Frau Dr. Groenewolds Zimmer

von Frank-Patrick Steckel

12. September 2021. Die Dramaturgie bildet, jedenfalls im Sprechtheater, das Herz und Geistzentrum des Hauses. Hier herrscht kein Produktionsdruck, kein Besetzungsdruck, kein Probendruck, kein Öffentlichkeitsdruck usw. Hier herrscht überhaupt kein Druck, hier muß nur gelesen werden (es herrscht folglich Lesedruck), und das Gelesene verstanden und ggf. anderen verständlich gemacht werden.

Für Menschen, die unter Druck besser arbeiten können bzw. ohne Druck an Motivationsschwäche leiden, ist das keine empfehlenswerte Tätigkeit. Theaterleiter, die dazu neigen, "ihre" Dramaturgie ganz allgemein unter Druck zu setzen, sind falsch beraten, versauern ihre Mitarbeiter oder treiben sie zur Verzweiflung und machen sie unfähig, dem Teil des Ensembles, bei dem sich die erwähnten Druckarten ungut häufen (und das sind praktisch alle anderen Mitglieder des Hauses) bei der Aufrechterhaltung ihres Denkvermögens behilflich zu sein, an dessen Planierung der gesamte Betrieb unaufhörlich arbeitet. 

Suche nach Substanz

Schon die üblich gewordene Indienstnahme der Dramaturgie für stramme und strammste "Öffentlichkeitsarbeit" vom Pressebüro bis zur Programmdruckerei ist geeignet, dieses Zentrum lahmzulegen, während umgekehrt gerade seine Aktivität vorgetäuscht wird. Unter anderem auf diese Weise tritt jener ernste Substanzverlust ein, der die gegenwärtige Theaterarbeit auszeichnet, und der durch keine noch so ausufernde und kontroverse Organisations-, Personal- oder Strukturdebatte zu beheben ist. Denn er entspringt einer Einwirkung gesamtgesellschaftlicher Schadstoffentwicklungen auf das Theater, die sich dem mäßigen Widerstand gegen sie auf vielfache Weise zu entziehen vermag, ich will hier gar nicht von den Finanzen oder den Zeitungen reden.

GabrieleGroenewoldum1975 JuliaGrimpeFaoro uGabriele Groenewold Anfang der 1970er Jahre  © Julia Grimpe-Faoro

Wenn der von diesem Verlust gehetzte Künstler auf der (innerhalb des Theaters gemeinhin aussichtslosen) Suche nach Substanz das Zimmer von Frau Dr. Groenewold betrat, fand er sich in einer anderen Welt als der Welt, aus der und durch die dieses substanzlose Wesen kriecht. "Die Griechen", sagt Martin Heidegger in einer seiner frühen und daher in Germany nicht mehr studierten Hölderlin-Vorlesungen, "hatten keine Zeit für Kultur". Frau Dr. Groenewold hatte diese Zeit auch nicht. Um Zeit für Kultur zu haben, muß man Kulturpolitiker sein, oder Kulturredakteur, oder eine Kultursendung leiten, oder als Theater-, Museums- oder Konzertbesucher das jeweilige "Kulturangebot" wahrnehmen.

Der Zeithaber und die Kultur stehen sich dabei mehr oder weniger fremd gegenüber – meistens leider mehr: und eilfertige, beflissene, ängstliche, wortreiche und anpassungsfähige Überbrückungsstrategien (stets im Hinblick auf die Verkäuflichkeit) sind die Folge. Kultur umfaßt unseren Umgang mit der uns sichtbaren, nicht immer zugänglichen, aber doch so oder anders wahrnehmbaren Dimension der Welt – und die Formen und Gestalten dieses Umgangs. Wir müssen einsehen, daß die in diesen Dingen momentan erreichte Stufenhöhe keinen Anspruch auf Größe stellen kann.

Allein die Belesenheit!

Entsprechend verwildert betrat der Theaterpraktiker (Regisseur, Bühnenbildner, Schauspieler) Frau Dr. Groenewolds Zimmer – und schon nach wenigen Augenblicken – manchmal bloßen Schweigens – setzte Rezivilisierung ein, man wurde sich erinnernd dessen bewußt, worum es eigentlich (oft schon lange vor Probenbeginn) gegangen war oder hatte gehen sollen. Solche Menschen sind am Theater selten, werden von "den Machern" selten gern gesehen.

"Du-hu", sagte ein zelebrer Großregisseur in dem ihm eigenen leicht nasalen Tonfall während einer Probe zu Frau Dr. Groenewold, "wenn du immer so daaasitzt, fällt mir nichts mehr ein!" Die Dramaturgin raffte wortlos und friedlich ihr Zeugs und ging. Man mochte sich, irgendwie doch. Diesem Ruf – Arbeitshemmnis zu sein, Besserwisser, Klugscheißer, bestens illustriert in Fellinis 81/2, in dem der Dramaturg in der Phantasie des Regisseurs schließlich am Kleiderständer baumelt – fällt die Dramaturgie vielfach zum Opfer. Allein die Belesenheit! Und das Gedächtnis für das Gelesene! Und der sich selbst erzeugende Buchwahn! Lauter theaterfremde Anwandlungen.

Nach der Beendigung ihrer Arbeit an der Schaubühne am Lehniner Platz im Jahre 2000 fand die von diesen Anwandlungen unablässig, aber immer anregend und schöpferisch, manchmal auch nervenzerrend Heimgesuchte 21 Jahre lang keine Arbeit mehr. Am 27. Juli 2021 ist sie, dementsprechend zerrüttet, gestorben.

 

Die Dramaturgin Gabriele Groenewold (1947-2021) war von 1986 bis 1995 Chefdramaturgin des Bochumer Schauspielhauses, dessen Intendant der Autor dieses Textes Frank-Patrick Steckel damals war. In den Jahren 1995 bis 2000 war Gabriele Groenwold Dramaturgin der Berliner Schaubühne am Lehniner Platz – als Andrea Breth hier Künstlerische Leiterin war.

 

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Kommentare  
Gabriele Groenewold: berührend
Sehr geehrter Herr Steckel, was für ein berührender Nachruf. Ich kannte die Kollegin nicht, aber die Gedanken, die Sie mit ihr und ihrem Berufsstand verbinden, sind warm und klug. Danke.
Gabriele Groenewold: feine Beobachtungen
Lieber Frank-Patrick, vielen dank für diese feinen Beobachtungen zum Berufsstand der Dramaturgen. Und traurig, von ihrem Tod zu lesen und der langen Zeit, in der sie ihre Arbeit nicht mehr ausüben durfte. Habe nun ihre Dissertation "Ich und kein Ende" aus dem Regal gezogen.
Gabriele Groenewold: Klimafrage
Ja, danke für diesen Text! Für mich besteht da auch ein untergründiger Zusammenhang mit der Klimafrage, die hier in der letzten Zeit auf dem Portal so diskutiert wird. Denn das tragische Schicksal von Gabriele Groenewold, das in diesem Text ja nur erahnbar wird, hat auch mit der Art und Weise zu tun, wie sich das Theater neoliberalen und Raubbau an Ressourcen treibenden Produktionsweisen unterworfen hat. Da kommen Menschen und Natur unter die Räder. Da ist kein Raum mehr für Reiche des Wissens und des Geistes und letzthin dann auch nicht mehr für die Kunst. Womit wir dann auch schon bei der Frage angelangt wären, wie es zum rasenden Relevanzverlust des Theater kommen konnte.
Gabriele Groenewold: Äußerungsformen des Menschlichen
Zu #3: Der "rasende Relevanzverlust" einer Vorstellung von einer Gesellschaft als einem sinnvoll organisierten, kulturell bedeutsamen Zusammenleben vieler Menschen zieht den Relevanzverlust nicht nur des Theaters, sondern aller Äußerungsformen des Menschlichen nach sich - bis auf diejenigen, die den Wenigen Vorteile und den Vielen Nachteile bringen und für deren "Relevanz" die Wenigen sorgen. Es entsteht auf diese Weise aber, sozusagen hinterrücks, eine negative Relevanz, eine Relevanz des Schädlichen, wie, beispielsweise, die Relevanz der Banken oder der Autoindustrie. Wir müssen uns fragen, ob und wie wir diese perverse Relevanzbildung aufhalten und womöglich umkehren können. Betrachten Sie aus ihrem Himmel die diesbezüglichen Aspekte der Bundestagswahl - ein trostloseres Bild läßt sich kaum vorstellen.





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Gabriele Groenewold: Aus dem Lot
Schön geschrieben, Herr Steckel, vielen Dank. Die Veränderung des Dramaturgenberufs in den letzten Jahrzehnten war tatsächlich grundlegend, und das ist keine gute Entwicklung. Allerdings: Lesen, denken und schweigen ist auch ein bisschen wenig. Wenn das Denken des Dramaturgen dabei hilft, theaterpraktische Probleme zu lösen, ist das schon begrüßenswert und wird von den anderen Berufsgruppen im Theater meist durchaus geschätzt. Aber sicher, das Verhältnis zwischen Nachdenken und Betriebsamkeit ist aus dem Lot geraten, da gebe ich Ihnen recht.
Gabriele Groenewold: Danke für die Worte
Lieber Frank-Patrick,
Danke für die Worte,die so eindringlich ihre Arbeit beschreiben,an die ich mich immer erinnern werde und die bis heute meine Arbeit als Schauspielerin beeinflusst.
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