Trostlose Diskussionskultur

von Steffen Becker

München, 23. Juli 2021. Im Programmheft der Inszenierung von Ferdinand von Schirachs "Gott" am Residenztheater findet sich ein Spoiler. Von Schirach bekennt im Nachdruck eines NZZ-Interviews, dass sein Stück ein klares Ziel hat: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Zulässigkeit assistierter Sterbehilfe vom Februar 2020 soll endlich umgesetzt werden. Was der Autor wünscht, wie das Publikum mit seinen am Eingang erhaltenen roten und grünen Abstimmungs-Karten umgeht, ist also klar.

Zu Beginn: ein Missverhältnis

Aber schon die Einstiegsfrage des Interviews offenbart die Graubereiche, auf die Regisseur Max Färberböck in seiner Inszenierung besonderen Wert legen wird. Der NZZ-Interviewer spricht von Schirach auf seinen Suizid-Versuch als 17-Jähriger an. In seiner Antwort spricht der Autor allerdings nur von einem Todeswunsch, wenn er im Alter nicht mehr schreiben, denken oder sprechen könnte. Ob er dem 17-Jährigen von Schirach im Rückblick eine professionelle Assistenz gewünscht hätte, die "Gott" und eine Karriere als Jurist und erfolgreicher Autor verhindert hätte, lässt er offen.

Gott1 600 SandraThenFrau Gärtner (Charlotte Schwab, rechts) will sterben. Ein Expert:innenrat prüft das Für und Wider © Sandra Then

Dieses Missverhältnis adressiert Färberböck in seiner Variante des Stoffs um eine Ethikrat-Anhörung zu Sterbehilfe durch Ärzte. Die Mehrheit der Deutschen befürwortet Sterbehilfe vor allem mit Blick auf Menschen mit schweren Leiden. Aus von Schirachs 78-jährigem Herr Gärtner, der um seine Frau trauert, macht Färberböck die gleichnamige, aber zehn Jahre jüngere Frau. Der Mainstream wäre gerührt vom Verlust eines alten Mannes. Eine Frau, die mit ihren geliebten Enkelkindern noch viele gute Jahre vor sich hätte, stößt auf weniger Verständnis. Da kollidiert der progressive Wunsch nach Selbstbestimmung mit der konservativen Begründung, sich als Frau über das Leben mit dem Mann definiert zu haben – und ohne dieses Abhängigkeitsverhältnis nur noch Leere zu spüren.

Kargheit als Stilmittel

Charlotte Schwab spielt das mit ruhigem, aber starkem Trotz. "Ich habe mich entschieden und ich habe Recht" – das strahlt ihre Figur aus. Ihr Anwalt Biegler überspitzt das mit der Machovariante "Ich habe Recht und ihr anderen seid alles Vollidioten". Michael Wächter spielt das so unangenehm nassforsch, dass überdeutlich wird: Regisseur Färberböck will die Schlussabstimmung trotz klarer gesellschaftlicher Mehrheitsverhältnisse spannend halten. Allerdings nicht durch die Form. Färberböck reduziert "Gott" so sehr auf den Text, dass die Kargheit der Inszenierung selbst zum Stilmittel wird.

Gott2 600 SandraThenÜbertaffe Juraprofessorin (Juliane Köhler), nassforscher Anwalt (Michael Wächter) © Sandra Then

Die Anhörung dreier Expert:innen vor dem Ethikrat wirkt mobiliarmäßig, als würde sie im Flur einer unsanierten Schule stattfinden. Positiv interpretiert zeigt die Inszenierung damit die Trostlosigkeit unserer Diskussionskultur. Auf beiden Seiten setzt der Text auf Unterstellungen, schräge Vergleiche und ad hominem-Strategien ("wie kann ein katholischer Geistlicher von Moral reden, wenn es in der Kirche Kindesmissbrauch gibt" versus "wenn wir heute Sterbehilfe erlauben, haben wir morgen Euthanasie").

Zweifel am Glauben

Andererseits: Nach hinten wird der Bühnenraum von einer grauen Rückwand stark beengt. Und vergleichbar wenig Tiefe haben die Expert:innen, die die wesentlichen Argumente Für und Wider Sterbehilfe vortragen. Ein freundlich-formalistisch gezeichneter Arzt (Robert Dölle) und eine übertaffe Juraprofessorin (Juliane Köhler) gehen sich passiv-aggressiv an, während ein lascher Vorsitzender (Robert Gallinowski) zur Ordnung ruft. Lediglich Michael Goldberg als Theologe gestattet die Inszenierung Differenzierung. Die eines überzeugten Christen, dem aber auch die Zweifel am Glauben und die Erkenntnis der Unmodernität der eigenen Haltung nicht fremd sind. Ansonsten herrscht die Trostlosigkeit von Eindimensionalität, der Redundanzen und der Länge des Textes (zwingt die Souffleuse zum mehrmaligen Einsatz).

Am Ende ist man weniger berührt vom ethischen Dilemma als erleichtert, die Frage von Leben und Tod mit der Karten-Abstimmung hinter sich gebracht zu haben. Das Votum fällt kontrovers aus wie von Färberböck beabsichtigt, aber mit Mehrheit für die Haltung von von Schirachs Text. Wenn man daraus etwas mitnimmt, dann die Erkenntnis, was für einen Scheiß-Job Gott eigentlich hat.

 

Gott
von Ferdinand von Schirach
Regie: Max Färberböck, Bühne: Volker Thiele, Kostüme: Lili Wanner, Dramaturgie: Michael Billenkamp
Mit: Robert Gallinowski, Charlotte Schwab, Evelyne Gugolz, Michael Wächter, Cathrin Störmer, Juliane Köhler, Robert Dölle, Michael Goldberg
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.residenztheater.de

 

Kritikenrundschau

Schirach wolle belehren und diskutieren lassen, "beides gelingt ihm, und in Letzterem liegt auch die (einzige) Stärke seiner Stücke", schreibt Egbert Tholl von der Süddeutschen Zeitung (25.7.2021). "Färberböck hat zusammen mit dem Dramaturgen Michael Billemkamp den Text geschickt gekürzt und zu ein bisschen mehr theatralischem Leben verholfen. Er legt größten Wert auf in sich äußerst ernst vorgetragene Positionen, das ist gut und wird auch gut gespielt."

"'Gott' zu spielen erfordert zugleich Abwechslung und Konzentration, aktive Haltung und die Kunst des wirkungsvollen Zuhörens. In München entsteht vielmehr der Eindruck, dass während der langen Pause nach der coronabedingten Verschiebung der für An­fang November 2020 bereits fertig geprobten Produktion irgendein Impuls zu einer zusammenhaltenden Spielenergie verflogen ist – die jedoch mag nach der euphorisch beklatschten Premiere rasch wieder eingefangen werden", schreibt Teresa Grenzmann von der FAZ (26.7.2021). "Alle Anwesenden im haltlosen Saal sind überlegt, höflich und gefasst; es herrscht freundliche akademische Seriosität. Aber auch peinliche Berührtheit. In einer Mischung aus Beschwichtigung, Weisheit, Ohnmacht und Verdruss wirken sechs der acht Figuren meist wie vereinzelte vorsichtige Schauspieler ihrer Sache, zwangsrekrutiert von ihrem Autor Ferdinand von Schirach."

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