Wir sind solche Klischees

von Stephanie Drees

Berlin, 27. Juli 2021. Am Anfang ist es ein Witz. Auf dem Fußboden der frisch erstandenen Altbauwohnung wird sie geboren, die Idee, in schampusgetränkter Süffisanz, als kurzer Scherz zwischen den beiden selbstironisch gesättigten Neubesitzern. Ein Hetero-Paar Ende Dreißig, Berliner Großstadt-Milieu, beide erfolgreich, beide attraktiv, beide selbstzufrieden. Gut, vielleicht steuert die Beziehung schon langsam in Richtung der Langeweile-Klippen, aber noch verbindet die Frage "Willst du mich nuttiger?" beide in schmunzelnder Koketterie. Man wird zum Abziehbild, aber man weiß darum und so ein bisschen edgy bleiben, das ist bestimmt noch drin. Sie die Coole, er der kindsköpfige Lüstling.

Projekt Baby

"Wir sind solche Klischees!" Eigentlich geht's in offenkundig eingeübten Posen darum, ob man die Feierlaune nun in Geschlechtsverkehr überführt oder sich weiter die Kante gibt, da fällt er plötzlich, der Satz, der Gedanke, der Moment, an dem Sprechen Handeln wird: Wir machen ein Kind. Noch wenige Minuten zuvor hatte er sie daran erinnert, wie blöde sie Babys findet, und klar, das kann sie toppen: Babys, ja, die können kaum etwas und sind total selbstbezogen. Wie "behinderte Katzen". Doch hier hilft auch die größte edgyness nicht weiter. Das "Projekt", es ist gestartet. Es soll zum Alptraum werden.

Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin“Yerma" von Simon Stone nach Federico García Lorca,Eine Produktion des Young Vic Theatre London,Premiere: 27.7.2021,Regie: Simon Stone, Bühne: Lizzie Clachan, Kostüme: Alice Babidge, Musik und Ton: Stefan Gregory, Licht: James Farncombe, Dramaturgie: Nils Haarmannmit:Yerma: Caroline PetersJohn: Christoph GawendaMary: Jenny KönigVictor: Konrad SingerHelen: Ilse RitterDes: Carolin HauptCopyright (C) Thomas AurinGleditschstr. 45, D-10781 BerlinTel.:+49 (0)30 2175 6205 Mobil.:+49 (0)170 2933679Abdruck nur gegen Honorar zzgl. 7% MWSt. und BelegexemplarSteuer Nr.: 118/213/52812, UID Nr.: DE 170 902 977Commerzbank, BLZ: 810 80 000, Konto-Nr.: 316 030 000SWIFT-BIC: DRES DE FF 810, IBAN: DE07 81080000 0316030000Frisch eingezogen, große Projekte: "Yerma" an der Berliner Schaubühne © Thomas Aurin
In der ersten halben Stunde mutet diese Version von "Yerma" an der Berliner Schaubühne fast wie eine Boulevard-Komödie an. Es sind spitze Dialogschlachten mit starkem Gegenwartsbezug. Da wird das Reproduktionsprojekt so ganz gelassen beim Wohnungsputz mit der Zweite-Welle-Feministinnen-Mutter und der fatalistischen Schwester vorgestellt. Kurze Schlaglichter in das Leben dieser Frau, einer Yerma, gespielt von Caroline Peters, die – nach zwei Dekaden wieder zurück im Ensemble der Schaubühne – hier nicht weniger tun soll, als im großen Stil ihren schauspielerischen Einstand zu feiern. Der viel gelobte und international ausgezeichnete Regisseur Simon Stone hat das spanische Weltliteratur-Drama von Federico García Lorca gänzlich entkernt und überschrieben. Das Leben und Leid einer kinderlosen Bäuerin in Andalusien, die Stellung der Frau im ländlichen Raum, die Klassenkonflikte und Vorboten des Faschismus im Spanien der frühen 1930er-Jahre – all das interessiert Stone für diesen Abend wenig.

Familie im Terrarium

Die Vorlage reduziert er auf ein Konflikt-Gerüst, den Kinderwunsch. Das Zerbrechen überlässt er dieser Frau und ihrem kompletten Leben, alles reißt sie in den Abgrund. In dieses erzählerische Gerüst stellt er das Ensemble hinein. Ein Glaskasten steht in der Mitte des Bühnenraumes, Requisiten deuten Orte nur an, die Schauspieler:innen stehen und liegen dort ausgestellt. Ein Terrarium der Familien- und Beziehungsaufstellung. An den Aufbau von Lorcas Drama angelehnt, gibt es drei Überkapitel und viele Bilder, die lakonische Titel wie "Das Projekt ist in der Schwebe" tragen. Mehrstimmiger spanischer Frauengesang kommt vom Band, wenn der Bühnenraum zwischen diesen Schlaglichtern komplett verdunkelt wird. Dann erstrahlt das Terrarium wieder grell. Schnelle Schnitte, filmisches Erzählen.

Keine Überraschung: Die Sache mit dem Kinderkriegen soll auch dieser Yerma nicht gelingen, einer erfolgsverwöhnten Frau, die das große Scheitern nicht kennt. Bald werden die karriere- und lifestyleüberpinselten Risse der Beziehung mit dem schönen Partner (in seiner Ambivalenz zwischen angepasster Männlichkeitsperformance und innerer Entfremdung stark gespielt von Christoph Gawenda) zu Gräben, bald schon geht der Lebenssinn komplett flöten.

Schaubühne am Lehniner Platz, Berlin“Yerma" von Simon Stone nach Federico García Lorca,Eine Produktion des Young Vic Theatre London,Premiere: 27.7.2021,Regie: Simon Stone, Bühne: Lizzie Clachan, Kostüme: Alice Babidge, Musik und Ton: Stefan Gregory, Licht: James Farncombe, Dramaturgie: Nils Haarmannmit:Yerma: Caroline PetersJohn: Christoph GawendaMary: Jenny KönigVictor: Konrad SingerHelen: Ilse RitterDes: Carolin HauptCopyright (C) Thomas AurinGleditschstr. 45, D-10781 BerlinTel.:+49 (0)30 2175 6205 Mobil.:+49 (0)170 2933679Abdruck nur gegen Honorar zzgl. 7% MWSt. und BelegexemplarSteuer Nr.: 118/213/52812, UID Nr.: DE 170 902 977Commerzbank, BLZ: 810 80 000, Konto-Nr.: 316 030 000SWIFT-BIC: DRES DE FF 810, IBAN: DE07 81080000 0316030000Die Sache mit dem Kinderkriegen: Caroline Peters, Christoph Gawenda © Thomas Aurin
Simon Stone reduziert vor allem in einem Sinne: Trotz der klugen Besinnung auf das Schauspieler:innen-Theater, auf die Kunstfertigkeit des gesamten Ensembles, liegt seine Leistung vornehmlich darin, einfach richtig viel Platz für Caroline Peters zu schaffen. Die zeigt in dieser Rolle tatsächlich alles, was sie kann. Man muss es so klar sagen: Wenige könnten diese emotionalen Prozesse, diese Art von Wahnsinns-Talfahrt so spielen, dass sie glaubhaft wirken, die inneren Konflikte dieser Frau von augenzwinkernder Selbstbespiegelung bis hin zum obsessiven Wahnsinn spielerisch ineinander führen.

Kopfsprung ins Pathos

Denn hinsichtlich seiner erzählerischen Entwicklung ist dieser Abend ein Köpper mitten hinein in das Pathos-Becken. Samt kathartischem Erlebnis für das Publikum. Peters rettet diesen Abend, der sich immer weiter überhitzt, vor dem Absaufen in diesem Becken. Bald schon ist da rein gar nichts mehr mit Boulevard, es wird todernst, im wahrsten Sinne. Selbstdestruktive Obsession in Simon-Stone-Manier. Hoch anschlussfähig, nah an gesellschaftlichen Diskursen. Und trotzdem stets gut konsumierbar, mit Stellvertreter-Figuren und viel zeitgeistigem Theorie-Unterbau.

Die Schwester, in pragmatischer Verlorenheit gespielt von Jenny König, ist aufgerieben zwischen ungeplanter Mutterschaft und Angst vor dem Schicksal der Alleinerziehenden, Yermas Mutter, eine Intellektuelle und Feministin der 68-Generation, erzählt ganz freimütig vom Bereuen, dem mittlerweile berühmten "Regretting Motherhood", dem Ende des wilden, freien Lebens. Auch sie wird von Ilse Ritter in starker Vielschichtigkeit gespielt. Da ist emotionale Kälte, ja, aber eben auch Lebenshunger und tiefes Verständnis für die Töchter. Dieser Abend ist ein echter Stone: Erschaffen vom Meister des Theaters für die Netflix-Generation. Doch Simon Stone ist eben auch einer der Regisseure, die ein immens sicheres Händchen dafür haben, individuelles Können in den Vordergrund zu rücken. Allein deswegen lohnt sich der Abend.

Yerma
von Simon Stone, nach Federico García Lorca
Aus dem Englischen von Brangwen Stone
Eine Produktion des Young Vic Theatre London
Deutschsprachige Erstaufführung
Regie: Simon Stone, Bühne: Lizzie Clachan, Kostüme: Alice Babidge, Musik und Ton: Stefan Gregory, Licht: James Farncombe, Dramaturgie: Nils Haarmann.
Mit: Caroline Peters, Christoph Gawenda, Jenny König, Konrad Singer, Ilse Ritter, Carolin Haupt.
Premiere am 27. Juli 2021
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause

www.schaubuehne.de

 

Kritikenrundschau

"Großartig, wie Caroline Peters eine Raketenstufe nach der anderen zündet und überdreht. Geht’s noch? Es geht immer weiter, immer kaputter, komischer, trauriger. Aber warum nur berührt die Geschichte nicht? Es liegt an Simon Stones Hang zur Übertreibung – man betrachtet die beschleunigten Momentaufnahmen als kalte Versuchsanordnung", so Rüdiger Schaper vom Tagesspiegel (28.7.2021). "Es geht diesen privilegierten Leuten eigentlich gut, und sie machen sich das Leben zur Hölle." Im Grunde sei das ein "arg konservativer Befund". Am Ende des Stones-Stück zeige sich eine komplette Umkehrung der Kräfte des Originals von Federico Garcia Lorca, "ein Abschalten des Dramas, ein Billigangebot mit misogynen Zügen".

Lorcas 'tragische Dichtung' verschwinde ganz in Stones Transformation des Stoffs in ein Milieu der Gegenwart. Es entstehe keine Spannung zwischen den historischen Schichten. "Das ist etwas enttäuschend", schreibt Katrin Bettina Müller von der taz (28.7.2021). Der Inszenierung gelinge es nicht, die Unterschiede der Lebensentwürfe von Mutter und Tochter zu historisieren; sie würden allein psychologisch gedeutet.

Stones Stück-Bearbeitungen seien auch deshalb so erfolgreich, "weil sie im schützenden Windschatten der ausländisch-australischen Herkunft etwas bei uns in Verruf Geratenes zeigen: ein well-made play, eine mit präzisem Sinn für Timing und Schauspielkunst aufwartende Inszenierung, zugänglich, unterhaltsam, technisch und dramaturgisch gekonnt und immer mit einer bittersüßen Prise Kritik am eigenen Milieu." Und weiter: "Der Preis, den Stone für seine transformative Erzählweise zahlt, lässt er seine Figuren selber ansagen: 'Wir sind solche Klischees', ruft Caroline Peters und: 'Das klingt alles sehr kommerziell'. Und doch verwandelt gerade sie den sauberen Glaskubus durch die derbe Klarheit, die hier ihr Spiel und Sein bestimmt, gekonnt in einen albtraumhaften Zwinger", schreibt Simon Strauß von der FAZ (28.7.2021).

Die Inszenierung sei handwerklich so virtuos wie inhaltlich oberflächlich, schreibt Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (28.7.2021). Zur Hauptfigur: "Selbst die eigentlich immer und jederzeit hinreißende Schauspielerin Caroline Peters kann diese Klischee-Ansammlung nicht zu einer interessanten Person machen. Weshalb sie unbedingt schwanger werden will, weshalb sie, weil das nicht gelingt, in eine verzweifelt selbstzerstörerische Obsession rast, bleibt das Rätsel des Regiekonzepts."

Der tragische Konfliktstoff habe in unseren Zeiten der aufgeklärten Individualität nichts an seiner Urwucht eingebüßt, schreibt Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (28.7.2021). "Und wie Caroline Peters diesen Kontrollverlust spielt, wie sie den Kontrast zwischen einer lebensfröhlich-abgeklärten bis zynischen Wohlstandsnudel zu Beginn und einer Furie des Blutes am Ende immer aus dem Augenblick heraus beglaubigt, das ist ziemlich grandios. Man folgt ihr sehend, und ohne Widerstand leisten zu können, in den Abgrund."

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