Die Dreigroschenoper - Berliner Ensemble
Asche, Schweiß, gefrorenes Blut
von Janis El-Bira
Berlin, 13. August 2021. Wahrscheinlich ließe sich anhand der Berliner Produktionen der "Dreigroschenoper" immer auch etwas über den aktuellen Gemütszustand der großen Stadt ablesen. Schließlich attestierte schon Elias Canetti der Uraufführung 1928 am Schiffbauerdamm, Bertolt Brecht und Kurt Weill hätten mit ihr den "genauesten Ausdruck dieses Berlin" gefunden.
Traumhochzeit 2021
Achtzig Jahre später – um nur die greifbarere Vergangenheit anzurufen – da zeugten die Inszenierungen von Klaus Maria Brandauer (mit Tote Hosen-Campino im Admiralspalast) und Robert Wilson (sehr Wilson-haft am Berliner Ensemble) von Markenbildung und Widersinn einer selbsterklärten Weltmetropole. Immer ging es dabei um die Frage: Wen lässt man los auf dieses Stück, das im Ruf steht, nicht so wahnsinnig gut gealtert zu sein? Wen betrauen mit dieser notorischen Disparität von Text und Musik, mit jener Ironie, der es so bitterernst um die Sache ist?
Am Ort der Uraufführung wurde so gesehen jetzt zur Traumhochzeit geladen. Wer anders nämlich als Barrie Kosky, Intendant und Neuerfinder der Berliner Komischen Oper, Operettenexperte und leidenschaftlicher Schatzheber aus dem musikalischen Fundus der 1920er- und 1930er-Jahre, wer anders könnte besser für diese Neuinszenierung qualifiziert sein? Aber dann gehört zum Berliner Selbstverständnis des Jahres 2021 ja auch, dass man nichts Cooleres machen kann, als alle Erwartungen mit großer Geste zu unterlaufen. Und Kosky ist natürlich extrem cool.
Als gelte es, den passenden Ton erst einmal zu ertasten, lässt er Josefin Platt das Gesicht durch den Glitzervorhang stecken und sich wie ein angezählter Boxer in die ersten Takte der Moritat von Mackie Messer schleppen. Auch die Bühne von Rebecca Ringst, ein Klettergerüst als V-effektvolle Andeutung des städtischen Straßen- und Raumgeflechts, und die zunächst ganz in Schwarzweißgrau gehaltenen Kostüme von Dinah Ehm – all das will vor allem eines: kein Spektakel machen.
Aus Wohlfühlsphären stürzen
Wer Zwanzigerjahre-Glitzer sucht, wird ihn an diesem Abend nicht finden. Kein Babylon ist Koskys Bühnen-London, sondern ein zu Beginn kühles, später immer stärker belastetes Netzwerk, das seine Protagonisten in Glück und Elend aufeinander verweist. Der erste echte Schaueffekt der Inszenierung lässt dann auch prompt das Blut in den Adern gefrieren: Gerade noch hatte die Band unter Leitung von Adam Benzwi ihren vollumfänglich spelunkentauglichen, nur um wenige Fettpölsterchen aufromantisierten Weill-Sound ausgestellt, da entreißt Nico Holonics' Mackie dem Dirigenten die Partitur – und zündet sie an. Fünf Jahre nach der Uraufführung der "Dreigroschenoper" verbrannten die Nazis auch die Werke Brechts. Das lässt sofort aus allen Wohlfühlsphären stürzen, fällt aber klugerweise selbst nicht aus der Handlung.
Mit ihrem zündelnden Mackie haben Kosky und Holonics überhaupt eine Interpretation dieser Figur vorgelegt, wie sie kaum Vorgänger haben dürfte. Ein Nachtschattengewächs mit schwarzumrandeten Augen und dicken Ringen an den Fingern, offenkundig dauerdruff in dürftiger Zeit. Holonics spielt ihn als Alphatier, zerstörerisch und charmierend, irre und witzig, speichelnd und schwitzend. Wäre er ein Artist, würde dieser Mackie sich vor dem Drahtseilakt noch die Füße mit Speck einreiben, so fürchterlich und schön ist er. Man wird Nico Holonics künftig mit dieser Rolle in Verbindung bringen, wie er sich verausgabt, ob physisch auf dem "Kanonenboot" mit Tiger-Brown (Kathrin Wehlisch) oder sich in höchster Erklärungsnot windend gegenüber "seinen" Frauen. Das funktioniert, weil Kosky diesen Mackie als Zentrum in ein Ensemble setzt, das den psychologisch einfühlenden Zugang mitträgt.
Die Figuren in den Songs ausmalen
Das geht zwar mit einiger Lust gegen Brecht und kommt gerade in der zweiten Hälfte an seine klamaukigen Grenzen, wenn die intrinsischen Motivationen der Figuren gegenüber deren lehrstückhaften Funktionen im Stück zunehmend weniger plausibel erscheinen. Dafür aber menschelt es hier so gewaltig, dass Brechts Figuren plötzlich wie aller ironischen Distanz entkleidet dastehen.
Man erlebt eine moralisch hochflexible Polly Peachum (Cynthia Micas), die ins Zaudern kommt, bevor sie in ihrer Ballade die todbringenden Piratenschiffe losschickt, und in Lucy (Laura Balzer) eine ebenbürtige Feind-Freundin findet. Entdeckt in Mackie und Jenny (Bettina Hoppe mit anrührender Zartheit) ein Ex-Liebespaar, das sich biegt vor Traurigkeit in der gemeinsamen Erinnerung an das kleine Glück. Und man leidet mit den Peachums, die Tilo Nest und Constanze Becker als erotisch blockierte Spießer-Gangster anlegen, bei denen vor wie hinter der Haustür in erster Linie die Peitsche regiert. Kosky lässt sein Ensemble die Figuren in den Songs ausmalen, die gestaltet und erzählt, fast nie von der Rampe weggesungen werden. Er liebt Weills Musik sicherlich mehr als Brechts Texte, trotz aller Lebendigkeit, die er in jenen findet
So tickt die Uhr der Inszenierung nicht nach dem Schlag der Zwanzigerjahre, weder dieser noch der letzten, sondern will eindeutig in Richtung Zeitlosigkeit. Das Politische steckt in dieser "Dreigroschenoper" fest in den Köpfen, Knochen und zwischen den Schenkeln. Doch Schweiß, Lachen und Tränen allein bilden eben keine politische Idee aus. Hier und heute mag das manchen zu heiß gefühlt und zu wenig kühl gedacht erscheinen. Ein paar Buhs für den Regisseur im überwiegend großen Jubel deuteten das an. Aber das Berliner Ensemble hat wieder eine "Dreigroschenoper", in der von denen im Dunkeln, ihrem Sein und Bewusstsein, eine ganze Menge zu sehen ist.
Die Dreigroschenoper
von Bertolt Brecht mit Musik von Kurt Weill
Regie: Barrie Kosky, Musikalische Leitung: Adam Benzwi, Bühne: Rebecca Ringst, Kostüme: Dinah Ehm, Licht: Ulrich Eh, Tongestaltung: Holger Schwank, Dramaturgie: Sibylle Baschung.
Mit: Tilo Nest, Constanze Becker, Cynthia Micas, Nico Holonics, Kathrin Wehlisch, Laura Balzer, Bettina Hoppe, Josefin Platt, Heidrun Schug, Julia Berger, Nico Went, Julie Wolff, Nicky Wuchinger / Tobias Bieri, Dennis Jankowiak, Denis Riffel, Teresa Scherhar. Orchester: Adam Benzwi / Levi Hammer, James Scannell, Doris Decker, Vít Polák, Otwin Zipp, Stephan Genze, Ralf Templin.
Premiere am 13. August 2021
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.berliner-ensemble.de
"Nicht ohne weiteres beantworten" lasse sich nach dieser hocherwarteten Premiere "die nicht unwesentliche Frage, was jetzt diese im sozialen Milieu von Verbrechen und Prostitution spielende und dabei für das Publikum so herrlich anschlussfähige, kleinbürgerliche Drama mit der Gegenwart zu tun haben könnte", schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (online am 14.8.2021). Mit dem nackten Bühnenbild von Rebecca Ringst trage die Inszenierung ihren Willen zu zeitloser Modernität vor sich her. "Das Hauptinteresse scheint bei dem Opernregisseur weniger im Schauspielerischen als im Musikalischen gelegen zu haben." Das siebenköpfige Orchester im Graben verbreitete viel gute Laune und scheine sich zwischenzeitlich mindestens zu verdoppeln. "Aber vielleicht liegt es an den Mikroports, dass gesanglich wenig Vielfalt, dafür aber eine durchgehende Verhaltenheit zu vernehmen ist."
Auf eine junge Truppe setze Regisseur Barrie Kosky bei dieser Inszenierung, schreibt Rüdiger Schaper im Tagesspiegel (14.8.2021). Auch findet der Rezensent, dass Kosky "Tempo mache", den Klassiker "ironisiere" und eine Inszenierung der starken Frauen zeige. Doch trotz Lob für eine kreative, körperlich herausfordernde Bühne und die Kostüme ("großstädtisch" sei ihre Wirkung) ist der Rezensent final nicht ganz zufrieden mit dieser Dreigroschenoper: "Man sehnt sich dann doch nach Klarheit und Schärfe", meint er schlusssendlich und sieht eine Arbeit, in der das parodistische Element der Textvorlage für bare Münze genommen werde.
"Kein Glotzen, keene Romantik. Dafür wird gegendert", fasst Manuel Brug in der WELT (14.8.2021) den Abend zusammen. Die "längst schale" Brechtsche Moral werde mitunter "an der Rampe" ausgestellt, findet der wenig begeisterte Rezensent, dessen Schlussurteil dann auch eher lakonisch ausfällt: "Von wenig prominenten Darstellern professionell und botschaftslos musicalisiert. Das wird laufen."
"Zwischen Operette und Musical bewegt sich denn auch der Abend am BE, die Schauspieler sprechen und singen abwechselnd - solo, im Duett, im Chor und nehmen dabei auch mal den manierierten Gesang der klassischen Oper augenzwinkernd auf die Schippe", berichtet Rezensentin Cora Knoblauch im rbb (14.8.2021) erfreut. Koskys Inszenierung sei "beinahe selbstironisch". Das Premierenpublikum habe für die Regie einige Buhrufe übrig, dies sei allerdings ganz anders bei Band und Schauspieler:innen-Ensemble. Ein Eindruck, den die Rezensentin teilt. Sie schließt mit einer Prognose: "Die Kosky'sche Neuauflage der Dreigroschenoper wird dem BE, genau wie damals Ende der 1920er-Jahre, einen neuen Kassenschlager bescheren."
Mehr Posie aus der Musik und den Texten herauszuholen, das sei Barrie Kosky "gelungen", sagt André Mumot im Deutschlandfunk Kultur (13.8.2021). Es sei "vor allen Dingen ein musikalischer Abend", aber das Stück "vermittelt seine Botschaften ziemlich deutlich – auch in dieser Inszenierung". Dennoch sei das ein Abend, der sich "ganz als Komödie" definiere, "unterhalten" wolle und die "große Show" anstrebe – was er auch erreiche. Zu sehen sei ein "unglaublich interessantes, starkes Ensemble", das den traditionellen Brecht-Ton bewusst unterlaufe, findet der Kritiker – und prognostiziert der Inszenierung, ein "ziemlicher Hit" zu werden.
Eine "bunte Revue", allerdings "etwas spröder als von Kosky gewohnt", schreibt Helmut Mauró in der Süddeutschen Zeitung (15.8.2021). Die Inszenierung lebe "von den hervorragenden Darstellern", dem "virtuosen" Nico Holonics, "dämmere" aber "streckenweise inmitten bunter Lichter und perfekter Kostüme vor sich hin". Es entstehe der Eindruck, Kosky wolle "anlässlich des Jubiläums der Uraufführung vor 100 Jahren [sic] das Werk noch einmal ganz ernst nehmen und das Schwere leicht machen". Der Regisseur suche "muntere Unterhaltung um beinahe jeden Preis". Es sei aber eine "kaum zu unterschätzende Gefahr", dass "auch umgekehrt das Leichte schwer werden kann".
"Wie im Höhenflug" vergehen diese drei Stunden, ist Simon Strauß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.8.2021) begeistert. Kosky und das "phänomenale Schauspielensemble" schenkten "der Theaterhauptstadt einen neuen, rasanten Renner". Brechts Parabeln hätten an diesem Abend "nichts Verstaubtes, nichts Volkspädagogisches an sich, sondern gewinnen eine neue Verführungskraft, die sich ganz aus der Großzügigkeit ihrer Gestaltung ergibt". Zu sehen sei eine "ausgelassene Feier des Lebensspiels", eine "Rückeroberung des Bühnenraums", auf die "zu Recht so lange gewartet" werden musste.
"Das ist populäres Theater im allerbesten Sinn, drei Stunden lang Kurzweil und Wiedererkennen eines lieben Klassikers", schreibt Thomas E. Schmidt von der Zeit (18.08.2021). "Der Ausdruck ist einfach und sinnfällig, die Regie arte povera, wenn man so will." Viel werde an der Rampe gesprochen und gesungen, die ganz große Schauspielkunst finde also nicht statt. Den Hauptdarsteller hebt Schmidt dennoch hervor: "Nico Holonics ist ein Riesen-Unterhaltungstalent, ein natürlicher Performer, er ist ein energetischer, hasenzähniger Wirbelwird, komisch und dämonisch zugleich."
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Musikalisch ist die „Dreigroschenoper“ natürlich makellos, dafür sorgt schon Adam Benzwi als langjähriger Bühnen-Partner von Kosky. Auch die schauspielerischen Leistungen haben jeden Applaus verdient. Der Abend ist eine solide, spannungsarme Inszenierung eines oft gesehenen Klassikers. Bei jeder anderen Regisseurin oder jedem anderen Regisseur könnte man schnell einen Haken dahinter machen und es als routinierte Arbeit in das Repertoire einsortieren. Aber da mit Kosky schon ein Star-Regisseur für die Spielzeit-Eröffnung eingekauft wurde, muss man schon fragen, wo der Esprit und der Ideenreichtum waren, die Koskys Inszenierungen auszeichnen.
Kosky ist auch dafür bekannt, den queeren Aspekt in seinen Inszenierungen zu betonen, bis auf eine Cross-Gender-Besetzung von Kathrin Wehlisch als korrupter Polizeichef Tiger-Brown und den Lidschatten und Kajal-Strich von Nico Holonics, der als Mackie Messer vor allem auf der Zielgeraden in Gefahr gerät, die „Dreigroschenoper“ zur Solo-Show zu machen, ist davon wenig zu spüren und zu sehen.
Bis auf ein Solo von Constanze Becker mit der „Ballade von der sexuellen Hörigkeit“ als Mrs Peachum hat diese „Dreigroschenoper“-Inszenierung wenig Denk- und Erinnerungswürdiges. Die Operetten-Maschinerie schnurrt reibungslos, aber der Funke springt nicht über. Zu farblos und routiniert bleibt diese Kosky-Inszenierung. Hatte er zu viel Respekt vor dem traditionsreichen Ort oder Angst vor den Brecht-Erben, die schon mehrfach einen Rechtsstreit anzettelten, wenn ihnen ein Regie-Ansatz missfiel?
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/14/die-dreigroschenoper-barrie-kosky-berliner-ensemble-kritik/
Die Dreigroschenoper muss anscheindend "delivert" werden. Lange Akzentuierungspausen vor den ausgemachten Pointen, betont einsames Klatschen für die überschwänglicheren Reden der Figuren. Zwischen der Seeräuber Jenny und dem "ich mag das garnicht bei dir, diese Verstellerei" muss ersteinmal in einem langen Schweigen der frenetische Applaus des Publikums, das die Urauffführung selbstwirksam nachevented, verdaut werden. Münz Matthias und Co sitzen im Orchstergraben, sagen aber nichts. Billy Logan singen sie dann aber doch als vier gestapelte weiß geschminkte Revueköpfe - verschwinden aber Gott sei Dank wieder. Die meisten Zwischenspiele sind auf 10% gekürzt, an diesem abend geht es um die Musik.
Der Running-Gag des Abends ist: Wir kennens ja. Haha, hier ist die Betonung anders, wo früher gesungen wird wird jetzt manchmal gesprochen. Wo gekrächzt wurde, wird jetzt geflötet. Zwangsläufig komisch antiklimaktisch und insgesamt ohne Höhepunkte. Die Choräle lipsyncht Mackie, ja i know, auch ihr kennt alles schon. Alles ist irgendwie witzig, wo man sich früher einen Reim auf den Kitsch machen musste, wird bei Kosky nicht mehr aufrichtig gekitscht sondern persifliert. Aber was heißt das eigentlich? Das Stück stellt wichtige Fragen an den Zuschauer: Ist die Dreigroschenoper einfach nur funny?
Obwohl, wenn ich mich richtig erinnere, kein Babylon Berlin 2 und keine Revueshow geplant war verlässt sich die Inszenierung auf deren Effekte. Es wird spannungsfördernd gehi-hated und auch das berühmt berüchtigte Kanonenlied zur angedeuteten Hintergrundatmosphäre.
Mit Revue zurück zur Delivery: Wo der hohe Opernton alleine nicht klarmachen kann, das es in der Dreigroschenoper mitunter (ACHTUNG) ironisch zugeht, geht dieser selbst in ein "Wir-setzen-noch-was-drauf" Tiegerbrüllen der Tiger Brown Tochter Lucy über, die finde ich sehr schön spielt. Im Gegensatz zu Peachum und Polly, die irgendwie über weite teile hibbelig realistisch spielen. Alles locker rausgeschüttelt aber trotzdem ergriffen vom eigenen Text (-> Beine und Arme viel bewegen).
Peachum mitunter auch als Zirkusdirektor mit Peitsche, Zylinder und Akzent(?). Irgendwo im Bild stehen ab und zu die Polizisten/ Callboys/ Bandenmitglieder, dürfen was aufheben oder etwas synchron amchen. Die Sprechrollen waren schon vergeben - Sorry 8a.
Auf die vollen geht beim Singen keiner, die Effekte sind zu geplant. Haha, hier war schon wieder etwas anders. Oh, ein Tremolo (Kitsch & Lachsignal).
Die Übergänge können nicht wirklich klappen, weil die meisten "Stichworte" und Handlungszusammenhänge rausgekürzt sind. Behelfs- und Bühnenshowmäßig geben die Figuren Einsätze per Fingerzeig: "Kick it, Adam!" (BE Seite: "Dirigat". Wird auch Operhaft beklatscht beim Graben betreten (Obwohl Renteranteil wie üblich!?)) Die Chöre werden im Gleichschritt vorgetragen, die Polizisten sind dystopisch gepanzert. Aber dankbarerweise ohne tieferen Sinn.
Endet ein Lied auf T, wiederholen wir das T, mehrmals - und dann Bitte nießen. Ab und zu über die Kette stolpern. Der Chefregisseur der komischen Oper erlaubt sich seine Freiheiten.
https://www.rbb-online.de/rbbkultur-magazin/reportagen/honey-and-nuts-wie-barrie-kosky-die-dreigroschenoper-inszeniert.html
Ich ginge gern hin, wenn ich wüsste, worauf die Begeisterung gründet.
Und woran misst man "Weltklasse"?
(Orthografie ist auch eine schöne Sache.)
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Für mich heißt Weltklasse, dass das Stück wirklich berührt, so wie es gespielt wird. Es gab standing ovations. Das ganze Ensemble und alle Musiker haben uns mitgerissen und nachdenklich gemacht. Ich bin beruflich weltweit unterwegs und gehe, wo es geht, ins Theater. Koskys Dreigroschenoper wird mir immer im Gedächtnis bleiben. Also warum in Pankow bleiben, oder wo auch immer? Ticket kaufen und auf ins Berliner Ensemble.
(Anmerkung der Redaktion: dieser Kommentar stammt von der selben IP-Adresse wie der vorangegangene. Auch der nächste "Fan" Kommentar hat diese IP-Adresse.)
Ich danke Ihnen für die Antwort. Eine Antwort ist heutzutage eine Kostbarkeit. Ich kann Ihnen nicht auf englisch antworten, da ich die englische Sprache nicht beherrsche.
Ich bin nicht mehr in dem Alter, in dem man weltweit unterwegs ist, ich bin aber durchaus Ihrer Meinung: Man sollte nicht in Pankow (oder wo auch immer) hängen bleiben mit seinen Kunsterfahrungen. Also halte ich dagegen:
Ich kenne beispielsweise die Inszenierung der "Dreigroschenoper" am Berliner Ensemble von 1960 (unter Erich Engel), und ich kenne mehrere Inszenierungen von Herrn Kosky. Und die Meinungen über die neue "Dreigroschenoper" gehen - wie man auch oben lesen kann - sehr auseinander.
Ich nehme Ihren Anstoß beim Worte und werde mich um Karten bemühen.
Gestatten Sie trotzdem die Frage: Können Sie noch genauer sagen, was sie und warum berührt hat und worüber Sie nachdenklich geworden sind?
(Ich kann standing ovations nicht für ein Kriterium halten.)
(Und noch: Ich habe selbst viele Jahre am Theater gearbeitet und interessiere mich sehr für die Meinung der Zuschauerinnen und Zuschauer,
und leider ist es nicht üblich die Platznachbarin oder den Platznachbarn
nach einer Vorstellung zu befragen.)
Mit freundlichen Grüßen
Peter Ibrik
Berlin-Pankow
Ich hatte zum Beispiel eine österreichische Deutschlehrerin neben mir sitzen, die noch nie eine Dreigroschenoper zuvor inszeniert gesehen hatte, aber mit vielen Klassen Brecht gelesen hatte. Sie wird beim nächsten Berlinbesuch sicher wieder das BE aufsuchen.
1960 war ich noch nicht geboren.
Mich berührt autentisches, leises und lautes Spiel. Gesang der unter die Haut geht. Pointen, die unter die sitzen, angedeutetes und ausgespieltes Szenisches. Lachen das im Hals stecken bleibt. Tilo Nest mit Texten, die wohl bekannt sind und Nachdenklich machen...Constanze Becker wie immer stark, Cynthia Micas, schon aufgefallen im Gorki, dann in München, Zürich, sie besticht mit Schönheit, Talent und Handwerk, eine seltene Kombination und dann noch Mut sich auch hässlich zu zeigen. Hervorragend, diese Polly: modern interpretiert und Zeichen setzend.
Nico Holonics hervorragend als Mackie Messer, wie es ihn so noch nicht gab. Genauso wie Kathrin Wehlisch, Brown spielt. Möchte sagen Charlie Chaplin hätte Vergnügen empfunden wie sie die Zwischentöne trifft sie ist eine Freude und auch das Unaussprechbare wird fühlbar, bitte fragen sie jetzt nicht warum:)
Laura Balzer lässt kurz aufatmen mit weniger ernst nehmbaren und doch ja immer noch existierenden Eifersuchtsduel mit Polly, beide auch im Zusammenspiel mitreißend. Amüsant.
Bettina Hoppe ist wie immer grandios und lässt die Spelunkenjenny vielschichtig fühlbar werden. Der Mond über Soho scheint durch Josefine Platt, durch das gesammte Ensemble und durch das Orchester hell und klar, warum? Ja weil es ein fantastisches, spürbares Miteinander gibt Dank Allen...Kosky und Benswi haben einen super Job gemacht und Oliver Reese hat ein gutes Team zusammen getrommelt.
Thank you all...
"...
CAMILLE. Ich sage euch, wenn sie nicht alles in hölzernen Kopien bekommen, verzettelt in Theatern, Konzerten und Kunstausstellungen, so haben sie weder Augen noch Ohren dafür. Schnitzt einer eine Marionette, wo man den Strick hereinhängen sieht, an dem sie gezerrt wird und deren Gelenke bei jedem Schritt in fünffüßigen Jamben krachen – welch ein Charakter, welche Konsequenz! Nimmt einer ein Gefühlchen, eine Sentenz, einen Begriff, und zieht ihm Rock und Hosen an, macht ihm Hände und Füße, färbt ihm das Gesicht und läßt das Ding sich drei Akte hindurch herumquälen, bis es sich zuletzt verheiratet oder sich totschießt – ein Ideal! Fiedelt einer eine Oper, welche das Schweben und Senken im menschlichen Gemüt wiedergibt wie eine Tonpfeife mit Wasser die Nachtigall – ach, die Kunst!
Setzt die Leute aus dem Theater auf die Gasse: die erbärmliche Wirklichkeit! – Sie vergessen ihren Herrgott über seinen schlechten Kopisten. Von der Schöpfung, die glühend, brausend und leuchtend, um und in ihnen, sich jeden Augenblick neu gebiert, hören und sehen sie nichts. Sie gehen ins Theater, lesen Gedichte und Romane, schneiden den Fratzen darin die Gesichter nach und sagen zu Gottes Geschöpfen: wie gewöhnlich! – Die Griechen wußten, was sie sagten, wenn sie erzählten, Pygmalions Statue sei wohl lebendig geworden, habe aber keine Kinder bekommen.
DANTON. Und die Künstler gehn mit der Natur um wie David, der im September die Gemordeten, wie sie aus der Force auf die Gasse geworfen wurden, kaltblütig zeichnete und sagte: ich erhasche die letzten Zuckungen des Lebens in diesen Bösewichtern.
..."
Johann Wolfgang von Goethe(1749-1832),der als eine Art hybrider Kulturminister(Adieu Frau Grütters!) am Weimarer Hof involviert war, schrieb sein 1790 uraufgeführtes Schauspiel Torquato Tasso auf der Basis eigener Erfahrungen: Die Unvereinbarkeit von Kunst und Macht behandelt er so, dass unter verschiedenen politischen Systemen, jede Zeit sich darin wieder erkennen könnte. Dem Anspruch des Künstlers „Erlaubt ist, was gefällt“ wird der Widerspruch „Erlaubt ist, was sich ziemt“ entgegengesetzt.
Was ziemt sich, wenn alles erlaubt wäre?