Willkommen im Wilden Westen

von Julia Nehmiz

Bregenz, 23. Juli 2021. Die rohe Bretterwand fährt hoch. Nebel. Im gleissenden Gegenlicht eine schwarze Silhouette. Langer Mantel, Pistole in der Hand: Michael Kohlhaas. Müde wirkt er, erschöpft, verzweifelt, als würde er nicht mehr kämpfen mögen, sondern nur noch nach Hause. Raus aus dieser Geschichte, die ihn zu reuen scheint. Die Bretterwand fährt wieder runter. Für Kohlhaas gibt es kein Entkommen.

Andreas Kriegenburg, der schon einige Kleist-Stücke inszenierte, hat nun zum ersten Mal einen Kleist-Prosa-Text für die Bühne bearbeitet. Und Kleists Erzählung "aus einer alten Chronik" mit eigenen Fortschreibungen erweitert. Die Koproduktion von Deutschem Theater Berlin, Les Théâtres de la Ville de Luxembourg und Bregenzer Festspielen feierte in Bregenz Premiere. Ab 30. Oktober ist die Inszenierung in Berlin zu sehen.

Kohlhaas2 600 KarlForsterIm abgewrackten Pferdestall: Max Simonischek ist Kohlhaas © Bregenzer Festspiele / Karl Forster

In Bregenz beginnt der Abend nicht mit dem berühmten ersten Satz der Kleist'schen Novelle, sondern springt mitten hinein. Andreas Kriegenburg hat aus der Erzählung sieben Szenen herausgeschält und sie neu zusammengesetzt. Der Pferdehändler Kohlhaas, der stur um sein Recht kämpft, nachdem ein Junker ihn am Grenzübertritt gehindert, zwei seiner Pferde als Pfand behielt und sie und seinen Knecht fast zu Grunde richtete, woraufhin Kohlhaas vor Gericht gelangen will, abgeschmettert wird und in einen Rachefeldzug zieht – Kriegenburg erzählt die zeitlose Geschichte um Schuld und Recht, Macht und Gewalt aus eigener, heutiger Perspektive.

Leuchten in Verzweiflung

Bühnenbildner Harald Thor und Kostümbildnerin Andrea Schraad erschaffen ein männlichkeitsstrotzendes Setting. Die Bühne: Ein übergrosser abgewrackter Pferdestall. Rohe dicke Planken an den Wänden und kreuz und quer auf dem Boden. Die zwei Schauspielerinnen und acht Schauspieler tragen eine Art Einheitskostüm: speckige Hosen, speckige Jacken, schmutzstarrende Unterhemden, lange wehende Mäntel. Den Kaffee gibt es aus einer Emaillekanne, getrunken wird aus Blechtassen. Willkommen im Wilden Westen.

Die starke Setzung: Kriegenburg erzählt nicht, wie Kohlhaas in seinen Rachefeldzug hineingerät. Er erzählt, wie er nicht mehr aus ihm herauskommt. Gleich in der ersten Szene bittet Kohlhaas Luther, sich für ihn einzusetzen. Er möchte freies Geleit nach Dresden, um seine Klage vor dem Landestribunal vorzubringen. Aber eigentlich will er gar nicht mehr. Als müsse er sich selber bekräftigen, stampft er wieder und wieder auf während er aufzählt, was er fordert: Bestrafung des Junkers, Wiederherstellung der Pferde, Ersatz des Schadens. Auch wenn er keinen Ausweg mehr sieht, gar nicht mehr an eine zwingende Sinnhaftigkeit seines Tuns glaubt, Kohlhaas macht weiter. Er leuchtet in seiner Verzweiflung.

KohlhaasX 600KarlForster uDie stärkeren Frauen: Lorena Handschin und Brigitte Urhausen, rechts: Max Simonischek © Bregenzer Festspiele / Karl Forster

Die zweite starke Setzung: Kriegenburg erzählt, wie kraftvoll die Frauen und wie tumb die Männer sind. Seien es die Raufhorden, die mit Kohlhaas morden, seien es die Junkerhorden, die ihn um seine zwei Rappen bringen, seien es die Kurfürsten- und Grafenhorden, die nach dem eigenen Vorteil geifern. Die einzigen Vernünftigen: die Frauen. Sie sind Ehefrau Lisbeth und Wahrsagerin, sind Erzählerinnen, nehmen als toughe Staatsanwältinnen alle ins Kreuzverhör, und sie lesen Kohlhaas kurz vor seiner Hinrichtung überdeutlich die Leviten. Kriegenburg zeichnet das bildmächtig und klar, manchmal auch zu klar. Und: Er lässt viel erklären. Das ist packend, wenn die Figuren durch den Erzählduktus quasi sich und ihr Tun reflektieren. Und es wird langatmig, wenn zu viele Vorgänge beschrieben werden.

Erschütternde Emotionalität

Im Zentrum: Der Michael Kohlhaas des Max Simonischek. Während alle anderen fliegend die Rollen wechseln ("Ach du machst heute den Kurfürst?"), bleibt er ganz bei sich. Vom selbstsicheren, erfolgreichen Pferdehändler zum wütenden Racheengel zum gebrochenen, verängstigten Elenden, der erkennt, was für einen Fehler er gemacht hat. Der aber trotzdem nicht anders kann, als bis zum unerbittlichen Ende weiterzugehen. Simonischek geht diesen Weg mit packender Emotionalität und erschütternder Klarheit. Berührend auch Brigitte Urhausen als Lisbeth, die nicht ahnt, sondern weiss, in welches Unglück ihr Mann sich stürzen wird, die mit aller Kraft und selbstbewusst dagegensteuert und doch nichts ausrichten kann.

Kriegenburg stellt die Rollenbilder in Frage: Wenn Lisbeth den Verkauf der Pferde unternommen hätte, hätte sie sich in gleicher Weise provozieren lassen, dass auch sie in einen ähnlichen Rachezug aufgebrochen wäre, fragen die Frauen Kohlhaas im Verhör. Er stottert. Doch doch, er liebe seine Familie, beteuert er auf Nachfrage. Er kämpfe um sein Recht und damit auch für sie. Erst vor seiner Hinrichtung wird ihm bewusst, welche Konsequenzen das hat. Die Frauen wussten es schon vorher. Doch auf sie hat niemand gehört.

 

Michael Kohlhaas
von Heinrich von Kleist
Fassung von Andreas Kriegenburg
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald Thor, Kostüme: Andrea Schraad, Licht: Cornelia Gloth, Dramaturgie: Juliane Koepp, Franziska Trinkaus
Mit: Paul Grill, Lorena Handschin, Peter René Lüdicke, Bernd Moss, Markwart Müller-Elmau, Max Simonischek, Caner Sunar, Max Thommes, Brigitte Urhausen, Niklas Wetzel
Premiere am 23. Juli 2021
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.theatres.lu
www.deutschestheater.de 
www.bregenzerfestspiele.com

 

Kritikenrundschau

"Simonischek ist zutiefst beeindruckend. Wie so einiges an diesem Abend", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (25.7.2021). Der Kritiker lobt das Ensemble: "Sie spielen als rasender Chor Verwüstung oder auch die komplette Verwirrung der politischen Ränke, die Fall umgeben, sie machen manch ulkiges Zeug und sprechen in vielen Zungen, allesamt sehr schön." Indem er zwei Erzählerinnen einführe, unterlaufe Kriegenburg "das kraftvolle Männertheater von Kerlen in groben Leinen". Eine ganz andere Lösung der Misere, "eine menschlich kluge", scheine so auf.

Kleists Original sei ein Pageturner. Kriegenburgs Fassung entfalte hingegen nicht diesen Sog, schreibt Barbara Petsch von der Presse (25.7.2021). Ohnehin sei Kleists Prosa nur bedingt als Spielmaterial geeignet. "So bleibt über weite Strecken des Abends vor allem die Bewunderung für ein Ensemble, das sich gewaltig anstrengt." Und weiter: "Keine Frage, Kriegenburg hat viel unternommen, um 'Kohlhaas' ins Heute zu holen, er ist dabei nicht billig effekthascherisch, sondern ernst und einfallsreich vorgegangen." Der Regisseur suche nach der feministischen Note in dieser Männergeschichte, die aber mehr eine Abrechnung mit einem unmenschlichen System sei. "Ein wenig wahllos flattern Assoziationen zur Gegenwart vorbei: Kleinstaaterei, Untersuchungsausschüsse – oder der Syrienkrieg."

Für Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (31.10.2021) fällt dieser Abend wie auch Daniela Löffners "Einsame Menschen" (beide Berliner Premieren werden zusammen besprochen) in die Kategorie "Geduldsproben“. In beiden Arbeiten solle "die weibliche Perspektive auf den bürgerlichen Kanon gestärkt werden, was aber nichts daran ändert, dass die Mannsbilder die wichtigeren und interessanteren Rollen spielen und der Feminismus zumindest besetzungspolitisch eine leere Behauptung bleibt." Kriegenburg präsentiere in "Kohlhaas" seine "wuchtig-poetische und bildverliebte Spielästhetik". Das Finale, wo dem Helden sein Triumph verwehrt werde, gerate "wirkungsvoll und berührend".

Kriegenburg warte in seiner Novellen-Adaption mit einer "plakativen Symbolik" auf, berichtet Christine Wahl im Tagesspiegel nach der Berliner Premiere (1.11.2021). "Über den Großteil der von Kleist artikulierten Konfliktpunkte" werde bei ihm "leider grobmotorisch hinwegchargiert"; dafür interessiere "eine schlichte Botschaft: Durch zwei Schauspielerinnen, Lorena Handschin und Brigitte Urhausen, die als Erzählerinnen sowie, im Gerichtspart, als Verhörführerinnen des Abends agieren, wird die Frage aufgeworfen, ob Kohlhaas' Frau an seiner Stelle eigentlich genauso agiert hätte wie er. So, wie sie gestellt wird, handelt es sich um eine Suggestivfrage. Wenn es so einfach wäre, könnte man sich das ganze Theater sparen."

In einem kurzen Anhang zur Kritik der "Einsamen Menschen" watscht Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.11.2021) den Kriegenburg-Abend bei seiner Berliner Premiere ab: "Geradezu altväterisch pfropft der Regisseur dem 1810 erschienenen Text seine heutigen Kenntnisse und Meinungen auf. Das geht nicht gut, Heinrich von Kleist bleibt der Klügere. Und Schönere."

Kommentare  
Kohlhaas, Bregenz: lähmende Stimmung
Also ich war gestern in der Premiere in Bregenz und kann die Zustimmung der Kritikerin absolut nicht nachvollziehen, der Abend war bloß öde und langweilig. Regiekonzept war keines zu erkennen, der obligate dramatische Musikteppich im Hintergrund verzichtbar, die Bühne bloß düster ohne jeden Reiz, wie auch die Kostüme - und die ansonsten sicher guten Schauspieler chargierten, was das Zeug hielt.
Geradezu ärgerlich war, dass sich Herr Kriegenburg offenbar nicht entscheiden konnte: soll ich das Stück ernst nehmen - oder doch die gute alte (vor allem im deutschen Regietheater so beliebte) Ironieschiene fahren? Denn einerseits wurde so brav wie langatmig auf Texttreue gesetzt und der Text einfach runtergespielt - andererseits wurde diese Ebene durch parallel stattfindenden Klamauk oder albernen Unsinn konterkariert. Na, was denn nun? Ernstnehmen oder doch Ironie? Wenn man keine Idee hat, einfach zur Sicherheit von beidem ein bisschen.
Jedenfalls sprang der Funke den ganzen Abend nicht von der Bühne auf die Zuschauer über, ganz im Gegenteil: eine lähmende Stimmung erfasste das Auditorium und nicht nur ich wurde von Gähn-Attacken geplagt. Der euphemistisch maximal als "freundlich" zu bezeichnende Schlussapplaus war nach wenigen Minuten auch schon wieder zu Ende und man hatte den Eindruck, die Schauspieler sind froh, endlich abtreten zu dürfen. Die ganze Aufführung war derart bleiern und verschlafen, dass sie sich nicht einmal ein "Buh" verdient hat. Aber ich kenne das Deutsche Theater in Berlin und sein Publikum sehr gut, ich denke, dort wird dieses biedere, gutbürgerliche Theater gut ankommen.
Wieder Mal fragt man sich als langjähriger Theaterbesucher, warum jemand ein Stück inszeniert, wenn einem dazu absolut nichts einfällt. Herr Kriegenburg hat dem guten alten Heinrich von Kleist mit dieser "Inszenierung" jedenfalls einen Bärendienst erwiesen, denn man kann es nach dem Besuch dieser Aufführung niemandem verübeln, wenn er sich in seinen Vorurteilen bestätigt sieht: dass Kleist ein mühsamer und langweiliger deutscher Klassiker ist, der schon in der Schule genervt hat. Nur ist nicht Kleist dieser Langeweiler, sondern Herr Kriegenburg.
Kohlhaas, Bregenz: Novelle
Herr Dr. Christian Breuer!
(...)
Ich habe die Aufführung noch nicht gesehen, werde es erst in Berlin können.
Aber: Sie nennen es ein Stück, es ist kein Stück sondern eine Novelle.
Woher nehmen Sie das Recht den Autor den "guten alten Heinrich von KLeist"
zu nennen, war er Ihr mühsamer und langweiliger Mitschüler, der sie genervt hat?
Und warum beschimpfen Sie das Publikum des Deutschen Theaters Berlin, weil ihm angeblich das biedere gutbürgerliche Theater gefällt? Ich denke, Sie kennen es nicht.
Peter Ibrik
Berlin-Pankow

(Dieser Kommentar wurde um eine Passage gekürzt, die nicht unseren Kommentarregeln entspricht: https://nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=12&Itemid=102 - Mit herzlichen Grüßen aus der Redaktion: jeb)
Kohlhaas, Bregenz: Frenetischer Applaus
Sehr geehrter Herr Dr. Breuer,
sind Sie sicher, dass Sie am 23. Juli 2021 im Landestheater Vorarlberg bei der Premiere MICHAEL KOHLHAAS anwesend waren?
Wenn ja, teilen wir uns die Tatsache der Anwesenheit, sonst nichts. Ich nehme an, Sie haben den Saal frühzeitig verlassen - das würde erklären, dass sie den frenetischen Applaus, die lauten, wirklich unüberhörbaren, anhaltenden Bravo-Rufe, die Begeisterung des Publikums und letztlich die Freude der Schauspieler und Schauspielerinnen, die man ihren Gesichtern ablesen konnte, nachdem die Erschöpfung allmählich wich, nicht mitbekommen haben. So sad!
Kohlhaas, Bregenz: Applaus
Es ist doch sehr erstaunlich wie sehr unterschiedlich die selbe Situation im selben Saal zur gleichen Zeit wahr genommen werden kann. Ich war bei der Premiere und saß im Parterre. Hier war von frenetischem Applaus keine Spur, sogar ein- zwei verhaltene Buhs waren für die Inszenierung zu vernehmen.
Ich teile die Meinung von Hrn. Breuer zum Teil.
Kohlhaas, Bregenz: mutig
Diese Zeilen , um meine Dankbarkeit auszudrücken für so spannendes, kraftvolles, kluges, berührendes und mutiges Theater!
Was für ein wunderbarer Abend!
Ich bedauere, wer unempfindlich und unerreichbar sich dieser sinnlichen und bebenden Erzählung verschliesst.
Wieviele unterschiedliche Menschen habe ich gesehen, wieviele Haltungen, Überzeugungen, Nöte und Kämpfe, im Grossen, wie im Kleinen! Berührende Menschen, die verletzlich, verzweifelt, sich preisgeben in ihrem Scheitern die einen und brutal ihre Macht missbrauchend die anderen. Ich bin dankbar für die Klarheit im Denken, für die Kraft und Selbstverständlichkeit der umwerfenden kleistschen Sprache, die dank dieses aussgergewöhnlichen Ensembles moderner klingt als vieles das heute zu Papier gebracht wird. Ein Ensemble, das virtuos nichts als im Chor sprechend, in der Lage ist, verwüstend durch die Lande zu ziehen und Wittenberg brennen zu lassen! Einfallslosigkeit? biederliche Bürgerlichkeit? es tut mir leid - nichts davon erlebt, wer gerne lebt. Am Sonntag war der verdiente Applaus frenetisch und nicht endenwollend!
Michael Kohlhaas, Berlin: schlicht großartig
Ich fand den Berliner DT-Abend mit Michael Kohlhaas schlicht großartig (trotz der nervigen Pflicht des Maske-Tragens, was in München, wo ich wohne, inzwischen zum Glück bei gleicher 3 G-Regelung anders gehandhabt wird - siehe etwa die neue Isarphilharmonie / "HP8") und das Schauspiel von Max Simonischek zum Niederknien. Über die FAZ-Kritik habe ich mich daher einigermaßen geärgert...
Michael Kohlhaas, Berlin: Frauen und Männer
Sehr geehrter Herr Dr. Breuer!
Ich habe Sie im Juli ob Ihrer Wortwahl "gerügt",
ich muss nun aber auch, nachdem ich die Aufführung am 31. März im Deutschen Theater gesehen habe, sagen, dass ich den Grundzügen Ihrer kritischen Anmerkungen durchaus zustimmen will.

Es war ein ärgerlicher Abend.

Das beginnt mit dem Bühnenraum aus Brettern, der eine Stimmung verbreitet als wolle er sagen: Mit Beginn ist die Tragödie beschlossene Sache. Die Kostüme
frei von jedweder Andeutung für die Figur und farblos (nur einmal darf sich Herr
Lüdicke in ein farbiges Kostüm umziehen, um dann im Hintergrund der Bühne herumzuhampeln - anscheinend um die Worte des Kohlhaas zu diffamieren).

Der Teil der Geschichte, in der Kohlhaas in die Verwicklungen hineingerät, ist "gestrichen", fehlt in der Bearbeitung. Ich kann als Zuschauer mir kein Urteil darüber bilden, ob des Kohlhaas Verhalten berechtigt und verständlich ist.
Der Regisseur konzentriert sich auf die zunehmende Verstrickung und Ausweglosigkeit und verzichtet auf die Rechtfertigung des Kohlhaas, weil er befürchtet, das Spielensemble und die Zuschauer könnten in den gleichen destruktiven Denkkosmos hineingeführt werden, in dem Kohlhaas befangen ist.
Er schlägt als Ausweg vor, aus der Geschichte zu lernen -
wäre es dann aber nicht nützlicher, die Ereignisse der Geschichte so darzustellen, wie sie gewesen sind oder gewesen sein könnten, und nicht eine "Übermalung" aus heutiger Sicht anzubieten, die fragwürdig sein muss?

Ich verstehe gut, dass Kohlhaas die Frage, ob sich seine Frau "auf ähnliche Weise
hätte provozieren lassen", nicht versteht. Es wäre doch wohl auch interessanter,
die Frage zu stellen, was wäre geschehen, wären Frauen an den Machtpositionen gewesen. Es gibt dafür Ereignisse in der Menschheitsgeschichte und auch entsprechende Dramen. Und hätte die Geschichte des Kohlhaas dann einen anderen Verlauf genommen?

Ich finde es zunehmend unsinniger, Behauptungen nachzugehen und in alten Stoffen danach zu suchen oder Spuren für eine solche Suche zu legen, wonach die Geschichte der Menschen anders verlaufen wäre, hätten mehr Frauen darüber befinden dürfen. Der Verlauf es menschlichen Zusammenlebens ist nicht von den unterschiedlichen Mentalitäten bestimmt, sondern von anderen Konstellationen.
Die an der Aufführung beteiligten Damen (und das hat nichts mit der kurzfristigen Umbesetzung zu tun) vermögen der Rolle der Frau auch keine andere Gewichtung
zu geben.

Ich bin sehr dafür, dass heutigentags mehr Frauen in der Politik und auf Intendantensesseln und Regiestühlen ihren Einfluss geltend machen können -
und dennoch: Aus der Ukraine fliehen die Frauen mit den Kindern und die Männer
bleiben zurück, um den Krieg zu führen. Eine perfekte Aufgabenteilung der Geschlechter.

Zur Spielweise:
Das Ensemble bewegt sich so, als wolle es vortäuschen, es befinde sich in einem
ständigen hohen Erregungsgrad, es stampft mit den Füßen auf und haut mit den
Fäusten gegen die Holzwände und schreit in (unverständlichen) Chören, und es ist dabei vergessen worden, dass zum mitteilsamen Sprechen auch das Denken gehört, und folglich wird die Sprache Kleists unverständlich.
Ich muss bei dieser Spielweise daran denken, dass gesagt wird, wenn jemand einen unangemessenen Aufwand treibt: Mach doch nicht so ein Theater! Und dann hat das Wort "Theater" einen durchaus herabsetzenden Beigeschmack.

Ende erster Teil

Peter Ibrik
Michael Kohlhaas, Berlin: Nicht mutig
Der zweite Teil ist bei der Übermittlung offenbar verloren gegangen.

In der Vorstellung im Deutschen Theater war auch zu beobachten, dass die Konzentration der Zuschauer und das Interesse an der Darstellung deutlich nachließen. Ein "frenetischer" Beifall fand nicht statt, allerdings ein jolender aus dem zweiten Rang, so dass man denken konnte, man sei in einem Rock-Konzert gewesen.

Ich kann nichts finden, was an der Aufführung "mutig" wäre.

Das war noch zu sagen.

Mit freundlichen Grüßen

Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Michael Kohlhaas, Berlin: Sehenswert
Natürlich ist Andreas Kriegenburgs "Michael Kohlhaas" als Prototyp toxischer Männlichkeit streckenweise sehr plakativ.

Der Abend ist jedoch durchaus sehenswert. Die Choreographien der energiegeladenen Gruppenszenen sind mehr als Herumchargieren, vor allem die Schlüsselszene am Schlagbaum, die die gesamte Kettenreaktion in Gang setzt, ist gelungen.

In ihrer brodelnden Energie ist Kriegenburgs DT-Koproduktion ein interessantes Gegenstück zum statischen „Michael Kohlhaas“-Sprechkonzert, das Simon McBurney kurz zuvor an der Schaubühne herausbrachte.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2023/01/05/michael-kohlhaas-andreas-kriegenburg-deutsches-theater-berlin-kritik/
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