Tuntschi 2.0

von Andreas Klaeui

Bern, 10. September 2021. Das "Sennentuntschi" ist eine der grauslicheren Sagen aus dem Alpenraum. Einsame Bergsennen basteln sich in der sexuellen Not eine Frauenpuppe aus Holz und allem, was halt da ist, Stroh, Weinflaschen, Menschenhaar, und animieren sie. Sie setzen sie zu sich an den Tisch, füttern sie, treiben ihre derben Späße mit ihr, haben Sex mit ihr. Vor dem Alpabzug soll sie entsorgt werden, aber da kommt die Stunde der Vergeltung: Die Puppe erwacht wirklich zum Leben und rächt sich. Sie zieht einem Sennen die Haut ab und spannt sie vor der Alphütte auf.

"Tuntschi. Eine Häutung" nennt sich denn auch der Eröffnungsabend des neuen Teams im Theater Bern, das nun auch nicht mehr die etwas läppische Bezeichnung "Konzerttheater" trägt, sondern sich mit alliterativer Eleganz "Bühnen Bern" nennt. Es ist die erste eigene Inszenierung am Haus, nachdem der neue Schauspielchef Roger Vontobel tags zuvor schon seine aus Bochum mitgebrachte Rose Bernd gezeigt hat.

Spaß mit der Männerpuppe

Beauftragt mit der Männerphantasie hat er vier Autorinnen aus der benachbarten Alpenrepublik, wenn auch nicht aus den Bergen: die Wienerinnen Lydia Haider, Barbi Marković, Maria Muhar und Stefanie Sargnagel respektive Wiener Grippe / KW77. Sie sind nicht die ersten, aber interessanterweise unter den ersten Frauen, die sich des Stoffs annehmen. In den siebziger Jahren hat der Schweizer Hansjörg Schneider das "Sennentuntschi" in einer expliziten Dialektfassung dramatisiert, die zuverlässig zu Protesten und bei der Fernsehausstrahlung zu Konzessionsklagen geführt hat; es gibt eine Oper, Verfilmungen, und im Rhätischen Museum in Chur lässt sich sogar eine echte Sennentuntschi-Holzpuppe besichtigen, die vor 50 Jahren in einem abgelegenen Bündner Seitental zum Vorschein gekommen ist.

Tuntschi1 600 Yoshiko Kusano cSpaß, Selbstbefragung und die Schweizer Seele suchend: "Tuntschi" in Bern © Yoshiko Kusano

Man darf den Stoff also zumindest in der Schweiz wohl als einigermaßen bekannt voraussetzen. Haider, Markovi, Muhar und Sargnagel erzählen denn auch nicht die Sage selbst, sondern aus der Distanz eines Making-of ihrer Schreibbemühungen – ein Kunstgriff, der sich stets noch bewährt hat – und sie spiegeln den Stoff in ihren eigenen feministisch-satirischen Reflexionen.

Befreie das Tuntschi in dir - "ich bin die große Fotze, die sich mit euch entgrenzt", stellt eine mit L wie Lydia bezeichnete Figur denn auch klar, in einem lästerlich hochgestimmten Lobgebet auf den "Gott der Schweiz" (manche hätten da freilich eher an Mammon gedacht).

Heteronormativ folgerichtig

Wie auch immer – die vier Wienerinnen basteln sich ihr eigenes Tuntschi, heteronormativer Folgerichtigkeit gehorchend als Männerpuppe mit eingehend besprochenem Schwanz. Sie bereisen auf der Suche nach der "Schweizer Seele" die Alpen, nehmen einen B&B-Vermieter auf der Alp für einen echten sexsüchtigen Sennen, obwohl er nur ein Grafiker aus dem Tal ist, gehen in Chur ins Museum und schauen sich das originale Tuntschi an ("Ich hab mir das größer vorgestellt"), und vergleichen das Gummipuppen-Basteln mit dem Zeugungsakt von Mama und Papa.

In einem Albtraum vermehren sich sehr gruselig die Kommentarstimmen aus Incel-Foren, welche so genannte "foids" degradieren, also "female humanoids" im Jargon der Gekränkten. In einem grotesken abschließenden Gesang überlagern sich diese noch mit der biblischen Schöpfungsgeschichte. "Gott ist auch nichts anderes als ein abgefuckter Incel", hält S wie Stefanie fest. Zum Schluss geht alles in dem Feuer auf, mit dem gespielt wurde, inklusive der alkoholisierten Dramatikerinnen.

Tuntschi2 600 Yoshiko Kusano cHäutungen aus Tuntschi-Fatsuits und Louise-Bourgeois-Organen: die Spielerinnen in "Tuntschi" © Yoshiko Kusano

Das ist alles sehr amüsant. Noch amüsanter wäre es womöglich geworden, wenn die vier Autorinnen selbst auf der Bühne gestanden wären. Denn ihre höchst persönliche, distanzierende, selbstironische, als Punk den Theaterbetrieb überfordernde Autorinnenhaltung steht ja durchgehend hinter den Stimmen der Figuren.

Surrealer Traum

Regisseurin Sara Ostertag meistert das Dilemma, indem sie auf Stilisierung setzt. Auf sargähnlichen Laufsteg-Kisten verwandeln sich alle Sprechenden in Tuntschis – die Tuntschis ihrer selbst, Nachtmahrgestalten mit fratzenhaften Kapuzenmasken, Tuntschi-Fatsuits und lose am Körper hängenden Louise-Bourgeois-Organen aus Textilien (in der Ausstattung von Nanna Neudeck). Sara Ostertag betont die Groteske und die phantastischen Elemente, die der Text anbietet, den surrealen, kranken Traum, dabei durchgehend stimmungsvoll musikalisiert mit dem Dark Folk und den archaisierenden Gesängen der hinreißenden Musikerin Jelena Popržan.

Das ist toll gespielt von einem sehr einnehmenden neuen Ensemble, unterhaltsam in jeder Sekunde, nimmt dem Stoff aber auch manches von seiner Offensivität, einer Verletzlichkeit, die sich vielleicht erst auf einen ambivalenteren zweiten Blick preisgeben würde. Aber wahrscheinlich will das Tuntschi 2.0 ja einfach auch nur seinen Spaß.

Tuntschi. Eine Häutung
von Lydia Haider, Barbi Marković, Maria Muhar, Stefanie Sargnagel (Wiener Grippe / KW77)
Regie: Sara Ostertag, Komposition und Live-Musik: Jelena Popržan, Bühne und Kostüme: Nanna Neudeck, Dramaturgie: Michael Isenberg, Licht: Hanspeter Liechti.
Mit: David Berger, Jeanne Devos, Lucia Kotikova, Isabelle Menke, Jonas Dumke, Nola Friedrich, Marie Heide Goletz, Timo Jander.
Premiere am 10. September 2021
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.buehnenbern.ch

 

Kritikenrundschau

"Wie dämonische Gestalten kriechen sie auf den Quaderblöcken herum, zwischen denen wie bei einem Gletscher tiefe Spalten klaffen. So weit, so atmosphärisch", schreibt Lena Rittmeyer im Bund (13.9.2021). Die Inszenierung komme komme aber nicht richtig vom Fleck. "Denn ironischerweise tun sowohl das Stück wie auch die Inszenierung genau das, worüber die Autorinnen (...) spötteln: Sie häufen ohne ersichtliche Motivation naheliegende Referenzen zur Tuntschi-Sage an." Schwer erträglich sei, wie die Schauspielerinnen die auf Papier eher lakonischen bis trockenhumorigen Wortwechsel fast zwanghaft auf Pointe sprechen.! Die Aufregung koche derart hoch, dass die drei Frauen in ihren schicken, skelettartig bemalten Catsuits am Ende nur noch kreischend dem blutigen, kastrierten Tuntschi nachjagen.