Alles aus dem Häuschen

von Andreas Wilink

Bochum, 15. August 2021. Wo anfangen bei so viel Avantgarde, angesammelt in einem Jahrhundert? Bei der Autorin! Die lässt einen nicht in Ruhe und aus den Augen. Foto-Porträts von Leonora Carrington bannen durch den Blick einer Künstlerinnen-Sphinx, die auf ihren Gemälden eine beunruhigend symbolische Symbiose von Mensch und Tier entwarf. "Mit allen Augen sieht die Kreatur das Offene", beginnt Rilke die Achte seiner Duineser Elegien, die erschienen sind, als Carrington gerade geboren war. Erst vor zehn Jahren, 2011, starb sie betagt in Mexiko.

Schrecknisse der Sexualität 

Die höhere Tochter aus Lancashire war Max Ernsts "Windsbraut" für ein paar kurze Jahre und Hohepriesterin surrealistisch 'verrückter' Kunstideologie. In ihrem dramatischen Schlacht-"Fest des Lammes" von 1940 verbindet Carrington Keltisches und Mexikanisches, die Gothic Novel mit der Satire, Freuds Seelenkunde mit dem Feminismus und einer Parabel auf das Monströse des Faschismus, morbiden Horror und emanzipatorischen Freisinn, der sich in der Hauptfigur Theodora personifiziert. Sie wird mit dem Hundsfott Philipp als Ehemann nicht froh, ist dessen Halbbruder, dem Wolfsmenschen Jeremy, verfallen und vermag sich aus eigenem Willen nicht zu lösen aus dem Bild, das der sich von ihr macht.

Bergbaumuseum DattelnKultisches auch auf der Bühne von Nina Wetzel, Charlotte Spichalsky und Anneke Goertz © Volker Beushausen

Carringtons Stück, in dem sich autobiografische Leiderfahrung und Magischer Realismus paaren, ist eine bissige Rache-Fantasie und giftige Groteske. Elfriede Jelineks Libretto für Olga Neuwirths Oper übersetzt es mit "Bählamms Fest". Das Haus der Mrs. Carnis, ihrer Söhne und Schwiegertöchter wird darin als "Gruft und Katakombe" bezeichnet. Es regiert der Ausnahmezustand, den Killerinstinkt, Lüsternheit und Herdentrieb herbeiführen. Schrecknisse der Sexualität verkleiden sich bestialisch, böses Blut fließt und wird gestillt. Menschen und zu Hundeexistenzen verwandelte Humanoiden reiben Haut an Fell.

Es trillert, schnalzt und rauscht

Neuwirths Szenenfolge in 13 Bildern – die Komponistin spricht von Animation Opera und Aufgebrochenem Musiktheater – wurde 1999 für die Wiener Festwochen uraufgeführt. In der Jahrhunderthalle Bochum machen sich, seitlich platziert unter den Eisenverstrebungen, Sylvain Cambreling und das formidable Ensemble Modern ans Werk, in das sich elektronischer Sound, Tier-, Natur- und Zivilisationsgeräusche mit Surround-Klang mischen. Es ist, als sei in eine Opernpartitur von Richard Strauss und in eine Mahler-Sinfonie der gewitzte Schreck und schillernde Schock gefahren: Es trillert, klirrt und schnalzt, rauscht wie bei der Sendersuche am Radio; mal trompetet die Musik zur Attacke und imitiert die Feuerwehrsirene, mal walzert sie in einen Dreivierteltakt und ruft das Geblök leidender Lämmer auf.

Hier plötzlich schimmert eine zart ironische Violine wie von Kurt Weill heraus, dort macht die Tuba Dampf. Dazu die Stimmen der exquisiten Solisten: die Theodora der Katrien Baerts, die in ihrer Mädchenhaftigkeit wie in einem Kinderreim verfangen scheint; ein Schüttel-Lachen kommt aus anderer Kehle; Hilary Summers als regierende Großfürstin Mrs. Carnis in Fantasialand; der stupende Countertenor Andrew Watts als Jeremy, der den Widerspruch wohlklingenden Geheuls auflöst. Und der selbst schon zum vitalen Theaterrequisit gewordene Graham F. Valentine (wie Watts übrigens bereits in der Uraufführung dabei) kläfft sich in den Hundemenschen Henry mit Pelzstola hinein.

The Welcoming Party_c_V.Beushausen_RMöblierte Psyche, pulsierender Organismus © Volker Beushausen

Was die Akustik bietet, versucht das Visuelle noch zu überbieten. Das Haus in "Bählamms Fest" existiert als möblierte Psyche. Solch ein Gebäude hat am "Untergang des Hauses Usher" Anteil, womit die Ruhrtriennale ihre Saison tags zuvor begann. Einen Abend und eine Festivalstadt weiter, von Gladbeck nach Bochum, sehen wir wiederum ein Gespensterhaus, das wie Norman Bates' Villa in Hitchcocks "Psycho" ein pulsierender Organismus zu sein scheint. Für das irische Regie-Team Dead Centre (Bush Moukarzel, Ben Kidd) wird es – nur eine Handbreit groß in der weiten Jahrhunderthalle – auf ein mit Grasnarben bewachsenes Fleckchen Erde samt Tümpel gepflanzt – und dreht sich mitten in Finsterwalde, wo Spukgestalten durch Nebel waten.

Der Ladevorgang hemmt

Die aufklappbare Hütte zeigt ein Wohnzimmer mit Couchgarnitur und Mrs. Carnis im Rollstuhl und rosa Gewand wie eine Figur aus einem Robert-Aldrich-Film. Innen- und Außenwände müssen dem Farb- und Bildersturm der Video-Projektionen Stand halten. Die Handelnden werden dupliziert, multipliziert oder altern per Morphing; auf der Leinwand blutet sich ein geköpfter Toter aus, Wölfe funkeln mit ihren Augen-Lichtern, Hunde sammeln sich zum Schatten-Rudel; abstrakt flimmernde Störbilder zeigen spaßhaft an, dass der Ladevorgang hemmt.

Der verspielte, leider auch leicht angefaulte Budenzauber, der des weiteren noch verkleinerte Comichelden und ein anarchisch zotteliges Tier-Quartett für seine Zoogeschichte zähmt, will buchstäblich ins Bockshorn jagen. Allein, das wäre nicht genug und darf nicht alles sein. Ist es auch nicht. Für die unmögliche Liebesgeschichte von Theodora und Jeremy stoppt die Maschinerie. Still und leise wie eine Eiszeit kommt es über das Paar und macht uns frösteln. Jeremy, der Un-Mensch, verlässt Theodora. Die Frau, eingefroren in Ewigkeit. Liebe ist kälter als das Leben. 

 

Bählamms Fest
von Olga Neuwirth nach Leonara Carrington, Libretto: Elfriede Jelinek
Regie: Dead Centre (Bush Moukarzel, Ben Kidd), Bühne & Kostüme: Nina Wetzel, Charlotte Spichalsky, Anneke Goertz, Video: Jack Phelan, Lichtdesign: Patrick Fuchs, Stephen Dodd, Choreografie: Anne-Lise Brevers, künstlerische Mitarbeit: Olivia Ancona, Dramaturgie: Barbara Eckle. 
Musikalische Leitung: Sylvain Cambreling, Ensemble Modern, Solisten des Knabenchores der Chorakademie Dortmund; Theremin Vox: Lydia Kavina, Live Electronic: José Miguel Fernandez, Markus Noisternig, Manul Poletti, Norbert Ommer.
Mit: Katrien Baerts, Hilary Summers, Dietrich Henschel, Andrew Watts, Marcel Beekman, Gloria Rehm, Linsey Coppens, Graham F. Valentine, Pierfrancesco Vicinanza, Yen-Chu Ku, Noemi De Rosa, Ya-Chin Huang, Minju Kim, Jihee Kim, Yi-An Chen, Sara Koluchova, Jan Chris Pollert, Sevak Avagyan.
Premiere am 15. August 2021
Dauer: 1 Stunde, 40 Minuten

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Olga Neu­wirths Stück ist ei­n pan­dä­mo­ni­scher Klang­raum vol­ler Zi­ta­te, Ge­räu­sche und mu­si­ka­li­scher Fund­stü­cke, in dem das Frem­de und das Ver­trau­te, Er­fül­lung und Ka­ta­stro­phe, un­mit­tel­bar bei­ein­an­der­lie­gen, schreibt Julia Spinola in der Süddeutschen Zeitung (17.8.2021). "Dead Cent­re treibt das sur­rea­le Spiel mit Iden­ti­tä­ten und Ver­viel­fäl­ti­gun­gen op­tisch sug­ges­tiv wei­ter und wi­der­steht da­bei glück­lich der Ver­su­chung, dem Stück ei­ne Deu­tung auf­zu­drü­cken, die es nur re­du­zie­ren könn­te."

"Trotz aller musikalischer Höchstleistung: So richtig gefangen nimmt einen dieses 'Bählamms Fest' nicht", so Torsten Möller im Deutschlandfunk (16.8.2021). "Der nicht mehr als freundliche Applaus erklärt sich weniger durch einen fehlenden Handlungsstrang. Eher ist es die Opulenz und fehlende Stringenz, die zunehmend zum Problem wird." Schon die psychopathologische Vorlage von Leonora Carrington sei komplex genug, erfordert feinste Figurenzeichnung. "Kommen eine sperrige Musik dazu, viele Video-Einblendungen, auch der unübersehbare Aktualisierungswunsch des Stoffes, dann gerät das Subtile ins Hintertreffen."

Die 13 Bilder der Oper von Olga Neuwirth seien "allesamt beeindruckende Szenen über den immerwährenden und nicht selten vergeblichen Kampf, aus der Opferrolle heraus zu kommen", so Peter Jungblut im BR (16.8.2021). Dead Centre inszenierten mit "enormem technischen Aufwand", auf der Drehbühne entstehe ein "surrealer Bilderstrom, an dem Max Ernst seine helle Freude gehabt hätte". Das Fazit des Kritikers: "Wer sich drauf einlassen konnte, ging auf einen anstrengenden, aber lohnenden Trip durchs Unterbewusstsein, wie Rotkäppchen auf Speed."

"Wenn ich so ein völlig groteskes Stück habe und dann noch groteske Bilder draufsetze und überhaupt nicht fokussiere, dann wirkt das irgendwie beliebig und langweilig", winkt Stefan Keim in "Scala“ auf WDR 5 (16.8.2021) angesichts der durchaus opulenten Inszenierung ab.

"Alles in allem – ein schaurig (vielleicht ein wenig zu) schöner Abend, der an diesen Ort und in unsere Zeit passt!", resümiert Joachim Lange im Standard (20.8.2021). "Es ist über 13 Bilder eine Reise in ein alptraumhaftes Zwischenreich. Mit Wolfs- und Hundegeheul und Nebelwallen. Mit tanzende Schafen, die wie kopflose Gespenster aussehen. Mit uniformierten Hundepolizisten auf allen Vieren. Und mit einer schrägen Jeder-gegen-jeden-Familie. So verschwimmen die Grenzen zwischen Schein und Wirklichkeit, Vergangenheit und Gegenwart, Lebenden und Toten und auch die zwischen Mensch und Tier."

Kommentare  
Bählamms Fest, Ruhrtriennale: Warum?
Es wäre vielleicht gut, wenn der Rezensent nicht nur wolkig "hätte, könnte und sollte" beschreiben, sondern auch einmal Position beziehen würde.
Der Abend war für mich verschenkt. Frau Jelinek hat aus der Vorlage einen Text zusammen geschustert, dessen Oberflächlichkeit jeden Lore-Roman als Weltliteratur erscheinen läßt. Eine Literatur-Nobelpreisträgerin hätte ich als Autorin dahinter zuletzt vermutet.
Die Musik von Frau Neuwirth ist langweilig und aus der Zeit gefallen. Was Bernd Alois Zimmermann mit seinen Soldaten einst auf der Höhe der Zeit als kraftvolle Avantgarde komponiert hatte, ertönt heute nur noch als müder Aufguß einer Klangvorstellung, die es bereits vor mehr als 50 Jahren gab. Wer würde heute ernsthaft eine CD im Stil des legendären Weißen Albums der Beatles herausbringen und dann ernsthaft behaupten, Musik für das 21. Jahrhundert zu machen?
Die schauspielerische Leistung der Sänger war unterirdisch; ihr Gesang entzieht sich ob der mangelnden Qualität der Partitur der Beurteilung. Die Regie hatte außer ein paar Effekten aus dem Handbuch des Horror-Genres (Nonnen im Nebel im Halbkreis um ein Haus im Nebel) und dümmlichen Witzen (Polizisten gebärden sich wie verspielte Schoßhunde) auch nichts zu bieten.
Von den großen inhaltlichen Themen und Fragestellungen, die der Rezensent eingangs entwickelt hat, wurde mir nichts deutlich.
Für mich läßt sich der Abend nur in einer einzigen Frage zusammenfassen: Warum das Ganze?
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