Diese Worte

11. September 2021. Mit der Hilfe eines automatischen Klaviers und einem Soundtrack von Meat Loaf bis Britney Spears erzählt Regisseur Christopher Rüping in Bochum die unsterbliche Sehnsuchtsgeschichte von Dante Alighieri und seiner Beatrice.

Von Sascha Westphal

"Das neue Leben" am Schauspielhaus Bochum © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

11. September 2021. Lange Zeit bleibt das Saallicht an. Auch das Licht auf der Bühne hat nichts Theatralisches. Es ist nüchtern, demokratisch wie das Licht, in dem das Publikum sitzt. Es gibt keine Übergänge, keine vierte Wand. Spieler:innen und Zuschauer:innen sind einträchtig vereint. Während sich der Saal nach und nach füllt, führen William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz und Anne Rietmeijer ganz hinten an der Brandmauer sitzend genauso wie einzelne Theaterbesucher:innen private Gespräche. Was sie sagen ist nicht zu verstehen, aber die Situation ist entspannt. Sie scherzen, lachen miteinander und zeigen immer mal wieder in den Saal.

Dante in love

In den Minuten, bevor die Saaltüren geschlossen werden und die Inszenierung frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears beginnt, reißt Regisseur Christopher Rüping die teils imaginäre, teils sehr reale Grenze zwischen Bühnen- und Zuschauerraum also konsequent nieder. Und wenn das Spiel schließlich beginnt und Damian Rebgetz über die nahezu leere Bühne, auf deren Boden neun konzentrische weiße Kreise markiert sind, zum vorne auf der rechten Seite stehenden Klavier geht, bleibt es so. Er und die anderen tragen zwar Kostüme, die zaghaft Dantes Zeit andeuten, und sprechen Sätze aus dessen frühem Werk "Das neue Leben". Aber die Fragen und die Probleme, um die sie in den kommenden 80 Minuten kreisen werden, kennen auch alle im Saal. Deswegen ist es auch so einfach, sich mit Damian Rebgetz zusammen vorzustellen, wie der neunjährige Dante zufällig erstmals der ein wenig jüngeren Beatrice begegnet und fortan unsterblich in sie verliebt ist.

Das neue Leben1 1200 Jorg Bruggemann Ostkreuz 10 Vom automatischen Klavier angetrieben: Damian Rebgetz, Anna Drexler, Anne Rietmeijer, William Cooper © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz und Anne Rietmeijer spielen die Geschichte, die Dante in seinem autobiographischen, Reflexionen und Sonette vereinenden Werk "Das neue Leben" bruchstückhaft erzählt, nicht. Sie probieren sie immer wieder neu aus, ergänzen sie durch Popsongs wie Whitney Houstons "I Will Always Love You", Britney Spears "Baby One More Time", Meat Loafs "I Would Do Anything for Love (But I Won't Do That)" und Natasha Bedingfields "These Words". Alles soll dabei so alltäglich und selbstverständlich wie nur möglich wirken. Selbst wenn sie an das vorprogrammierte Klavier treten, das seinen eigenen Willen zu haben scheint und immer von selbst spielt, sprechen sie die Songtexte eher, als sie zu singen.

Die Quelle künstlerischer Inspiration

Das Theater will sich auch in diesen Momenten vergessen machen. Und wenn sich William Cooper, Anna Drexler, Damian Rebgetz und Anne Rietmeijer doch einmal in Positionen und damit auch in Rollen hineinsteigern, dann auf eine bewusst ausgestellte Weise, dass ihr Spiel eine kindliche Anmutung bekommt. Man sieht ihnen zu, genießt die Virtuosität, mit der sie jegliche Virtuosität verweigern, und weiß genau: Das alles ist ein augenzwinkerndes Spiel, weil der Mensch frei nach Schiller eben nur dann wirklich Mensch ist, wenn er spielt. Also bekommen alle vier ihre großen 'Szenen'. William Cooper darf versuchen, Damian Rebgetz‘ Dante dazu zu bewegen, endlich seine Liebe offen einzugestehen, bringt aber die Sätze, die dieses Geständnis erfordern würde, selbst nicht über die Lippen. Und natürlich prallt das alles an Rebgetz und den anderen, die mit ihm Dante sind, einfach ab.

Das neue Leben2 1200 Jorg Bruggemann Ostkreuz uDantes unerfüllte Liebe als Quelle der Dichtkunst: Damian Rebgetz, William Cooper © Jörg Brüggemann / Ostkreuz

Anna Drexler scheitert daran, die Bedeutung, die Beatrices Gruß für Dante hat, in Worte zu fassen, und gerät dabei mehr und mehr außer sich. Eine wahre Glanznummer aus gespielter Verzweiflung und echter Unsicherheit, oder auch echter Verzweiflung und gespielter Unsicherheit, die in ihrer Hibbeligkeit deutliche Erinnerungen an Maja Beckmanns Spiel weckt. Und Anne Rietmeijer darf, nachdem sie zunächst in einer wunderbaren offenen, die Liebe jenseits aller binären Vorstellungen feiernden Kussszene mit William Cooper und Damian Rebgetz die körperliche Seite der Sehnsucht und des Verlangens gekostet hat, aus dieser Ménage-à-trois aussteigen und die unerfüllte Liebe als Quelle künstlerischer Inspiration preisen. All das verströmt eine Lässigkeit und Freiheit, die Rüpings Inszenierung in diesen ersten 80 Minuten eine ganz eigene Leichtigkeit verleiht. Aber so spielerisch, so kindlich kann es nicht bleiben. Das Unvermeidliche muss geschehen.

Bilderspektakel mit der "Göttlichen Komödie"

Der Tod und das Wissen, um die verpassten Chancen, brechen zunächst als Traum und dann auch tatsächlich in die Inszenierung ein. Beatrice ist gestorben. Das Licht im Saal verlöscht langsam. Vom Bühnenhimmel kommt eine einzige, an einer Art Kran-Arm befestigte Lampe herunter, die in einem 18- oder auch zweimal 9-minütigem Zwischenspiel über der ansonsten dunklen Bühne kreist. "Das neue Leben" geht über in "Die göttliche Komödie", löst sich in ihr auf. Für die Dauer dieses Intermezzos, das vielleicht ins Paradies führt und mit dem Auftritt von Viviane De Muynck als tote, von Dante heraufbeschworene Beatrice endet, bemüht Rüping die ganze Maschinerie des Theaters. Nebelschwaden verhüllen den Raum. Seltsam gewandete Gestalten überqueren die Bühne.

Traum und Albtraum vermischen sich. Aber es bleibt eine große (Kunst-)Anstrengung. Auch das ist natürlich ein Verweis auf "Die göttliche Komödie", aber einer, der nicht so aufgehen will. Die Poesie Dantes ist eben doch eine andere als die der Bühnenmaschinerie. Das weiß Rüping selbst, und so lässt sich das düstere Zwischenspiel auch als ironischer Kommentar auf die Bilder-Wut des Regietheaters lesen. Auf jeden Fall kommt die Inszenierung mit Viviane De Muynck wieder auf dem Teppich des alltäglichen Lebens an. Wie sie über das Altern spricht, wie sie die Fragen Dantes an sich abprallen lässt, das hat genau die Tiefe und die Leichtigkeit des ersten Teils der Inszenierung.

 

Das neue Leben. Where do we go from here
frei nach Dante Alighieri, Meat Loaf und Britney Spears
Auf Grundlage einer Übersetzung von Thomas Vormbaum
Regie: Christopher Rüping; Bühne: Peter Baur; Kostüm: Lene Schwind; Musik: Jonas Holle; Klavierarrangements: Paul Hankinson; Lichtdesign: Bernd Felder; Dramaturgie: Vasco Boenisch.
Mit: William Cooper, Viviane De Muynck, Anna Drexler, Damian Rebgetz, Anne Rietmeijer.
Premiere am 10. September 2021
Dauer: 2 Stunden 5 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Innig, zärtlich, anrührend, treuherzig in kindlichem Ernst (beim Schlussgesang) ist dieses 'Neue Leben' – dabei nie ohne Raffinesse", schreibt Andreas Wilink in KulturWest (11.9.2021). "Dantes Sonette öffnen sich hier mit einem anderen Notenschlüssel zu einem musikalischen Paradies, in dem Hymnen von Meat Loaf und Britney Spears etc. ewiglich funkeln." Triumph der Imagination über die Erdenschwere – darum geht es aus Sicht des Kritikers. "Auch bei Regisseur Christopher Rüping und seiner zweistündigen Verstofflichung in kunstvoller Kunstlosigkeit, die irisiert zwischen Etüde und Attitüde, Andacht und Aufmüpfigkeit, Selbstverliebt-Sein und Selbstverlorenheit. In schönster Direktheit schickt Rietmeijer den Tod zum Teufel, während William Cooper den Kontakt mit ihm theatral auskostet. Drexler kobolzt, Rebgetz leuchtet in seiner betörend manieristischen Sonderheit."

"Nicht, dass man meint, es handele sich hier um einen lustigen Liederabend. Ganz und gar nicht", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (13.9.2021). Humorvoll sei die Aufführung schon, aber in einem tieferen, nachdenklichen Sinn. Zum ersten Mal gehe das Saallicht aus, wenn ein kleiner Lichtkubus sich in der Bühnenmitte langsam erhebt und immer schneller zu kreiseln beginnt, "das ist magisch". Es überwiegen die guten Nachrichten an diesem Abend, "'es bleibt noch Zeit für dich und mich.' Applaus."

"Weil das Ensemble einen wunderbar schiefen, fast zarten Zugang zu den berüchtigten Liedern findet, gewinnen Pomp und Popanz niemals die Oberhand", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (13.9.2021). Das Zwischenspiel sei imposant anzuschauen, aber dick aufgetragen. Weitaus versöhnlicher stimme das hoffnungsfrohe Ende, wenn Viviane De Muynck auftrete und in einer Traumsequenz überragend die gealterte Beatrice spiele.

"Völlig unverkrampft. Überzeugend" verbinde Christopher Rüping ein Frühwerk Dantes mit Pop-Lyrics, schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (21.10.2022) über ein Gastspiel in Zürich. Zwischen Schmerz, Hingabe und Aufbegehren wechselnd, thematisierten die Spieler:innen ihr Tun-als-ob "und stecken doch wunderbar mittendrin". Als sie im Finale gemeinsam Danger Dan sängen, "da, ja, da will man, kurz getröstet, einfach mitschwelgen".

 

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