Im Maschinenraum der Gegenwart

von Michael Wolf

22. Juli 2021. Zutiefst österreichisch ist dieser Roman. Kaum geht es los, geht es schon in den Keller. Es sind Hundstage, die Hitze treibt die Menschen hinab, in die Schatten, ins Verborgene hinein, wo ausgelebt wird, was nicht ans Licht kommen darf. Hier ist der Keller eine Sterbekammer, der schwer erkrankte Herr Schauer will sich in suizidaler Absicht in seine Kühltruhe legen. Sein Tiefkühllieferant Schlicht, Hauptfigur des Romans, soll nach erfolgreicher Selbsttötung die tiefgefrorene Leiche in den Park schaffen.

Der gelungene Tod

Cover SchmalzDoch Schlicht findet die Truhe leer vor, nur all die über Jahre gelieferten Packungen Rehragout tauen auf dem Boden. Schauer ist weg, Schlicht nimmt die Suche nach ihm auf. Diese führt über einige Umwege quer durch die Wiener Gesellschaft. Auch in ihr grassiert die Todessehnsucht. Ein Putzmann steigert sich in die Seelenverwandschaft zu einem leprakranken mittelalterlichen Mönch hinein; ein kerngesunder Geschäftsmann lässt sich in ein künstliches Koma versetzen und steht nur noch einmal im Monat auf; ein Ingenieur mauert sich selbst in seinem Haus ein. Getrieben von einer diffusen Unruhe, erscheint den Figuren jedes gute Leben im falschen als Illusion, nur noch der gelungene Tod ist erstrebenswert. Und wenn bald darauf die ersten Mordopfer auftauchen, stellt man fest: Es darf durchaus auch der gelungene Tod eines anderen sein.

Mit einem Kapitel aus seinem nun erschienen Roman-Debüt "Mein Lieblingstier heißt Winter" gewann der als Dramatiker bekannt gewordene Ferdinand Schmalz vor vier Jahren den Ingeborg-Bachmann-Preis. Es ist ein Krimi, dessen Erkenntnisinteresse aber weit über die Frage "Whodunit?" hinausreicht. Schmalz' Hauptfigur steigt nicht nur in den Keller hinab, sondern tiefer, bis hinunter in den Maschinenraum der Gegenwart. In einer Szene erzählt er gerade seinem Freund, dem Feuerwerker Fabian, von dem Ingenieur, der sich sein eigenes Mausoleum baut. Fabian hört zu, während er in absoluter Regungslosigkeit darauf wartet, dass ihm sein geliebter Kanarienvogel in die Hand fliegt, derweil ihm eine Fliege von einem Nasenloch in den Schädel und aus dem anderen hinauskrabbelt. "Um dann mit vollendeter Gelassenheit, zwischen seinen trocknen Lippen durchzuzischen, dass ihm das alles mehr als eigentümlich erscheine, dass man jedoch an einer solchen Eigentümlichkeit etwas übers Funktionieren unsrer Wirklichkeit erfahren könne." Denn in der "Erfahrung des Eigentümlichen" trete die Lücke zwischen der Sprache und der Welt "offen uns entgegen", so der Fabian.

Unglaubwürdige Realität

Man bekommt hier eine Ahnung davon, was im Argen liegt, was das Personal dieses Romans zu seiner Gewalt gegen andere und sich selbst treibt. Sie kennen sich nicht mehr aus, können sich keinen Reim auf das machen, was aus reiner Verlegenheit Wirklichkeit genannt wird. Trotzig pochen sie auf Wahrheit, mehr noch: auf Wahrhaftigkeit. Gleich mehrere Figuren insistieren, man müsse Versprechen halten, müssen den anderen doch beim Wort nehmen können. Ihre Exzentrik gleicht einem Versuch, die Normalität zu enttarnen, den Ursprung aufzudecken: Eigentümlichkeit als Versuch zum Eigentlichen vorzudringen.

Das passt zu Schmalz' Poetik, stets verweist er auf die Gemachtheit seiner Prosa. Durchrhythmisiert, dicht und dialektal strömt die über die Seiten, gerät dabei aber nie in einen natürlichen Fluss, sondern wirkt wie von einem hochsensiblen Baggerfahrer begradigt. Schmalz stellt seinen Stil als solchen aus, hebt jeden Satz auf ein Podest, nicht um ihn zu bestaunen, wenngleich es dafür gute Gründe gibt, sondern um Sprachfertigkeit als Verfertigung von Sprache zu demonstrieren. Kein Realismus ist zu erwarten, es gibt hier nichts zu begreifen, außer, dass die Realität ebenso unglaubwürdig ist wie der Roman, ebenso fiktiv, aus windschiefen Zeichen zusammengezimmert. Von hier ist es nicht weit zu Elfriede Jelinek. Und auch Werner Schwab schaut vorbei, dessen Vorliebe für das Fleischliche, für das Lieben, Leben und Sterben menschlicher und tierischer Körper Schmalz teilt. Was dieser da aus Worten zusammensetzt an Figuren, wehrt sich stets dagegen, eine Kopfgeburt zu sein, der Leib wütet gegen seine Künstlichkeit, muss immer demonstrativ fressen, bluten und um Luft ringen.

Mehr oder weniger als ein Krimi

All das kennt man bereits aus den erfolgreichen Stücken des Autors wie "Am Beispiel der Butter", "Dosenfleisch" oder "Der Herzerlfresser". Er verbindet darin sprachliche Präzision, starke formale Setzungen und große Themen, erzählt aber immer auch gut funktionierende Geschichten. All das gelingt ihm auch in seinem Roman-Debüt, mit einer Ausnahme: Der Krimi fällt aus seinem eigenen Plot heraus. Zu wenig bringt der Ermittler ans Licht, zu viel plaudert der Erzähler zu früh aus, am Ende muss die Geschichte noch mal zusammengekehrt werden, und doch bleiben Fragen offen. Die Schwächen haben freilich mit dem Programm des Buchs zu tun. Schmalz ruft die Spielregeln des Genres nur auf, um sie vorzuführen, als Gerüst, in dem man sich als Leser für gewöhnlich sicher fühlen kann, weil man weiß, wie es beschaffen ist. Sein Roman aber möchte gar kein Krimi sein, sondern lieber Parabel auf eine Gegenwart, die eben gar keine Orientierung mehr in Narrativen findet.

Und so verstößt das Buch gegen seine eigenen Spielregeln. Denn, wenn ein Ermittler zu Beginn einer Geschichte einen Verschwundenen sucht, ist es ein Krimi und muss es einer sein. Man kann alles mögliche in einen solchen hineinpacken, Schmalz' Kollege Wolf Haas – an dessen Brenner-Reihe die Lektüre mitunter erinnert – hat gezeigt, wie viel Formspiel und Sprachwitz das Genre verträgt, eben weil Haas sich nie dagegen wehrte, Krimis zu schreiben. Schmalz aber hat anderes im Sinn. Sein Schlicht begehrt an einer Stelle auf, er wolle ja gar nicht nach dem Verschwundenen suchen, "wolle sich in keine Rolle reintheatern und in keine größere Erzählung betten lassen", er habe "keine Lust auf irgend so ein herphantasiertes Abenteuer". Schade, denn anders als Autor und Hauptfigur hätte man als Leser schon durchaus Lust gehabt.

Mein Lieblingstier heißt Winter
von Ferdinand Schmalz
Verlag: S. FISCHER, 192 Seiten, 22 Euro

 

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