Spitzen-Technik ist cool, aber gar nicht nötig

Juli 2021. Der Workshop "Dramaturgische und technische Fragen in der Hybrid-Theaterproduktion" fand am 17. April 2021 während des Zoom in-Festivals der Freien Szene auf nachtkritik.online statt, und zwar aufgeteilt in Fragen zur Dramaturgie (Leitung: Nina Tecklenburg von Interrobang) und zur technischen Umsetzung solcher neuen Arbeiten (Leitung: Mario Simon von der Akademie für Theater und Digitalität, Dortmund).

Themen: Wie produziert man eine Hybrid-Inszenierung, die sich gleichzeitig an ein analoges und an ein Online-Publikum wendet? Wie spricht man das Publikum an, das teils im Raum sitzt, teils im Stream zuschaut? Wie verändert sich die Dramaturgie beim Wechsel ins Digitale? Wie bekommt man beide Zuschauer zusammen oder ist es im Grunde gar nicht so relevant, wenn es für Zuschauer zwei Dramaturgien und Ereignisse gibt?

Leitung: Nina Tecklenburg ist promovierte Theaterwissenschaftlerin, Regisseurin, Performerin und Teil des Kollektivs Interrobang. Mario Simon leitet die Medienabteilung der Akademie für Theater und Digitalität in Dortmund. Ein kurzes Tutorial von ihm mit einer niedrigschwelligen Technik-Einführung steht auch online im Vimeo-Kanal der Akademie.

Video-Aufzeichnung des Workshops:


Timeline:

(00:02:20) Impuls und Einführung von Nina Tecklenburg mit praktischen Beispielen aus der eigenen künstlerischen Arbeit

(00:04:42) Partizipation und Digitalität als zwei Merkmale von Theaterarbeiten

(00:05:06) Partizipation meint, dass Zuschauer Teil des Spielaufbaus werden und mit der Konsequenz ihres Handelns konfrontiert werden.

(00:07:30) Digitalität: Auch inhaltlich für Theater interessant, welchen Einfluss digitale Medien auf soziales Miteinander haben, wie sie Gefühlskultur beeinflussen, Bewertungs-, Feedbackkultur und und Multi-Optionalität.

(00:08:46) Interrobangs Arbeiten nutzten in der Vor-Corona-Zeit den analogen Theaterraum, um über digitale Kommunikation nachzudenken. Wenn die Theater geschlossen sind oder weniger Zuschauer möglich sind, ist das eine Chance für hybride Format und dafür, weitere Reflexionsebenen einzuziehen.

(00:09:48) Best-Practice-Beispiele aus der Prä-Corona-Zeit, in der das Publikum sich aber auch schon aufspaltete: "Callcenter übermorgen" aus dem Jahr 2013 über die Freiheit und Unfreiheit von Callcenter-Anrufen.

(00:17:10) Programm zur Visualisierung der Dramaturgie von "Callcenter übermorgen": Free Mind. Im Probenprozess wurde mit Post-its gearbeitet.

(00:18:00) Best-Practice-Beispiel "Preenacting Europe" aus dem Jahr 2014: Planspiel mit drei möglichen Regierungsformen für Europa und Abstimmungsmöglichkeiten des Publikums.

(00:18:50) Komplexe Dramaturgien: Strukturell, inhaltlich und individuell durch Entscheidungsmöglichkeiten der Zuschauer*innen.

(00:20:19) Besonderheit interaktiver Arbeiten: Verweigerung der Regeln, Subversion einzelner Zuschauer. Hängt auch stark vom Thema ab.

(00:21:41) Best-Practice-Beispiel für Hybrid-Format unter Corona-Bedingungen: "Emocracy", ursprünglich als Partizipationsformat angelegt mit Abstimmung der Zuschauer*innen. Wurde in der Corona-Zeit als Livestream-Gastspiel nach Moskau gestreamt. Spaltung zwischen dem, was auf der Bühne geschieht und dem, was im Stream geschieht, hat sehr gut funktioniert.

(00:25:23) Best-Practice-Beispiel "Familiodrom": als Hybrid-Arbeit geprobt, wurde aber als Präsenzarbeit realisiert, inklusive Programmierung einer App mit Abstimmungsmodul und Chat

(00:30:20) Ausblick geplante Hybrid-Arbeiten: "Chat-Inferno" mit Chat, der sich aus dem Publikum zuhause und im Saal speist, "Komune Twitch", Idee: auf Twitch eine Gemeinschaft jenseits physischer Grenzen erschaffen.

(00:31:58) Zusammenfassung Impuls von Nina Tecklenburg: Grenzen beim Verschmelzen vom Publikum, weil die beiden Gruppen anders sind. Aber Potential, mit dieser Spaltung zu experimentieren und über digitale Kommunikation nachzudenken.

(00:33:30) Diskussion: nur ein kleiner Anteil der vorbereiteten Szenen / des Materials wird gesehen. Großer szenischer Überschuss, den man nutzbar machen könnte.

(00:40:20) Interaktive Arbeiten: Veränderte Dramaturgie bei Abweichung und Unterlaufen der Regeln durch die Zuschauer*innen

(00:42:45) Improvisation in ungeplanten Situationen

(00:43:10) "Widerstandspfade" für Zuschauer*innen, die ausscheren, andere Rollen, die man ihnen zuweist

(00:45:31) Steuerung der Interaktion versus Freiheit in der Interaktion Erprobung für den digitalen Raum

(00:48:40) Planung von Projekten: Präsenz, online oder nur Hybrid?

(00:55:05) Chance für freie Gruppen, mit Online-Arbeiten an Häusern mehr Gastspiele zeigen zu können

(00:56:10) Der öffentliche Raum als Spielfläche für hybride Produktionen.

(01:01:00) Diskussion: In Hybrid-Arbeiten ist es sinnvoll auch das online-Publikum zu vereinen.

(01:07:45) Chats als Möglichkeit, mediales Gemeinschaftsgefühl zu erzeugen.

(01:09:20) Begrüßung Mario Simon. Status quo: viele technische Insel-Lösungen an den Theatern, eine andere Zugänglichkeit ist erstrebenswert.

(01:15:20) Technische Kompetenz ist auch abhängig von Tagesform

(01:16:15) Best-Practice-Beispiel "4.48 Psychose": war 2014 die erste Arbeit, die im Team mit Netzwerktechnikern und einem Programmierer entstand. Musik, Licht, Kostüme und weiter Teil der Inszenierung gesteuert durch die Körperdaten der Schauspieler*innen.

(01:18:40) Erkenntnis, dass man auch am Theater Nerds braucht, um weiterzukommen.

(01:18:57) Best-Practice-Beispiel "Die Borderline Prozession" aus dem Jahr 2016: Entwicklung des Live-Texting für die Bühne, VR-Variante mit den CyberRäubern

(01:20:57) Best-Practice-Beispiel "Einstein on the Beach" von 2017: erste Arbeit mit Fördergeldern und Arbeitsweise, wie sie jetzt mit der Akademie betreiben wird. Sechs Monate vor Probenbeginn konnten Programmierer bereits mit der Arbeit beginnen an einem Steuerungmodul über den Mensch-Maschine-Knoten. War damals weit weg von dem, was an den Theatern geschah.

(01:21:55) Best-Practice-Beispiel "Parallelwelt": Glasfaser-Anmietung, damit die Ensembles des Schauspiel Dortmund und Berliner Ensemble live gemeinsam spielen. Kommunikation war das Wichtigste und Schwierigste, um alles synchron hinzubekommen.

(01:23:59) Gründung der Akademie 2019 mit dem Ziel der Forschung an Tools und Ideen, wie man die Technik in Stücke integrieren kann.

(01:25:38) Forschung, Fellowship-Programme Aus- und Weiterbildung als Säulen der Akademie, demnächst als vierte Säule ein digitales Kooperationszentrum, in das sich Gruppen einmieten können.

(01:28:08) Spitzen-Technik ist natürlich cool, aber man kann auch an Tools, die bereits existieren, noch Verbesserungen schaffen.

(01:34:20) Gute Zeiten, was die Technik-Qualität pro Euro betrifft. Ein Videomischer kostet nicht mehr 6000 Euro, sondern ist auch für 600 zu haben.

(01:43:32) Forschung der Akademie steht open-source zur Verfügung. Open-source versus Einzigartigkeit des Werks? Offener Code bedeutet dennoch, dass der Code seinem Erschaffer gehört. Die Zugänglichkeit ist relevant.

(00:58:30) Tools: "Toto.io" bietet Schnittstellen für Produktione im Stadtraum, zum Beispiel können beim Gang zwischen Stationen Audiofiles abgespielt werden oder wenn die GPS-Ortung erkennt, dass man einen bestimmten Ort erreicht hat, lässt sich Material einspielen.

(01:45:16) Tool-Alternative zu Zoom für interaktive Produktionen: "BigBlueButton" ist neu, hat gute Moderations-Funktion und bietet Möglichkeite für künstlerische Gestaltung.

 

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