informationszwecken erstellt wurden. Der engere Begriff des "Netztheaters" ist für originäre Darstellungsformen reserviert, die Theaterkunst eigens für die Rezeption im Netz entwirft.

In der breiten Diskussion um "Theater im Netz" rückten schnell Nutzungs- und Rechtefragen ins Zentrum. Strittig ist unter den Akteuren der Debatte, inwieweit gestreamte Theaterproduktionen auf ein größeres Publikumsinteresse stoßen (Glaap 2020 vs. Roemer 2020). Von Befürworter:innen von Streaming-Angeboten wird regelmäßig die leichte Zugänglichkeit des Onlineprodukts (Barrierefreiheit) sowie die Internationalisierung und Vernetzung des Publikums ins Feld geführt (Roemer 2020). Kritiker:innen betonen die Reduktion der sozialen Funktion von Theater im Onlineauftritt (Theater als Institution ist mehr als nur Kunstereignis auf der Bühne). Zudem wird darüber gestritten, ob das digitale Abbild des analogen Bühnenwerks einen ästhetischen Eigenwert behaupten kann, oder ob es nicht doch eher bloßen "Informationswert" für ein Fachpublikum besitzt (Rüping 2020). Tragfähige empirische Untersuchungen zu diesen Fragen stehen noch aus.

Während in der Anfangszeit der Pandemie Aufführungs-Streamings mit allen Beteiligten gewissermaßen solidarisch realisiert wurden, damit die Häuser auch in Schließzeiten ihren Publikumskontakt online halten konnten, rückten mit zunehmender Dauer der Schließzeit Rechte- und Vergütungsfragen in den Blick (Bolwin 2020). Eine Regelung, die Urheberinteressen wahrt und zugleich das "Theater im Netz" nicht durch unrealistische Vergütungserwartungen abwürgt, steht noch aus (Wildermann 2021).

Links:

– Bolwin 2020 = Schon live kompliziert genug. Theater-Streaming & Video-On-Demand im Internet und das Urheberrecht – Ein Überblick, nachtkritik.de Berlin 2020

– Glaap 2020 = Rainer Glaap: Entgelt als Abschaltfaktor. Theater-Streams: Wer nutzt das Angebot? – Eine Umfrage, nachtkritik.de Berlin 2020

– Roemer 2020 = Christian Römer: Live und auf Verlangen: Für ein Theater @home! Plädoyer für das Streamen von Theater-Inszenierungen. nachtkritik.de 2020

– Rüping 2020 = Christopher Rüping im Gespräch, in: Theaterpodcast (24) – Monika Gintersdorfer und Christopher Rüping sprechen über die Coronakrise, Theater im digitalen Raum und den hyperaktiven Stillstand

– Wildermann 2021 = Patrick Wildermann: Wann wird es endlich wieder gestern? Die Pandemie hat Streamingangebote von Theatern zum Standard gemacht. Doch wo bleiben Rechte und Kosten. In: Tagesspiegel (17.3.2021)

Live und interaktiv: das Netztheater

Aus der Notwendigkeit, Theater im Netz stärker auf die Rezeptionsgewohnheiten im Internet zu beziehen, wurden die theoretischen Parameter des Netztheaters formuliert: Digitale Produktionen sollten "das Publikum von aktiven Rezipienten zu handelnden Akteur*innen des Werks machen. Oder um es anders zu sagen: Es geht nicht mehr darum, die Darstellenden auf Heldenreise zu schicken. "Stattdessen macht das Publikum die Heldenreise im digitalisierten Theater selbst und kann über Rückkanäle Einfluss auf diese Reise nehmen", schrieb der Berliner Autor Fabian Raith (Raith 2020). In einem zentralen Aufsatz der Netztheater-Debatte nahm Katja Grawinkel-Claassen vom Forum Freies Theater Düsseldorf diesen Gedanken auf und arbeitet Interaktivität (Rückkoppelung zwischen Publikum und Bühne) und Liveness bzw. zeitliche Ko-Präsenz (simultane Anwesenheit in einem gemeinsamen Kommunikationskanal trotz räumlicher Trennung) als Kernkomponenten des genuinen Netztheaters heraus.

In den Monaten ab dem ersten Corona-Lockdown im März 2020 erscheinen diverse Produktionen, die sich in dieser Weise live und mit offenem Rückkanal auf ein das Ereignis aktiv mitgestaltendes Publikum bezogen. Viele der Unternehmungen hatten spontanen, "piratischen" Charakter (Diesselhorst 2020b). Game-Theaterproduktionen wanderten in Social Media wie Telegram ab (Rakow 2020a), freie Gruppen bauen sich eigene Homepages, um ihr Publikum zu bespielen, freie wie feste Häuser setzen Produktionen in Konferenzkanälen wie Zoom an, um das Publikum ins künstlerische Ereignis einzubeziehen (Diesselhorst 2020a). Die Chat-Funktion wurde für Theaterstreamings fruchtbar gemacht, um dort, wo das Kunstwerk selbst nicht interaktiv gestaltet ist, wenigstens im Rahmen eine Plattform fürs soziale Miteinander zu öffnen (Rakow 2020b).

Mit dem "Netztheater-Special" im Juli 2020 hat nachtkritik.de erstmals in einem Showcase verschiedene Pionierformen dieses unter Corona-Bedingungen entstandenen Netztheaters präsentiert. Das Mini-Festival war ein Vorläufer für das Festival zum Netztheater in der Freien Szene "Zoom in" im April 2021. Die von nachtkritik.de und der Heinrich Böll Stiftung gemeinsam herausgegebene Publikation "Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen" (Oktober 2020) kartographierte das neu entstandene Feld und rückte es in den historischen Kontext des "Theaters im Netz".

Links:

– Diesselhorst 2020a = Sophie Diesselhorst: Zoomster's Paradise. Am virtuellen Lagerfeuer – Wie die Theater in der Corona-Krise Videokonferenz-Apps als Spielwiese entdecken, nachtkritik.de Berlin 2020

– Diesselhorst 2020b = Sophie Diesselhorst / Christian Rakow: Piratinnen und Komplizen. Der Aufstieg des Netztheaters während der Pandemie, in: Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Hrsg. Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net, Berlin 2020

– nachtkritk.de: Unterwegs zur Digitalen Sparte. Netztheater Special im nachtkritikstream – Editorial

– Grawinkel-Claassen 2020 = Katja Grawinkel-Claassen: Der Corona-Reflex. Liveness im digitalen Raum – Über den Internet-Rush der Theater in Zeiten von Corona und Social Distancing. nachtkritik.de, Berlin 2020

Netztheater. Positionen, Praxis, Produktionen. Hrsg. Heinrich-Böll-Stiftung und nachtkritik.de in Zusammenarbeit mit weltuebergang.net, Berlin 2020

– Raith 2020 = Fabian Raith: Theater im Home Office

– Rakow 2020a = Christian Rakow: Das Theater und sein digitales Double. nachtkritikstream – Wie das Streamen von abgefilmtem Theater der Bühnenwelt neue kulturelle Bedeutung verschaffen kann, nachtkritik.de Berlin 2020

– Rakow 2020b = Christian Rakow: Kopftheater aus der App. Intime Räume – Wie das interaktive Netztheater den Zuschauer für sich entdeckt, nachtkritik.de Berlin 2020

 

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