Bloß nicht verdächtig werden

von Simone Kaempf

Berlin, 20. August 2021. Das nennt sich mal ein wirklich kompakter Programmzettel: Graphic Novel Zeichnungen sind mitabgedruckt, die die drei Spieler:innen zeigen. Wie sie Wände verschieben und umbauen, an Schultischen sitzen, oder wie sich ihre riesigen Schatten an der Wand bekämpfen. Diese Zeichnungen von Büke Schwarz bringen schon mal auf den Punkt, wie Regisseur Nurkan Erpulat die Roman-Vorlage von Deniz Ohde anpackt: spielerisch, mit Bilder-Überblendungen und mehr Pathos als Ohdes genaue Milieubeschreibung eigentlich vorgibt. Das aber ganz zum Vorteil.

Aufwachsen im westdeutschen Industrieproletariat

"Streulicht" heißt Ohdes Roman, der vom Aufwachsen im westdeutschen Industrieproletariat erzählt, überschnitten mit migrantischen Erfahrungen. Der Vater arbeitet im nahen Industriepark, ein Alkoholiker und Messie, vermutlich geprägt von Ausbombungs-Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs. Die Mutter wanderte von der türkischen Schwarzmeer-Küste aus in die deutsche provinzielle Enge, in der ihre Lebensenergie langsam verglimmt. Die Erzählerin will dazugehören, aber trifft von Kindheit an auf unsichtbare Grenzen und Schwellen, Folge einer quasi doppelten Diskriminierung.

Streulicht1 1200 Ute Langkafel uIn monotonen Industrielandschaften: Çiğdem Teke und Aysima Ergün © Ute Langkafel MAIFOTO

Dass sich das Maxim Gorki Theater des Stoffs annimmt, leuchtet ein. Thematisch passt der Roman in das Austarieren von Zugehörigkeit und Fremdheit, erzählt vom langsamen Fall durchs gesellschaftliche Raster und der mühsamen Erkämpfung einer eigenen Identität. Lang ist dieser Weg in "Streulicht", begleitet von vielen Beschreibungen und genauen Beobachtungen, von allgemeinen Erfahrungen, die dennoch individuell aus dem Erzähl-Inneren entwickelt sind. In einer kurzen Mini-Rede bedankt sich denn auch Gorki-Leiterin Shermin Langhoff bei der anwesenden Autorin für das Vertrauen ins Experiment, den Text auf die Bühne zu bringen.

Wo die Fabrikschlote rauchen

Für den Stoff beweist Erpulat ein gutes Händchen, fährt diesmal weniger dick auf. Der Beginn startet sogar ziemlich karg und unscheinbar: Auf der leeren Bühne agieren Aysima Ergün, Çiğdem Teke, Wojo van Brouwer erst einmal an der Grenze zum Ungelenken. In verteilten Sprecher-Rollen stellen sie Fragen nach der gescheiterten Schullaufbahn und dem Fall durchs Netz: Woran es lag, wie es kam, es muss doch Gründe geben. Ein thematischer Schwamm für die verschiedenen, komplex verbundenen Erzählstränge – die Schule, die Freunde aus besserem Elternhaus, das Familienzuhause.

Streulicht4 1200 Ute Langkafel uMit Zeichnungen von Büke Schwarz besticht das Bühnenbild von Magda Willi © Ute Langkafel MAIFOTO

Sparsam bebildert sie Erpulat mit den schwarzweiß-Zeichnungen von Büke Schwarz: Fabrikschlote, altes Mauerwerk, monotone Wiesen- und Flusslandschaft, die eine ganz eigene Stimmung schaffen. Ein thematischer roter Faden ist der Bildungswille der Erzählerin, der sie am Ende in die akademische Welt führen wird. Also ziehen sich die drei Performer:innen immer wieder Schultische heran, imitieren eine Jungs-Gang an der Abendschule, wo die schwierigen Fälle landen.

Die Zeit der brennenden Häuser

Die beschriebene Außenwelt ist bedrückend, Erpulat bebildert sie vorsichtig und eng am Text orientiert. Aus bunten Schultüten lässt er Bilder flattern von den brennenden Häusern in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992. "Es war die Zeit der brennenden Häuser. Wovon ich nichts mitbekam", relativiert Çiğdem Teke sofort, "weil meine Mutter die Nachrichten abschaltete, wenn ich dabei war". Das politische Geschehen wird nur gestreift.

Das Kraftzentrum dieses Familien- und Geschichtspanoramas sind Teke, Aysima Ergün und Wojo van Brouwer. Der leicht linkische Auftritt in ihren Turnschuhen und 80er-Seidenblouson-Jacken ist nur Täuschung. Während der Text vom Verfallen, Absterben und Verstummen erzählt, offenbart sich in ihrem Spiel erst die Stärke und Durchhaltekraft.

Streulicht5 1200 Ute Langkafel uAysima Ergün vor den Schatten der Vergangenheit © Ute Langkafel MAIFOTO

Ohne jede Künstlichkeit treten sie auf, mit großer Ernsthaftigkeit, manchmal sogar witzig, dann wieder eher still und matt, wenn es darum geht, sich in der Schule oder in der Straße bloß nicht verdächtig zu machen. Erzählen von allem mit Konzentration, Gelassenheit und ohne falsche Gefühligkeit. So gelingt die Inszenierung wie aus einem einem Guss, gleitet nahtlos zwischen den Strängen, schildert die Figuren in ihrem komplexen Verhältnis zur eigenen Herkunft.

Pathos erlaubt sich Aysima Ergün am Schlussmonolog dann zwar doch, aber auch das ist stimmig, gelten die letzten Worte der gestorbenen Mutter und den Verletzungen der Vergangenheit, die sich nicht tilgen lassen. Auch das lässt Erpulat stehen. Als die kleinere Produktion des Gorki-Saisonstarts – nächste Woche folgt "1000 Serpentinen Angst" – will "Streulicht" gar nicht großbühnenkraftmeiernd auftrumpfen und wird dadurch sehenswert.



Streulicht
nach dem Roman von Deniz Ohde
Regie: Nurkan Erpulat, Bühne und Kostüme: Magda Willi, Zeichnungen: Büke Schwarz, Musik: Michael Haves, Choreografie: Modjgan Hashemian, Dramaturgie: Johannes Kirsten, Yunus Ersoy.
Mit: Aysima Ergün, Çiğdem Teke, Wojo van Brouwer.
Premiere am 20. August 2021
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.gorki.de

 


Kritikenrundschau

"Gut gemachtes Erbauungs-Theater" hat Fabian Wallmeier für rbb |24 (21.8.2021) am Gorki Theater erlebt. Das "sprachgewaltig(e)" Werk von Deniz Ohde adaptierten Nurkan Erpulat und sein Ensemble "ohne größere inhaltliche Auslassungen"; "(h)ier und da ringt er dem Text auch unerwartet komische Momente ab".

"Das Buch wühlt einen auf, der Theaterabend raubt einem die Kraft", stöhnt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (21.8.2021) auf. Ein "kraftloser und zugleich angestrengter Anderthalbstünder" sei am Gorki aus Ohdes Roman geworden. "Der Identifikation wird entgegengewirkt, indem man die Heldin gar nicht auftreten lässt, sondern nur den auf Aysima Ergün, Cigdem Teke und Wojo van Brouwer verteilten Erzählerinnentext. Alles was auf der Bühne geschieht, folgt willkürlichen, ausgedachten Gestaltungsideen: angedeutete Choreografien von Modjgan Hashemian, projizierte Zeichnungen von Büke Schwarz, anklägerische Ausbrüche, unmotivierte Musicaleinlagen."

Kommentare  
Streulicht, Berlin: eigenes Kunstwerk
Auf den ersten Blick haben "Streulicht" und "1.000 Serpentinen Angst" viel gemeinsam. Beide basieren auf Romanen, die für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert waren und aus der Sicht junger Frauen mit Migrationnshintergrund von Ausgrenzung und Diskriminierung berichten - passend zum Markenkern des Gorki Theaters.

Während Anta Helena Reckes "1.000 Serpentinen Angst" in einer bleiernen Nacherzählung und zu viel Aufsagetheater versank, glückte Nurkan Erpulat ein melancholischer Abend. Er fand einen klugen Weg, die Stimmung des Texts in ein eigenes Kunstwerk aus Spiel, Tanz und Musik zu übersetzen.

Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2021/08/31/streulicht-gorki-theater-kritik/
Leserkritik: Streulicht, Berlin
Streulicht im Stream ein Konzept das aufgeht. Nurkan Erpulat inszeniert am Gorki in Berlin den Roman Streulicht von Deniz Ohde für die Bühne und als Stream. Streulicht eine diffuse Reflexion, die Kontraste mindert oder scharf begrenzte Lichtflecke erzeugt. So erzählt Erpulat die Geschichte der Ich-Erzählerin schlaglichtartig mit klaren und verschwommenen Erinnerungen an Kindheit, Familie, Schule sowie Scham und Angst zu versagen. Wie Streulicht wird erzählt mit angedeuteten Choreografien, projizierten Zeichnungen und eingestreuten Musikeinblendungen. Die 2 Akteurinnen und der Akteur erzählen Geschichten über die Unterschiede in unserer Gesellschaft. Sie berichten als Ich-Erzähler: in über die Sollbruchstellen eines Lebens, als emigriertes Arbeiterkind in Deutschland, fern von ihrer Heimat, der Kluft zwischen gesellschaftlicher Ungerechtigkeit und Bildungsversprechen, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch sich zu befreien. All dies wird von 3 Personen in kurzen Bildern spielerisch mit Melancholie, Pathos, Verzweiflung, Wut und Empathie auf die fast leere Bühne gebracht. Das kommt im Stream richtig zur Geltung. Großaufnahmen, um in die Gesichter einzudringen und die Emotionen des Erinnerten mitzuerleben. Spielerisch erzählt sich die Geschichte um Diskriminierung und Ausgrenzung, in eindringlichen Bildern. Ein gelungener Theaterabend im Stream. Bitte mehr von solchen Streaming-Angeboten für Kulturhungrige in der Provinz.
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