Jetzt raus hier!

von Falk Schreiber

Hamburg, 4. August 2021. Die erste Aufführung beim diesjährigen Internationalen Sommerfestival Hamburg findet nicht im veranstaltenden Produktionshaus Kampnagel statt. Sondern in den eigenen vier Wänden. Rimini Protokolls "The Walks" besteht aus sieben Spaziergängen, die sich über eine App abrufen lassen, und ein Spaziergang, "Aufbruch", beginnt in der privaten Wohnung der Zuschauerin. Ob man alles habe, wird man gefragt, Tasche, Notizblock, vielleicht ein bisschen Geld? Und dann los. "Jetzt raus hier!", treibt einen eine Kinderstimme an. Also geht man raus.

Spazierengehen mit Rimini Protokoll

Bevor Stefan Kaegi mit Rimini Protokoll das Dokumentartheater revolutionierte, entwickelte er mit seinem Gießener Studienkollegen Bernd Ernst unter dem Namen "Hygiene Heute" mehrere Audiowalks; damals aufsehenerregende Inszenierungen, die den Stadtraum zur Bühne einer Krimihandlung machten. Auf den ersten Blick führt "The Walks" also zurück in die späten Neunziger, allerdings hat sich das Prinzip Spazierengehen mittlerweile als halbwegs Corona-taugliche theatrale Form etabliert, und wenn Kaegi jetzt mit Rimini Protokoll das Publikum per Kopfhörer durch die Straßen lotst, dann weiß er natürlich um diese Entwicklung.

The Walks 1 280 c expander film uMit Podcasts von Rimini Protokoll geht's in "The Walks" raus auf die Straßen von Hamburg © Expander Film

Zumal es einen deutlichen Unterschied zwischen "The Walks" und den Hygiene-Heute-Audiowalks gibt: Stand damals eine narrative Struktur (das Verschwinden eines ominösen Herrn Kirchner) im Vordergrund, so geht es mittlerweile um das Gehen als theatrale Aktion per se. Handlung gibt es gar keine mehr, und auch die Stadt als Umgebung ist kulissenhaft geworden, hier eine Straße, dort eine Ampel, leere Zeichen.

In seinem auf die pure Bewegung zurückgeworfenen Minimalismus erinnert "The Walks" eher an die Arbeiten der Hamburger Gruppe Ligna (die ebenfalls beim Internationalen Sommerfestival eine neue Arbeit zeigen wird) als an die ausgeklügelten Stadtinszenierungen, die Kaegi und Ernst vor über 20 Jahren entwickelten. Was auch im Stück angelegt ist: Man hat zwar einzelne Fixpunkte, an denen die Wege starten, aber das sind im Grunde Nichtorte, "Supermarkt" oder "Friedhof", mit denen sich das Projekt in jeder beliebigen Stadt durchführen lässt.

Kleinformatig und unspezifisch

Auf der technischen Ebene besteht "The Walks" aus sieben Podcasts – man hört Anweisungen wie "Gehe einen Weg, der dir vertraut ist" oder "Suche eine Sitzgelegenheit" und erläuft sich so die Umgebung. Freilich wird man dabei sanft manipuliert: Der Musikeinsatz strukturiert die Bewegung, suggestive Rhythmen treiben den Schritt an, und wenn die Beats per Minute anziehen, geht man instinktiv schneller. Das erinnert dann doch an die "System Kirchner"-Touren von Hygiene Heute, nur dass einen solche Manipulationen damals in den Abgrund führten, während sie einen diesmal höchstens zum Nachdenken übers Spazierengehen verleiten.

The Walks 2 600 c expander film uGeführte Spaziergänge mittels Audioeinspielung wie "The Walks" gehören seit den Anfängen in den 1990ern zum Portfolio der Dokumentartheatergruppe Rimini Protokoll © Expander Film

Rimini Protokoll sind regelmäßige Gäste beim Internationalen Sommerfestival, meist mit aufwendigen Produktionen wie Situation Rooms oder Unheimliches Tal / Uncanny Valley. "The Walks" hingegen ist kleinformatig, klug, zeitgemäß, nicht unsympathisch. Aber letztlich doch ein wenig unspezifisch.

Orakelhaftes bei Kennedy/Selg

Was ebenfalls im Zuge der Pandemie einen Aufschwung erlebte, ist die Beschäftigung mit Virtual Reality im Theater. Susanne Kennedy und Markus Selg haben gemeinsam mit dem Digitaldesigner Rodrik Biersteker eine Art interaktiven VR-Film namens "I AM (VR)" entwickelt, in dem die Betrachterin eine Antwort auf die zentralen Fragen der Menschheit bekommt. Beziehungsweise: bekommen soll. Bevor sie nämlich würdig ist, einem allwissenden Orakel gegenüberzutreten, muss sie mehrere Räume durchwandern.

I Am VR 3 600 c Markus Selg and Rodrik Biersteker uIn "I Am (VR)" schwebt man virtuell zu einem Orakel, das mit Antworten geizt © Markus Selg and Rodrik Biersteker

Zu tun gibt es hier freilich nichts. Das ist der Knackpunkt von "I AM (VR)": Die im Virtuellen eigentlich unbegrenzten Interaktionsmöglichkeiten sind deutlich eingeschränkt, im Grunde darf man sich gerade mal entscheiden, welchen Raum man als nächstes betreten möchte (und selbst hier bekommt man manchmal schnöde beschieden, dass man noch nicht soweit sei und woanders suchen solle). Also schaut man sich eben ein wenig um, schwebt auf einer Art magischem Serviertablett durch die Szenerie und kommt am Ende tatsächlich zum Orakel. Das einem freilich die Antwort auf die Frage aller Fragen (in meinem Fall: "Will Happiness Find Me?", frei nach Fischli/Weiss) kalt verweigert, war ja klar.

Das Bedrohliche des Virtuellen

Inhaltlich bleibt die Erkenntnis von "I AM (VR)" also übersichtlich. Die Ausstattung der virtuellen Welt aber ist atemberaubend: Nicht nur, dass Kennedy, Selg und Biersteker die Möglichkeiten der Virtual Reality optimal ausnutzen, sie bauen auch immer wieder Widerhaken ein, die eine Ahnung davon vermitteln, dass in einer Welt aus Nullen und Einsen auch eine Bedrohung liegt.

I Am VR 600 c Markus Selg and Rodrik Biersteker uHimmelfahrt oder Höllentripp? Susanne Kennedy und Markus Selg führen Mitreisende durch ein Labyrinth künstlicher Welten © Markus Selg and Rodrik Biersteker

Die New-Age-Anmutung der Umgebung mag auf süßliche Weise beruhigend wirken, die Glätte und Sanftheit aller Bewegungen unkompliziert. Aber was sind das für dunkle Wolken, die sich drohend über einem auftürmen? Was wollen die gläsernen Drohnen, die einen wie elektronische Wespen umschwirren? Und weswegen scheinen auf dem Weg zum Orakel architektonische Zivilisationsruinen im Morast zu versinken? Bis zum Ende jedenfalls ist nicht klar, ob diese schillernde Arbeit nun eine digitale Himmelfahrt oder ein abgründiger Höllensturz sein will.

Konzertleckerbissen zum Auftakt

Abhishek Thapars Soundinstallation "Belastbar und sauber, dringend gesucht" beleuchtet die Servicegesellschaft in Zeiten von Corona. Man lässt sich an einen Tisch führen, kann aus vier Biografien wählen und bekommt daraufhin formvollendet einen Kopfhörer gereicht. Ich entscheide mich für die Geschichte von Anna: Die kommt als Au-Pair aus Osteuropa nach Hamburg, studiert halbwegs unmotiviert und landet irgendwann im Service, als Putzkraft und Küchenhilfe. Bis sie in einem Wutanfall aus ihrer Rolle ausbricht und eine Gesellschaft anklagt, die ihre Mitmenschen nur nach ihrer Funktionalität bewertet.

Feist 1500 Leslie Crisp uDie kanadische Indie-Ikone Feist kam zum Eröffnungskonzert des Sommerfestivals nach Hamburg © Leslie Crisp

"Belastbar und sauber, dringend gesucht" ist eine kleine Arbeit. Aber sie besticht durch Humor, politische Sprengkraft und mit dem Restaurant-Setting auch durch extremes Formbewusstsein. Dennoch stellt sie einen Kontrast dar zur eigentlichen Eröffnungspremiere, die traditionell großformatig daherkommt: "Multitudes", ein Projekt der kanadischen Musikerin Leslie Feist, das ursprünglich als szenisches Konzert angekündigt wurde.

Tatsächlich ist der Auftritt primär Konzert, der szenische Aspekt steht im Hintergrund, allerdings: ein extrem intimes Konzert. Wenn man einrechnet, dass Feist ein Superstar ist, dann ist ein Auftritt vor pandemiebedingt kleinem Publikum ein echtes Ereignis. Und gleichzeitig: ein wirklicher Auftritt, der den Star augenscheinlich emotional anfasst. Seit Pandemiebeginn sind Konzerte kaum mehr möglich, und in "Multitudes" manifestiert sich eine Sehnsucht nach Performance und Bühne, die den überaus heterogenen ersten Festivaltag dann irgendwie doch noch als programmatische Eröffnung des Sommerfestivals durchgehen lässt.

 

Internationales Sommerfestival
Kampnagel Hamburg

The Walks

von Rimini Protokoll
Text, Regie: Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel, Idee, Dramaturgie: Cornelius Puschke, App-Development: Steffen Klaue, Alexander Morosow, Sound / Komposition: Frank Böhle, Grafik: Ilona Marti, Produktionsleitung: Maitén Arns
Dauer: Sieben Spaziergänge à 16 bis 30 Minuten

I AM (VR)
von Susanne Kennedy und Markus Selg
Konzept und Design: Susanne Kennedy, Markus Selg, Rodrik Biersteker, Programming: Rodrik Biersteker, Visuelle Gestaltung: Markus Selg, Rodrik Biersteker, Sound Design und Komposition: Richard Janssen, Text: Susanne Kennedy, Dramaturgie: Tobias Staab, Stimmen: Susanne Kennedy, Ixchel Mendoza Hernandez, Frank Willens, Ibadet Ramadani, Avatare: Ixchel Mendoza Hernandez, Benjamin Radjaipour, Thomas Hauser, Kostüme: Teresa Vergho, Produktion: Ultraworld Productions, Management und Distribution: Something Great
Dauer: 35 Minuten, keine Pause

Belastbar und sauber, dringend gesucht
von Abhishek Thapar
Künstlerische Leitung: Abhishek Thapar, Dramaturgische Mitarbeit: Maria Rößler, Regieassistenz und Produktionsleitung: Clara Hanae Tolle, Visuelle Gestaltung: Himanshi Parmar, Sound Design, Komposition:Andi Otto
Dauer: 35 Minuten, keine Pause

Multitudes
von Leslie Feist
Konzept, Musik, Performance: Leslie Feist, Musiker: Todd Dahlhoff and Amir Yaghmai, Executive Producer:TO Live and International Summer Festival Kampnagel, Producers: Barbara Frum and Robbie Lackritz, Creative Producer: Mary Hickson, Produktionsdesign: Rob Sinclair, Lichtdesign: Rob Sinclair, Videoregie: Colby Richardson, Produktionsleitung: Richard Hagan, Tour-Manager: Jeremy Knowles, FOH-Audiotechniker: Mark Vreeken, Lichtregie: Louise Simpson, Monitor-Ingenieur/Audio System Tech: Ben Malone, Lichtassistenz: Yolanda Do, Video/Media Server Tech: Mark Singelis, Produktionsassistenz: Ian Borak, Backline Tech: Anna Morsett, Requisiten/Art Direction: Heather Goodchild
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.kampnagel.de



Kritikenrundschau

Für Peter Helling vom NDR (5.8.2021) gibt das Aufktaktkonzert von Feist den Ton des gesamten Sommerfestivals auf Kampnagel vor: "Dieses Festival will nah an der Gegenwart sein und klammert Ängste und Schmerz nicht aus. Feists Performance zwischen Konzert und Videokunstwerk wirkt beinahe wie eine private Jamsession auf der großen Bühne der Halle K6." Die Soundinstallation von Abhishek Thapar hat der Kritiker auch besucht und findet darin einen "Abend über Menschen im Hintergrund, jenseits der Scheinwerfer, jenseits der Komfortzonen. Küchen- und Reinigungskräfte, Pflegerinnen und Köchinnen", deren Geschichte "berührt."

 

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